Selten springt die Irrationalität von Antisemitismus so sehr ins Auge wie in der gegenwärtigen Idealisierung und Verklärung islamistischer Terrorgruppen wie der Hamas oder des Palestine Islamic Jihad durch Gruppen mit progressivem Selbstverständnis. Die LGBTIQ- und frauenfeindliche Ideologie, der Antisemitismus und der brutal autoritäre Gesellschaftsentwurf der Islamisten stehen im krassen Widerspruch zu jedweder Form der Emanzipation. Dennoch werden sie zu Freiheitskämpfern stilisiert und ihre Gewalt gegen die Zivilbevölkerung – auch gegen die eigene – als legitimer Widerstand verharmlost. Queers for Palestine setzen sich für eine Gesellschaft ein, in der ihre Rechte mit Füßen getreten werden, Kommunist_innen für eine kleptokratische Oligarchie, Antiimperialist_innen für die Ausweitung der Einflusssphäre des iranischen Terrorregimes. Menschenrechtsrhetorik paart sich mit Indifferenz oder gar der Unterstützung antisemitischer Vernichtungsaspirationen. Das Massaker palästinensischer Terrorgruppen vom 7. Oktober 2023 – Ausdruck genozidaler Ideologie – hat daran nichts geändert. Linke Grundüberzeugungen werden über Bord geworfen für das gemeinsame Ziel, Israel von der Landkarte zu tilgen. Diese Widersprüchlichkeit irritiert: Wie kann die offensichtliche Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit unbemerkt bleiben?

Antisemitismus ist eine irrationale Ideologie, die sich nicht um logische Konsistenz oder Widerspruchsfreiheit schert. Das zeigt sich etwa darin, dass es kaum ein antisemitisches Bild gibt, zu dem nicht auch das exakte Gegenstück existiert: In der antisemitischen Denkform sind Jüdinnen_Juden zugleich mächtig und schwach, triebhaft und verklemmt, patriarchal und verweiblicht, antinational und nationalistisch, kapitalistisch und bolschewistisch. Im Antisemitismus kommt zusammen, was eigentlich nicht zusammenpasst. Die Ideologie lässt sich deshalb nicht mit Aufklärung aus der Welt schaffen, sie verschwindet nicht durch Wissensvermittlung oder argumentative Geschicklichkeit. Um Antisemitismus zu verstehen, braucht es einen Zugang, der genau die Widersprüchlichkeit zum Gegenstand macht. Nach Adorno ist es die Freudsche Psychoanalyse, die als einzige Psychologie den »subjektiven Bedingungen der objektiven Irrationalität« nachforscht.1 Als Methode hilft sie zu begreifen, warum sich die Einzelnen an unfreie Verhältnisse und an ideologische Feindbilder klammern, warum sie wider die eigenen Interessen handeln.

In Bezug auf Antisemitismus heißt das, danach zu fragen, was die Einzelnen empfänglich für antisemitische Propaganda macht, was sie dazu disponiert, dieser mörderischen Ideologie anzuhängen. Die Menschen werden nicht Antisemit_innen, weil ihnen antisemitische Argumente so einsichtig sind, sondern weil die Ideologie eine Funktion in ihrem Gefühlshaushalt einnimmt. Diese Funktion ist subjektiv, allerdings nicht zufällig, sondern gesellschaftlich vermittelt. Antisemitismus ist ein Affektangebot an die Einzelnen, mit ihren individuellen Beschädigungen zurechtzukommen, indem deren Ursachen einem angeblichen finsteren Treiben von Jüdinnen_Juden angelastet werden. Es gilt also in der Perspektive psychoanalytischer Sozialpsychologie, Antisemitismus sowohl auf die gesellschaftlichen als auch subjektiven Funktionen hin zu befragen, ohne das Verhältnis einseitig aufzulösen. Weder ist Antisemitismus eine Individualneurose, noch allein ein diskursives Instrument der Manipulation. Die Ideologie trifft auf ein Subjekt, das über die Jahrhunderte hinweg immer wieder bereit ist, sie aufzunehmen und zu verbreiten. Auch wenn die Gründe dafür sich unterscheiden, das Feindbild bleibt das gleiche. Der gegenwärtige Antisemitismus seit dem 7. Oktober 2023 erfüllt vor allem zwei Funktionen: die Stärkung des Ichs und die konformistische Rebellion.

Stärkung der Ich-Funktion

Antisemitismus verlagert innere Konflikte nach außen. Uneingestandene Ängste, Bedürfnisse, Wünsche werden projiziert auf »den Juden«. Unter Projektion versteht man in der Psychoanalyse die Übertragung eines innerpsychischen Konfliktes auf andere. So werden etwa eigene Gefühle und Wünsche, die jedoch in einem Widerspruch zu den eigenen beziehungsweise den internalisierten gesellschaftlichen Normen stehen, auf andere projiziert, denen dieses Verhalten unterstellt und vorgeworfen wird. So kann im Antisemitismus etwa der Wunsch nach einem sorgenfreien Leben ohne Arbeit, wenn er sich mit dem eigenen Selbstbild arbeitsamer Strebsamkeit nicht verträgt, auf die Jüdinnen_Juden projiziert und dort verfolgt werden. Ihnen wird dann nachgesagt, von der Arbeitskraft anderer ein gutes Leben führen zu können, während man sich selbst diese Fantasie versagt und damit die internalisierten gesellschaftlichen Erwartungen erfüllt. Das hat eine entlastende Funktion für das Ich. Nicht mehr man selbst scheitert an den eigenen Ansprüchen, die anderen sind ungenügend. In ihnen werden die eigenen Konflikte lokalisiert, sodass man sich nicht mehr damit auseinanderzusetzen braucht. Die Arbeit am Selbst, die Reflexion wird einem erspart.

Allerdings bleiben die einmal projizierten Selbstanteile nicht fern. Das Verdrängte kehrt wieder in Gestalt des »Juden«, der es vermeintlich auf einen abgesehen hat. In der antisemitischen Vorstellungswelt taucht der »Jude« wie ein lebender Vorwurf der eigenen Unzulänglichkeit auf; der eigenen Gier, des Egoismus, der moralischen Verkommenheit. Antisemit_innen fühlen sich von diesem Bild verfolgt, während sie es in Wahrheit sind, die verfolgen. »Anstatt der Stimme des Gewissens hört es Stimmen«, schreiben Horkheimer und Adorno über das antisemitische Subjekt.2 Die Parallele zum klinischen Wahn drängt sich auf. Auch in der Psychose wird ein innerer Konflikt erlebt, als würde er von außen kommen und einen verfolgen. Die Rede von finsteren Mächten, die im Verborgenen die Welt beherrschen, erinnert unweigerlich an Verfolgungsängste, wie sie in klinischen Kontexten auftreten. Auch ist die landläufige Kritik von Antisemitismus schnell bei der Hand, den Antisemit_innen für »verrückt« zu erklären. Müsste es also in den psychotherapeutischen Diagnosemanualen schlicht eine Kategorie für Antisemitismus geben und das Problem wäre fortan eines der ohnehin überlasteten Kliniken? Reicht es aus, wenn alle Antisemit_innen in Therapie gehen?

Ganz so einfach ist es natürlich nicht. Zum ersten ist die Einordnung von Antisemitismus als klinisch relevantem, sprich pathologischem Wahn unangemessen gegenüber Menschen, die unter psychischen Erkrankungen leiden. Diese können nämlich nichts dafür, während Antisemit_innen durchaus Verantwortung für die von ihnen verbreiteten Ressentiments tragen. Psychische Krankheiten schaden primär den Betroffenen, während Antisemit_innen es darauf anlegen, anderen zu schaden. Antisemitismus ist als politische Ideologie auch immer eine Absichtserklärung. Der Leidensdruck von Menschen, die beispielsweise mit Phasen von Realitätsverlust zurechtkommen müssen, ist damit nicht zu vergleichen. Ihre Psychopathologie ist individuell, die jeweiligen wahnhaften Vorstellungen werden von niemandem sonst geteilt, was die Betroffenen gesellschaftlich isolieren kann. Beim antisemitischen »Wahn« ist das anders: Er lässt die Einzelnen nicht vereinsamen, sondern schweißt sie zusammen. Auch unternehmen Antisemit_innen in der Regel keinerlei Anstrengungen, ihre wahnhaften Vorstellungen loszuwerden. Sie gefallen sich darin, in diesen Fantasien zu schwelgen und suchen die Bestätigung, nicht das Korrektiv. In ihrer Wahrnehmung spiegelt die Außenwelt das innere Ressentiment. Was ihm zuwiderläuft, wird schlicht nicht zur Kenntnis genommen. Horkheimer und Adorno sehen darin eine Verarmung des Subjekts: »Das Pathische am Antisemitismus ist nicht das projektive Verhalten als solches, sondern der Ausfall der Reflexion darin. Indem das Subjekt nicht mehr vermag, dem Objekt zurückzugeben, was es von ihm empfangen hat, wird es selbst nicht reicher, sondern ärmer.«3

Um sich selbst zu kennen, um sich zu individuieren, ist die Interaktion mit dem Anderen notwendig. Das Ich bildet sich erst in der Differenz zum Anderen. Wenn der Andere nicht mehr als Anderer wahrgenommen werden kann, sondern lediglich als Fläche eigener Projektionen, nimmt man nicht nur die Außenwelt verzerrt wahr, man verliert auch den Selbstbezug. Der Andere reflektiert nicht mehr auf einen zurück, sondern wird nur noch mit den immergleichen Ideologemen traktiert. Wer mit Antisemit_innen spricht, wird häufig Probleme haben, sie voneinander zu unterscheiden. Sie sagen das gleiche, fühlen und denken scheinbar das gleiche. Die Affekte verflachen, was sich auf einigen der vorgeblich propalästinensischen Demonstrationen seit dem 7. Oktober gut beobachten lässt. Es darf hier keinerlei Ambivalenz zugelassen werden. Israel steht für das reine Böse, ein idealisiertes Palästina für das Gute. Die realen Verhältnisse und die inneren Konflikte sowohl der israelischen als auch der palästinensischen Gesellschaft werden zugunsten einer manichäischen Weltordnung ausgeblendet. Wer diese Ordnung irritiert, wird mit unbändigem Hass gestraft, als »Kindermörder« beschimpft, dem das Leid der palästinensischen Gesellschaft gleichgültig sei.

Das Ich kann dabei einen psychischen Gewinn einstreichen: nämlich den der Schiefheilung. Freud schreibt in einem Appendix der Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921):

»Auch wer das Schwinden der religiösen Illusionen in der heutigen Kulturwelt nicht bedauert, wird zugestehen, dass sie den durch sie Gebundenen den stärksten Schutz gegen die Gefahr der Neurose boten, solange sie selbst noch in Kraft waren. Es ist auch nicht schwer, in all den Bindungen an mystisch-religiöse oder philosophisch-mystische Sekten und Gemeinschaften den Ausdruck von Schiefheilungen mannigfaltiger Neurosen zu erkennen. […] Sich selbst überlassen, ist der Neurotiker genötigt, sich die großen Massenbildungen, von denen er ausgeschlossen ist, durch seine Symptombildungen zu ersetzen. Er schafft sich seine eigene Phantasiewelt, seine Religion, sein Wahnsystem und wiederholt so die Institutionen der Menschheit in einer Verzerrung […].«4

Der Begriff der Schiefheilung wird von Freud nirgends weiter ausgeführt, ist aber für das Verständnis von Antisemitismus äußerst gewinnbringend. Denn nicht selten nimmt Antisemitismus quasireligiöse Züge an – antisemitische Gruppen agieren wie die »mystisch-religiösen Sekten«, von denen Freud spricht. Zum einen glaubt man dort an eine beinahe allmächtige Kraft im Verborgenen, die es vermag, die Geschicke der Welt bis in die kleinsten Verästelungen des Alltags zu lenken. Zum anderen gehen mit dem Antisemitismus Erlösungsfantasien einher: Gäbe es die Jüdinnen_Juden nicht, würden die Menschen in Frieden leben, gäbe es keine Konflikte auf der Welt und keinen äußeren und inneren Aufruhr mehr. Detlev Claussen spricht etwa von Antisemitismus als Alltagsreligion. Die Ideologie ist ein säkulares Glaubensgerüst, das ihren Anhänger_innen Halt gibt. In der antisemitischen Gruppe ist dieser Glaube institutionalisiert. In ihr ist die Schiefheilung organisiert, das heißt, die Gemeinschaft übernimmt gewissermaßen die Neurosenbildung für ihre Mitglieder. Sie gibt Sicherheit und Orientierung, während ihre einzelnen Mitglieder einigermaßen gesellschaftsfähig bleiben können. Ohne diese gemeinsamen Illusionen der Masse wäre das Individuum auf sich selbst zurückgeworfen, es müsste einen anderen Weg finden, mit den inneren Konflikten umzugehen, beispielsweise durch die Ausbildung von Individualneurosen. Antisemitismus wird beispielsweise oft bemüht, um mit Kränkungen fertig zu werden. Die eigene Überflüssigkeit im kapitalistischen Produktionsprozess wird als weniger schmerzhaft erlebt, wenn die Gruppe einem einredet, es käme auf die Produktivkraft der eigenen »schaffenden Arbeit« an, die jedoch ständig vom »raffenden Finanzkapital« entwertet würde. Ohne dieses antisemitische Affektangebot drohen dem Ich demütigende Gefühle der Insuffizienz und Ohnmacht. Antisemitismus stellt vermeintliche Handlungsfähigkeit her. Die Ideologie lässt sich leicht in politische Programmatik übersetzen, man weiß, was zu tun ist: Was im Inneren wütet, soll draußen erschlagen werden.

Konformistische Rebellion

Ernst Simmel schrieb 1946: »Der einzelne Antisemit ist kein Psychotiker – er ist normal. Erst wenn er sich einer Gruppe anschließt, wenn er zum Bestandteil einer Masse wird, verliert er gewisse Eigenschaften, die die Normalität ausmachen, und trägt so dazu bei, einen Massenwahn zu erzeugen, an den sämtliche Mitglieder der Gruppe glauben.«5 Dieser Blick auf die Masse steht ganz in der Freudschen Tradition im Gegensatz zu immer noch gängigen Überzeugungen, dass Massen vor allem dazu da sind, das einzelne Subjekt zu unterwerfen. Es wird oft wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Einzelnen in der Masse unfreier sind, weil sie sich der Autorität anbiedern müssen. Sicher ist das auch nicht ganz falsch, allerdings nur unter der Prämisse, dass die Einzelnen sich auch in Gegnerschaft zur Autorität und nicht im Einklang mit ihr befinden, wie es historisch wohl wesentlich öfter der Fall ist. Darum geht es Freud in Massenpsychologie und Ich-Analyse. Er fragt danach, was die Masse eigentlich zusammenhält, warum sie nicht an der Unterschiedlichkeit ihrer Mitglieder auseinanderbricht. 

Freud spricht in diesem Text nicht dezidiert über Antisemitismus, aber in seiner Diskussion sogenannter »führerloser Massen« nimmt er sich die zwei großen antisemitischen Massenorganisationen Österreichs seiner Zeit zum Beispiel: das Heer und die Kirche. Nach Freud ist die Masse ein »provisorisches Wesen, das aus heterogenen Elementen besteht, die für einen Augenblick sich miteinander verbunden haben«.6 Was die Einzelnen sich nun miteinander identifizieren lässt, ist ein geteiltes Ich-Ideal. Im Gegensatz zum Über-Ich ist das Ich-Ideal in der freudschen Begriffswelt keine innere verbietende Instanz, sondern eine verlockende Vorstellung vom eigenen Selbst. Das Ich strebt dem Ich-Ideal entgegen, will so sein wie diese Vorstellung. Dabei muss das Ich-Ideal keine konturierte Person sein. Es kann sich auch um eine Idee, einen Zustand, eine innere Verfassung handeln, der man entgegenstrebt. Beispielsweise das Ideal, ganz stark zu sein, moralisch erhaben und ohne jeden Zweifel. Was nach Freud in der Massenbildung passiert, ist, dass eine Reihe unterschiedlicher Individuen vom selben äußeren Objekt – dem Führer oder der Idee – ein inneres Objekt aufrichten, das sich an Stelle des Ich-Ideals setzt. Das Ideal ist nun nicht allein eine innere Phantasie, sondern hat seine Entsprechung in der realen Welt. Wie man das äußere Objekt wahrnimmt, was man damit verbindet, was es einem bedeutet und warum man ihm anhängt, kann individuell variieren. Allerdings erlaubt seine Existenz im Außen die Verschwisterung derjenigen, die ihm anhängen. So wird verständlich, wie ganz unterschiedliche Menschen auch ohne äußere Kontrolle und Unterwerfung in Massenbewegungen zusammenhalten.

Den Platz des Ich-Ideals füllt für viele nicht erst, aber insbesondere seit dem 7. Oktober eine romantisierte Vorstellung von Palästina, Gaza oder der palästinensischen »Freiheitsbewegung« aus. Man will so sein wie das vermeintlich perfekte Opfer und wähnt sich bisweilen schon an dessen Stelle. Eine Sprecherin des ›propalästinensischen‹ Protestcamps an der Colombia University dramatisierte ihre Lage: »Do you want students to die of dehydration and starvation […] this is like basic humanitarian aid we‘re asking for.« Gleichzeitig benutzt man die Ikonographie der KämpferInnen, ahmt ihre Gesten und ihre Kompromisslosigkeit nach. Die Vorstellungen vom »palästinensischen Befreiungskampf« gehen weit auseinander, fragt man einen linken Kunststudenten oder einen Salafisten – dennoch ermöglicht das Objekt bei aller Unterschiedlichkeit eine Verbundenheit, die es erlaubt, gemeinsam auf der Straße zu stehen. Das geteilte Ich-Ideal bedingt letztlich eine Identifizierung der Einzelnen untereinander und erlaubt eine Enthemmung der Triebe: »Im Gehorsam gegen die neue Autorität darf man sein früheres ›Gewissen‹ außer Tätigkeit setzen und dabei der Lockung des Lustgewinns nachgeben, den man sicherlich durch die Aufhebung seiner Hemmungen erzielt.«7 Exzessiv bricht diese Enthemmung dann etwa in der Gewalt des antisemitischen Pogroms aus. Man agiert den Hass aus. Die Autorität unterbindet den Gefühlsausbruch nicht, sondern fordert ihn. 

In der Selbsterzählung steht man dabei an der Seite der Unterdrückten gegen den mächtigen Anderen, den man mit Chiffren wie »Zionisten« hinlänglich markiert. Die Rebellion ist jedoch eine konformistische.8 »An der Stelle des Aushandelns sozialer Interessenkonflikte tritt die Beseitigung des Schadens, den angeblich ein böser Geist der Gesellschaft zufügt, durch die Vernichtung des Bösen und seiner Repräsentanten.«9     

Man wähnt sich in der Rolle der Außenseiter, die von der Peripherie her mutig gegen die Macht aufbegehren. Dabei ist israelbezogener Antisemitismus keine Einstellung irrelevanter Minderheiten, sondern fester Bestandteil des deutschen Mainstreams. Sicher nehmen mit steigendem Bewusstsein gegenwärtig populäre Ausdrucksformen des Ressentiments die sozialen Kosten für antisemitische Agitation tendenziell zu. Solange allerdings gewisse Umgangs- und Ausdrucksformen gewahrt werden, darf man mit ausgestreckten Händen rechnen. 

Es wird eben nicht das Risiko eingegangen, Gesellschaftskritik zu üben, die etwaig auch die eigenen Szenen und Gruppen trifft. Kritik, die brüskiert, die eigene Verstrickungen reflektiert, die tatsächlich unbequem ist – auch für einen selbst. Der Konflikt zwischen Israel und Palästina nimmt das Denken voll und ganz in Anspruch. Kapitalismuskritik, Kritik des Naturverhältnisses und Antifaschismus werden zu Epiphänomenen des alles überschattenden ›Nahostkonflikts‹. Während man auf diesem Gebiet ständig revolutionäre Bewegung simuliert, befindet man sich doch im Stillstand. Man bedient die immer gleichen Argumente, Dämonisierungen, Empörungswellen und apokalyptischen Prophezeiungen. Die Palästinenser_innen haben von dieser Art der ›Solidarität‹ recht wenig. Mit der unerfüllbaren Forderung, Palästina solle »from the river to the sea« reichen, wird lediglich der Konflikt fortgeschrieben, um den sich ihre vermeintlichen Bündnispartner_innen die politische Identität gebaut haben. 

Frei von Schuld

»Free Gaza from German guilt« skandieren Protestierende seit dem 7. Oktober immer wieder und geben damit unfreiwillig Einblick in ihr Seelenleben. Gemeint ist damit, dass die BRD Israel die Unterstützung aufkündigen soll, da sie angeblich auf einem deutschen Schuldkomplex beruhe. Von der deutschen Schuld sind dann allerdings weniger die Palästinenser_innen, sondern viel mehr die Protestierenden selbst befreit. Sie sind es, die sich der Schuld entledigen, um für ein Palästina vom Fluss bis zum Meer und die Vernichtung des einzigen jüdischen Staates zu werben. Seit jeher scheint diese Selbstbefreiung am leichtesten von der Hand zu gehen durch die Umkehr von Tätern und Opfern. Den Opfern der Shoah wird heute vollkommen haltlos ein Genozid vorgeworfen oder unterstellt, in Gaza ein Konzentrationslager errichtet zu haben. Nicht nur in dieser spezifisch deutschen Projektion kehrt das Verdrängte wieder. Auch in anderen Ländern ist es beliebt, die eigene unrühmliche Vergangenheit auf Israel zu projizieren und damit die beschädigte nationale Identität zu reparieren. In den USA, Kanada und Australien ist der Vorwurf des Siedlerkolonialismus beliebt. In Großbritannien hält man Israel gerne für den Kolonialstaat schlechthin. Arabische Staaten projizieren die eigenen Menschenrechtsverletzungen auf Israel. In Frankreich feiert man die ›antikoloniale Résistance‹, die man selbst vehement bekämpft hat. 

Der sogenannte Nahostkonflikt ist eine perfekte Projektionsfläche, insofern er es gestattet, sich von der eigenen unliebsamen Geschichte zu lösen. Das genozidale Massaker vom 7. Oktober scheint das kaum irritiert zu haben. Die Brutalität, mit der Zivilist_innen ermordet, verstümmelt, vergewaltigt und verschleppt wurden, hat viele Menschen – auch in der Distanz – nachhaltig schockiert und verstört. Andere wiederum haben das Ereignis scheinbar kaum wahrgenommen. Sie glorifizieren oder ignorieren den Terror. Ihr Affekthaushalt scheint kein Mitgefühl mit den Anderen zuzulassen. Zu bedrohlich wäre es, auch nur einen Moment von der antisemitischen Wut abzulassen, die so wichtig für das Ich geworden ist.