Wem feministische Solidarität gilt und wer davon ausgeschlossen ist, mussten Jüdinnen und israelische Frauen nach dem 7. Oktober 2023 bitter erfahren: Für sie galt die Grundüberzeugung der #MeToo-Bewegung nicht. Stattdessen leugneten und rechtfertigten zahlreiche feministische Aktivistinnen, Gruppen und Organisationen die Gräueltaten der Hamas. Neu ist das jedoch nicht: Emanzipatorische Kämpfe werden seit Jahren zunehmend zu Schauplätzen antisemitischer Ausschlüsse und Verschwörungserzählungen.

Mit einem offenen Brief wandte sich am 22. November 2023 das feministische Bündnis Slutwalk Jerusalem an feministische Mitstreiterinnen weltweit. Sie forderte diese auf, sich zu einem Mindestkonsens zu bekennen: Dass sexuelle Gewalt keine Form von Widerstand sei, sondern als Kriegsverbrechen gegen internationales Recht verstoße. »We as feminists have always called to believe the victim’s testimony fully with the understanding that in some situations there is no forensic evidence of injury. Unfortunately, now there are conclusive and clear pieces of evidence from the terrorist events on October 7. […] Feminists all over the world must take a clear statement and declare – rape is not a legitimate act of military resistance. Rape and sexual violence are against any international law and are a war crime.«1

Auch die israelische Juristin Ruth Halperin-Kaddari betont, dass das internationale Recht sexuelle Gewalt, wenn sie absichtlich, strategisch und systematisch als Kriegswaffe eingesetzt werde, als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und sogar als genozidal bewerte.2 Und tatsächlich handelte es sich bei dem Massaker, das die Terrororganisation Hamas im Süden Israels verübte, nicht nur um den tödlichsten Angriff auf Jüd_innen seit der Shoa und eine erneute Kriegserklärung, sondern ebenso um einen massenhaften Femizid, der sich durch die gezielte Anwendung sexueller Gewalt auszeichnete. Wie systematisch Vergewaltigungen eingesetzt wurden, belegt beispielsweise das Verhörprotokoll eines gefangen genommenen Hamas-Terroristen: Sie hätten den expliziten Befehl erhalten, zu vergewaltigen.3

Während Hamas und Islamischer Jihad in den Morgenstunden des 7. Oktober 3.000 Raketen auf Israel schossen, drangen Terroristen in Dörfer, Kibbutzim und Städte ein, überfielen das Supernova-Festival und brannten ganze Orte nieder. Sie ermordeten 1.145 Menschen und verschleppten 253 Personen nach Gaza. Die nackten Körper misshandelter Frauen wurden in den Straßen Gazas wie Kriegstrophäen bejubelt. Die Berichte von Augenzeug_innen und Ersthelfer_innen sowie forensischen Befunde und Aufzeichnungen der Body Cams der Täter sprechen für sich: Die Gewalt gegenüber Frauen geschah systematisch. Diese Verschränkung von Antisemitismus und Misogynie beschreibt der Sozialpsychologie Rolf Pohl als dreifach gestaffelten Hass: »Sie ist Israelin, das ist Hass auf den Staat; sie ist Jüdin, das ist Antisemitismus. Und drittens ist das Opfer eine Frau.«4

Ruth Halperin-Kaddari, die selbst zwölf Jahre lang für das UN-Komitee zur Beseitigung der Diskriminierung von Frauen gearbeitet hat, berichtet, dass sie sich bereits drei Tage nach dem Massaker an verschiedene UNO-Organisationen sowie an mehrere internationale Frauenrechtsorganisationen gewandt und diese zu einer Stellungnahme aufgefordert habe. 

Und dennoch dauerte es über drei Monate, bis UN Women die genderspezifische Gewalt des 7. Oktober und die nach Gaza verschleppten Geiseln erstmals in einer Pressemitteilung erwähnte.5 Es handelte sich dabei um den letzten Satz einer Pressemitteilung, die eigentlich die besondere Vulnerabilität von Frauen und Kindern in Gaza betonte. Eine eigenständige Stellungnahme zur geschlechterspezifischen Dimension des Überfalls und der Verschleppungen bleibt bis heute aus. 

Etliche Äußerungen feministischer Gruppen und Aktivist_innen überstiegen diesen Missstand des Schweigens um einiges: Drei Tage nach dem Massaker veröffentlichte die feministische Organisation ZORA unter dem Titel »Für den kompromisslosen Widerstand des palästinensischen Volkes« einen Text, in welchem sie das Massaker damit rechtfertigten, dass der Kampf gegen das Patriarchat zwar »nicht auf der Tagesordnung« der Hamas stünde, doch dass dadurch »der Kampf und der Angriff auf die Besatzungsmacht nicht an Legitimität« verliere. Im weiteren Verlauf des Textes heißt es: »Wer sind wir, dieses Ziel nicht zu unterstützen? Dem palästinensischen Befreiungskampf aus einem Moralismus heraus den Rücken zuzukehren, bedeutet, sich auf die Seite der zionistischen Besatzung zu stellen. Auch den Diskurs um Gewalt an Zivilist_innen müssen wir als Falle des bürgerlichen Humanismus werten.«6 Neben derartigen Rechtfertigungen stellten andere feministische Gruppen wiederum in Frage, ob die Vergewaltigungen überhaupt stattgefunden hätten. Die Alliance of Internationalist Feminists (AIF) diffamierten etwa in ihrem Statement die Berichte über Vergewaltigungen von weiblichen israelischen Geiseln im Gaza-Streifen als »von der israelischen Besatzungspropaganda« verbreitete »Behauptungen«.7 Sie würden dazu dienen, »die von der israelischen Besatzungsmaschinerie begangenen Massaker zu verschleiern«, weswegen der »legitime Widerstand des palästinensischen Volkes« verzerrt dargestellt würde.

Die Gerüchte über Israel und die Juden verbreiten sich wie ein Lauffeuer. Sie bauen auf Desinformation und den leidenschaftlichen Wahn des Antisemitismus. Dass sie einen derartigen Zulauf auch in feministischen Bewegungen haben, hat zwei Gründe: Zum einen ist die Paranoia, im Juden das Übel der Welt zu erkennen, grundsätzlich elementarer Bestandteil antisemitischer Ideologie. Zum anderen hat Antisemitismus in feministischen Bewegungen und die Diskreditierung der Kritik an diesem eine lange Tradition. Diese Traditionslinien umfassen in Deutschland zum Beispiel antijudaistische Vorstellungen in der feministischen Theologie sowie die fehlende Auseinandersetzung mit weiblichen Täterinnen im Nationalsozialismus. International haben antizionistische Positionierungen immer wieder zum vermeintlich moralisch richtigen Ausschluss von israelischen Feministinnen geführt. Kritik an einem solchen Vorgehen wurde oftmals nicht als Kritik in der Sache, sondern als Angriff auf das feministische Gesamtprojekt verunglimpft. 

Gewissermaßen wurde der 7. Oktober zu einem Brennglas, unter dem die Empathielosigkeit, der Ausschluss von Jüdinnen und Israelinnen aus dem feministischen Kollektivgedanken und die Verklärung von islamistischen Terrororganisationen wie der Hamas als Widerstandskämpfer auf dem Rücken der misshandelten, verschleppten und ermordeten Frauen ausgetragen wurde.

Neuer Hauptwiderspruch

In den vergangenen Jahren war eine schrittweise Verschiebung in feministischen Bewegungen zu beobachten: So tauchte in den Forderungskatalogen feministischer Demonstrationen regelmäßig die Forderung nach einer Solidarisierung mit Palästina auf. Im Selbstverständnis des US-amerikanischen Frauenstreiks 2017 wurde die »Dekolonisierung« Palästinas in einer Aufzählung mit anderen Forderungen und Bewegungen sogar zum »schlagenden Herz« der »neuen feministischen Bewegung« erklärt: »Movements such as Black Lives Matter, the struggle against police brutality and mass incarceration […] and Justice for Palestine are for us the beating heart of this new feminist movement. We want to dismantle all walls, from prison walls to border walls, from Mexico to Palestine.«8

Diese »neue feministische Bewegung« soll sich in erster Linie dadurch auszeichnen, Kämpfe nicht mehr voneinander isoliert, sondern in ihrer Verwobenheit zu betrachten, wie es etwa Angela Davis 2016 vorschlug.9 Diesem Beitrag der Bürgerrechtlerin und Philosophin Rechnung tragend, bildete die AIF ihr Konterfei zentral auf dem Plakat ab, mit dem sie 2021 zur Teilnahme an ihrer Demonstration zum 8. März aufrief.10 Neben der bekennenden Antizionistin und BDS-Unterstützerin Davis ikonisierte das Plakat eine weitere Person: Bei dieser handelte es sich um keine andere als die palästinensische Terroristin Leila Khaled. Khaled war 1969 an der Entführung eines Passagierflugzeuges beteiligt, das sich auf dem Weg von Rom nach Tel Aviv befand. In Damaskus wurden die nicht-israelischen Passagier_innen freigelassen, die israelischen konnte der Staat Israel jedoch erst nach mehreren Monaten durch einen Gefangenenaustausch befreien. Eine deutlichere Ansage an jüdische Feminist_innen hätte die AIF nicht machen können.

Mittlerweile hat die Parole »Palestine is a feminist issue« längere Aufzählungen feministischer Interessen oftmals abgelöst: In der Erhebung der palästinensischen Sache zum Hauptwiderspruch und der damit einhergehenden Erklärung Israels zum Unterdrücker und Feind gerät alles weitere in den Hintergrund. Das ist auch nur konsequent, führt man sich vor Augen, dass eben diese Erlösungsfantasie der antisemitischen Ideologie inhärent ist. Antisemitismus fußt auf der Vorstellung, dass die Welt von allem Schlechten und von jedem Widerspruch erlöst sei, wenn die Juden vernichtet und der jüdische Staat vom Erdball getilgt sei. Ginge es denjenigen, die Palästina zu einem feministischen Anliegen erklären, tatsächlich um ein gutes Leben für Frauen und Queers, so würden sie sich zumindest nicht nur auf den Staat Israel stürzen, sondern ebenso die Befreiung vom Terror der Hamas fordern. Der Schulterschluss mit dem Islamismus und die Adelung der Terroristen vom 7. Oktober als Freiheits- oder Widerstandskämpfer sprechen dahingegen eine ehrlichere Sprache: Der Mord an Jüd_innen und all denen, die zu Kollaborateur_innen erklärt werden, ist nicht nur hinnehmbar, sondern ausdrücklich gewünscht. 

Hyperweiße Unterdrücker

Im Dezember vergangenen Jahres teilte das Frauenkampftagsbündnis Magdeburg unter dem Titel »Mit #metoo bis zum Genozid« einen Artikel auf Instagram. In dem Text heißt es über die sexuelle Gewalt des Pogroms am 7. Oktober unter anderem, dass die Berichte über vergewaltigte israelische Frauen lediglich dazu dienen sollten, »das rassistische Motiv des ›schwarzen‹ Mannes als Vergewaltiger der weißen (Siedler-)Frau [zu] befeuern. Es wurde in der Geschichte schon oft angewandt, um zu entmenschlichen: gegen jedes kolonialisierte und versklavte Volk, auch die Nazis nutzen es gegenüber den Juden. Es geht in Wirklichkeit darum, Palästinenser und Araber als von Natur aus grausame und böse Menschen dazustellen, die Strafe und den Tod verdienen. Das ist die Rechtfertigung Israels für seine Verbrechen. Die Entmenschlichung der Palästinenser dient zur Rechtfertigung von Völkermord.«11

Demnach seien den Autorinnen zufolge die Berichte über Vergewaltigungen am 7. Oktober nicht nur Lügen Israels, sondern verfolgten zudem ein rassistisches und genozidales Ziel: In dieser Vorstellung gelten die Hamas-Terroristen als unschuldige und kolonisierte, nicht-weiße Männer, denen eine Jüdin, hier als »weiße Siedlerfrau« imaginiert, aus Hinterlist ein Triebverbrechen unterstelle. Für das Magdeburger Frauenkampftagsbündnis erscheint jede Israelin als »weiße Siedlerfrau« – qua Wohnort, qua Jüdisch-Sein wird sie zur Kolonisatorin und Täterin. Mit der Realität in Israel und konkret des Massakers am 7. Oktober haben diese Projektionen nichts gemein. Die darauffolgende Aussage, nach der Israel nun mit Palästinenser_innen mache, was die Nazis mit den Jüd_innen gemacht hätten, dient nichts anderem als einer Täter-Opfer-Umkehr, die den Jüd_innen das ultimative Böse unterstellen soll: Nicht zuletzt bedient die Zuschreibung, dass sie es nun seien, die entmenschlichen und vernichten, das alte antisemitische Bild der jüdischen Rache.

Eine derartige Verdrehung, in der in erster Instanz einer Frau die Erfahrung sexueller Gewalt abgesprochen und ihr in zweiter Instanz gar eine Übermacht zugeschrieben wird, muss dem derzeitigen Paradigma der Intersektionalität und dessen Unvermögen zugeordnet werden, Antisemitismus zu erfassen – ein Unvermögen, das in letzter Instanz gar dazu führt, auch hinter die basalsten feministischen Einsichten zurückzufallen.12

Der Ansatz der Intersektionalität zielt eigentlich darauf ab, die Mehrdimensionalität von Unterdrückung abzubilden, indem Erfahrungen von Ungleichwertigkeit nicht voneinander getrennt, sondern in ihrer Verschränkung analysiert werden. Doch scheitert dies zumeist aus verschiedenen Gründen am Antisemitismus. Denn den Antisemit_innen gilt der Jude eben nicht als minderwertiges Wesen, das es zu unterdrücken und auszubeuten gelte, sondern als übermächtig und abstrakt, als heimlicher Strippenzieher der Weltpolitik. Während die Verschränkung anderer Kategorien – beispielsweise von sex und race – eine vielschichtige Unterdrückung und Ausbeutung hervorbringen, ist die Projektions- und Imaginationswelt des Antisemitismus grundverschieden und entzieht sich der dichotomen Zuordnung.

Daneben hat Karin Stögner in den vergangenen Jahren anhand verschiedener Beispiele auf einer ganz praktischen Ebene aufgezeigt, dass intersektionaler Aktivismus jüdische Partikularität zunehmend aus dem Blickfeld verliere.13 Diese Nichtnennung eben jener jüdischen Partikularität trage Stögner zufolge dazu bei, dass Jüdischsein »insgeheim mit dem Universellen identifiziert [werde], das als rassistisch und imperialistisch gilt. Das Jüdische wird als weiße hegemoniale Partikularität – als ›white privilege‹ – wahrgenommen.«14 Sie gelten damit als Profiteur_innen und sogar als die unheimliche Macht hinter Rassismus, Sexismus und Kapitalismus. 

Dass Jüd_innen als weiß gelten, ist einerseits historisch falsch angesichts der Tatsache, dass Jüd_innen über Jahrhunderte eben nicht als weiß galten, und wird andererseits der gesellschaftlichen Realität von mizrahischen, äthiopischen oder sephardischen Jüd_innen noch nicht einmal ansatzweise gerecht. Doch um Fakten geht es bei dieser Zuordnung nicht, es ist reine Ideologie: Jüd_innen werden unfassbare Macht und Einfluss im Hintergrund zugeschrieben, sie gelten als unterdrückend gegenüber dem Partikularen. Die Verschränkung von Whiteness und der antisemitisch imaginierten Übermacht erzeugt das Bild der Jüd_innen als »hyperweiß«.15 Auf Israel bezogen bedeutet diese Zuschreibung, den Staat als künstlich, geschichts- und wurzellos zu imaginieren, als weißen Unterdrückerstaat in einer von Natur aus nicht-weißen Region, der dem Imperialismus und Kapitalismus als Brückenkopf im Nahen Osten diene. 

In der »weißen Siedlerfrau«, der eine destruktive Macht über den »schwarzen Mann« zugeschrieben wird, amalgamiert dieses ideologische Moment: Sie gilt als »hyperweiß« und als Teil des kolonialistischen Unterdrückungskomplexes. Durch die Bezeichnung nicht nur als Jüdin, sondern auch als »Siedlerfrau« wird die Empathielosigkeit gegenüber der sexuellen Gewalt verdoppelt: So ist sie nicht nur abstrakt mächtig, sondern ebenso durch das angebliche Besiedeln des vermeintlich von Natur aus palästinensischen Landes konkrete Unterdrückerin. Gewalt ihr gegenüber wird damit zu gerechtfertigtem Widerstand. Dass es hier nicht um eine Angehörige der Siedlerbewegung in Israel geht, sondern dass jede Jüdin in Israel in dieser antisemitischen Sicht als Siedlerin gilt, sei nur am Rande erwähnt. 

Überidentifikation

Folgte man diesen theoretischen Einlassungen und ihrem Transfer in die Praxis, wäre die Welt dichotom und ohne jede Komplexität in Macht und Ohnmacht, schwarz und weiß, in Unterdrücker und Unterdrückte eingeteilt. Ganz in diesem Sinne antwortete Linda Sarsour, die wahrscheinlich prominenteste Organisatorin des Women’s March on Washington 2017, in einem Interview auf die Frage, ob es im Feminismus Platz für Menschen gebe, die Israel unterstützen: »There can’t be in feminism. You either stand up for the rights of all women, including Palestinians, or none.«16 Sarsour zufolge gäbe es demnach die moralisch richtige Seite, auf der alle Frauen stünden, samt palästinensischer, und demgegenüber die Seite Israels, die in Opposition zu Feminismus stünde. Noch deutlicher wird auch hier wieder die AIF in Berlin. In ihrem Aufruf zum 25. November, dem Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen, lassen sie 2023 verlautbaren, dass »der weiße Feminismus […] ein Komplize im System der Unterdrückung [sei]. Mit ihrem demokratischen Rettertum rechtfertigen die Unterdrücker Kriege und Kriegsindustrie, Besatzung, Internierungslager, mörderische Grenzen und Mauern. Wir schließen uns dem Aufruf unserer queeren und feministischen Geschwister in Palästina an, dem palästinensischen Widerstand gegen Vertreibung, Landraub und ethnische Säuberung sowie ihrem Kampf für die Befreiung ihres Landes und ihrer Zukunft vom zionistischen Siedlerkolonialismus zur Seite zu stehen. Der palästinensische Widerstand verteidigt Leben, Erinnerung und Zukunft. Free Palestine ist ein Versprechen. Ein Versprechen für uns alle.«17 Auch für sie gilt: Ihnen, den Guten, steht auf der anderen Seite der Zionismus in Komplizenschaft mit dem »weißen Feminismus« gegenüber. Im Zionismus, dem Versprechen jüdischer Selbstbestimmung und Wehrhaftigkeit, erkennen sie das Übel der Welt. Denn der »zionistische Siedlerkolonialismus« würde nicht nur palästinensisches Land stehlen und besetzen, er umklammere die Palästinenser_innen förmlich und vernichte ihre Identität, Geschichte und Zukunft. Dass der Sieg über den Zionismus ein Versprechen für »uns alle« sei, imaginiert ihn erneut als das global und abstrakt organisierte Böse: Das Schicksal der Welt entscheide sich an seinem Niedergang.

Doch nicht nur das. Die Parole »Free Palestine ist ein Versprechen für uns alle« zeugt zudem von einer Überidentifikation jener feministischen Aktivistinnen mit Palästina. In der palästinensischen Sache scheint sich die eigene Position in der patriarchal organisierten Gesellschaft zu spiegeln: Die Identifikation gilt der Ohnmacht, dem Ausgeliefertsein, der Unterdrückung. Die pathische Projektion, die dem israelischen Staat zeitgleich sämtliche als männlich konnotierten Attribute zuschreibt, erlaubt keine Zwischentöne, vielmehr ermöglicht sie krude Allianzen: So gelten plötzlich Terrororganisationen wie Hamas, Hisbollah oder die jemenitischen Ansarallah als Verbündete im antisemitischen Vernichtungskampf, deren frauen- und homosexuellenfeindliche Agenda zu einem kleinen und unbedeutenden Nebenwiderspruch verkommt.

Ausschlüsse von Jüdinnen

Die beschriebenen Annahmen und Entwicklungen haben konkrete Auswirkungen darauf, ob und in welcher Form Jüdinnen Teil feministischer Bewegungen sein können. Dass dies oftmals an Bedingungen geknüpft ist, haben im Juni 2017 drei jüdische Frauen erfahren müssen. Sie waren vom Chicago Dyke March ausgeschlossen worden, weil sie eine Regenbogenfahne mit einem Davidstern bei sich getragen hatten. In einem Facebook-Post schreibt Ellie Otra, eine der drei Frauen, dass die Organisatorinnen während der Demonstration zu ihnen gekommen seien und sie vor die Wahl gestellt hätten, ihre Flagge einzupacken oder zu gehen. Als Begründung hätten sie angegeben, dass der Davidstern ein zionistisches Symbol sei und andere Teilnehmende sich deshalb unsicher und getriggert gefühlt hätten. Ellie Otra resümiert: »I was thrown out of Dyke March for being Jewish. And yes, there were other Jews there, visible ones even, who weren’t accosted, who had fun, even! And yes, Israel exists in a complicated way. But in this case, it doesn’t matter what Israel does or doesn’t do. This was about being Jewish in public, and I was thrown out for being Jewish, for being the ›wrong‹ kind of Jew, the kind of Jew who shows up with a big Jewish star on a flag. No matter how much I tried to avoid conflict, to explain. Oh, maybe there was a way I could have stayed, but rolling up my beautiful proud flag for them would have been an even bigger loss.«18 Solange die drei Frauen sich also weigerten, ihr Jüdischsein zu verstecken, zu verleugnen oder auf eine von den Organisatorinnen abgesegnete Art und Weise auszudrücken, zählten sie offensichtlich nicht als Teil des queeren Kollektivs. In der Stellungnahme der Organisatorinnen des Chicago Dyke March hieß es später, dass Zionismus eine Ideologie der White Supremacy19 sei. Zwei Dinge fallen hier auf: Zum einen wurde der Davidstern, mit dem die Frauen ihr Jüdischsein zeigten, nicht durch sie selbst, sondern durch die Organisatorinnen und andere Teilnehmende in Verbindung mit Israel gebracht. Zum anderen wurde eine antizionistische Positionierung zur Bedingung gemacht, an der Demonstration teilzunehmen. Damit nicht genug: Eine der Veranstalterinnen, Alexis Martinez, verdächtigte eine der drei Frauen, Laurel Grauer, und die amerikanisch-israelische LGBT-Organisation A Wider Bridge, dass diese die Eskalation geplant hätten, um das Dyke March Collective in Verruf zu bringen.20 Dass diese drei Jüdinnen Sichtbarkeit einforderten, wurde so zu einem gewaltförmigen und destruktiven Eingreifen von außen in das Kollektiv erklärt.

Im selben Jahr zeichnete sich auch der erste Women’s March durch mehrschichtige Ausschlüsse von Jüdinnen aus – auch über die bereits zitierten Äußerungen Linda Sarsours hinaus: Zwei der Hauptorganisatorinnen, Tamika Mallory und Carmen Perez, verbreiteten die antisemitische Verschwörungserzählung, dass Juden eine zentrale Rolle in der Ausbeutung von People of Colour spielten und bis heute Geld damit machten, dass überproportional viele Schwarze und Lateinamerikaner_innen in den US-amerikanischen Gefängnissen säßen. Von der jüdischen Feministin Vanessa Wruble forderten sie hierzu eine Positionierung ein. Bei diesen antisemitischen Verschwörungsideologien wird der Umweg über Israel gar nicht mehr benötigt: Der Jude wird dabei als diabolischer Strippenzieher im Hintergrund imaginiert, der das Unheil nicht nur hervorbringt, sondern von ihm profitiert. Gleichzeitig unterhielt Tamika Mallory Kontakt zu Louis Farrakhan, dem Führer der Nation of Islam und nahm im März 2018 an einer Veranstaltung jener Organisation teil.21 Seit Jahrzehnten verbreitet Farrakhan antisemitische Verschwörungserzählungen und sieht etwa die Banken von »jüdischen Blutsaugern« kontrolliert. Eine Distanzierung von ihm blieb dennoch aus, zu wichtig seien seine Verdienste für People of Colour in den USA gewesen. 

Die Entsolidarisierungen nach dem 7. Oktober stellen global jedoch eine neue unverzeihbare Dimension der Ausschlüsse und Bedrohungen von Jüdinnen und Israelinnen dar. Während eine islamistische Terrororganisation mit Bodycams sicherstellte, dass die Misshandlung, Vergewaltigung, Verschleppung und Ermordung von Menschen jeden Alters überall auf der Welt zu sehen waren, fiel es feministischen Organisationen, Theoretikerinnen und Aktivistinnen schwer, überhaupt Worte der Empathie im Angesicht systematischer sexueller Gewalt zu formulieren – als gäbe es in diesem Moment auch nur den Hauch eines Zweifels, ob das Geschehene legitim gewesen sei. Für israelische und jüdische Frauen gelten andere Maßstäbe, was der Hashtag #MeTooUnlessUrAJew in allem gebotenen Zynismus zusammenfasst. Das Ausmaß des Schadens, den dieser Bruch feministischer Solidaritätsversprechen hinterlassen hat, ist im Angesicht der noch immer in Gaza festgehaltenen Geiseln und der massiv gestiegenen antisemitischen Bedrohungen weltweit bisher nur zu erahnen.