Editorial
Eigentlich sollte diese Ausgabe eine ganz andere werden. Wir waren gerade mitten in der Auseinandersetzung darüber, was die Linke noch an der Uni verloren (oder zu gewinnen?) hat, da wurde die Frage in verkehrter Weise praktisch beantwortet. Seit dem antisemitischen Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 und dem darauffolgenden Krieg ging eine Welle antizionistischer Proteste um die Welt und wirbelte insbesondere an den Universitäten und in der politischen Linken auf, was zuvor nur notdürftig bearbeitet, verdeckt oder ignoriert worden war. Auch in Frankfurt organisierten selbsterklärte Antifaschist_innen Protestcamps nach US-amerikanischem Vorbild. Vorgeblich streiten sie für die Menschen in den palästinensischen Gebieten, meist geht es jedoch gegen die Existenz Israels. Sie rufen offen zur »Intifada« auf und fordern ein »arabisches Palästina vom Fluss bis zum Meer«.
Während es allerorts Dozierende gab, die sich hinter die Besetzungen stellten und die Proteste zu kritischen Instanzen gelebter Demokratie verklärten, trugen die staatlichen Repressionen, denen die Camps und Besetzungen mancherorts ausgesetzt waren, ihren Teil dazu bei, das Bild einer »antihegemonialen« Bewegung zu zeichnen, mit dem sich viele Linke intuitiv identifizieren konnten. Doch wer wirklich für eine Welt streiten will, in der der Mensch kein erniedrigtes, geknechtetes, verächtliches und verlassenes Wesen mehr ist, muss sich mit linker Judenfeindschaft, die sich seit den 1960er Jahren vor allem gegen Israel und seine Bewohner_innen richtet, auseinandersetzen, um die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen. Von dieser (selbstkritischen) Auseinandersetzung handelt dieses Heft. Es geht von dem haarsträubenden Umstand aus, dass ausgerechnet nach dem größten Angriff auf Jüdinnen und Juden seit der Shoah der Antisemitismus global noch zunimmt und die politische Linke dabei obendrein eine zentrale Rolle spielt. Manche mögen abgeklärt sagen, das sei nicht überraschend. Wer aber noch daran glaubt, dass es besser werden kann, sollte die Erschütterung nicht einfach beiseite wischen.
Der Nahostkonflikt ist seit Jahrzehnten der Anlass schlechthin für die Zerrüttung linker Projekte. Auch in der Redaktion dieses Heftes gibt es teils tiefe Differenzen angesichts der komplexen politischen Situation. Wie weit ist Israels Kriegsführung vom legitimen Sicherheitsinteresse und dem Kampf um die Existenz gedeckt? Welche Rolle spielen die Ziele der extremen Rechten und ihr antiarabischer Rassismus in der Regierung? Ist die Geiselbefreiung nur durch militärischen Druck möglich geworden oder verschleppt Netanyahu mögliche politische Deals, wie die Demonstrant_innen in Israel kritisieren? Wie lässt sich über Verantwortung sprechen?
Im Streit über diese Fragen betonen die einen die Situation Israels: Umgeben von Feinden, die das Land vernichten wollen und konfrontiert mit einem Gegner, der die Zivilbevölkerung in Gaza seit Jahren für seine ideologischen Ziele instrumentalisiert, antisemitisch indoktriniert, den Tod Zehntausender in Kauf nimmt und noch nie ein Interesse an einer friedlichen Lösung des Konflikts hatte. Noch immer befinden sich Geiseln im Gazastreifen und sind dort der brutalen Gewalt der Hamas ausgesetzt. Ihre Situation darf nicht vergessen werden. Die anderen legen den Fokus auf die israelische Verantwortung für die katastrophale humanitäre Lage der Menschen in Gaza. Seit über einem Jahr findet ein Krieg auf dicht besiedeltem Gebiet statt, bei dem zehntausende Zivilist_innen sterben und eine nicht vorstellbare Menge an Wohnraum und ziviler Infrastruktur zerstört wird. Angesichts dieser Zustände ist die israelische Kriegsführung das drängende Problem, weil sie das Leid der Zivilbevölkerung direkt verursacht. Darüber und über Menschenrechtsverletzungen durch das israelische Militär muss gesprochen werden. Und das ist möglich ohne die Verantwortung der palästinensischen Terrororganisationen zu verschleiern.
Über diese Fragen werden wir nicht einig, doch trotz unserer Differenzen halten wir es für richtig, dieses Heft zu machen. Es handelt nicht in erster Linie vom Nahostkonflikt, sondern von linken Irrwegen. Seit Jahrzehnten flammt der Antisemitismus weltweit auf, wenn die Lage in Nahost eskaliert. Doch nach dem Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 gab es einen kurzen Moment der Solidarität, in dem die Stimmen der Antisemiten aller politischen Lager für kurze Zeit kaum eine Rolle spielten. Der Moment hielt nicht lange an. In der Linken wurden bald Stimmen laut, die das Massaker als »Ausbruch aus dem Freiluftgefängnis« feierten. Manche begnügten sich mit Rechtfertigungen: Gewalt erzeuge eben Gegengewalt und so sähe Dekolonisierung aus. Der Nahostkonflikt legte sich projektiv über alle politischen Anliegen: »Palästina« gilt manchen nicht als ein Thema unter vielen, sondern als das Thema schlechthin. Mit dem Slogan »Palestine is not a single issue, Palestine is-the-issue« brachte etwa die studentische Kampagne »KEY48« aus Großbritannien ihren Erlösungsantizionismus in einem Schaubild auf den Punkt. Der Krieg steht im Mittelpunkt und verbindet alle anderen Probleme zu einer universalen Welterklärung: Umweltzerstörung, »white supremacy«, »toxic masculinity«, Rassismus, Patriarchat, Kapitalismus, Kolonialismus, Misogynie. »Palestine is the issue that makes us realise everything is interconnected. Every struggle for justice, freedom, and liberation«, schreibt KEY48 dazu. Praktischerweise lässt sich in dieser universalen Welterklärung auch das Grundübel, das alle Probleme verbindet, ohne weiteres ausmachen: Israel.
Auch in der feministischen Bewegung ist der Nahostkonflikt vielerorts zum neuen »Hauptwiderspruch« geworden, schreibt Merle Stöver. Sie zeigt, wieso die feministische Bezugnahme auf den »palästinensischen Befreiungskampf« widersprüchlich und oftmals antisemitisch ist. Das wird besonders deutlich am eklatanten Widerspruch zwischen dem eigenen emanzipatorischen Anspruch und der gleichzeitigen Verklärung reaktionärer Gewalt. Aktivist_innen, die sonst nicht müde werden, die Kontinuitäten patriarchaler Gewalt aufzuzeigen, reagierten auf die brutale islamistische Gewalt gegen Frauen am 7. Oktober mit Schweigen, Leugnen oder rechtfertigen sie gar: »#metoo, unless you’re a jew«. Diese Widersprüchlichkeit versucht Tom Uhlig sozialpsychologisch zu verstehen. Er argumentiert, dass der Antisemitismus einer »Stärkung des Ichs« dient und den Einzelnen ermöglicht, sich beim Ausagieren ihres Hasses noch an der Seite der Unterdrückten zu wähnen – was ihn anschlussfähig für Linke macht. Weil die antisemitische Rebellion an die Stelle der tatsächlichen Auseinandersetzung mit sozialen Verhältnissen tritt, ist sie konformistisch.
Dass nicht die gesamte globale Linke israelfeindlich ist, zeigen Bijan Razavi und Matteo Alba in ihrem Text zur iranischen Opposition und ihrem Verhältnis zu Israel. Während die Islamische Republik Iran der wichtigste Treiber des antiisraelischen Terrors ist, gab es seitens der iranischen Bevölkerung und der Iraner_innen in der Diaspora nach dem 7. Oktober zahlreiche Solidarisierungen mit Israel. Der politische Islamismus ist das verbindende Element, das sowohl die Repressionen des iranischen Regimes gegenüber der eigenen Zivilbevölkerung motiviert, als auch den antisemitischen Wahn begründet, der im Massaker der Hamas einmal mehr seine mörderische Logik zeigte. Für Linke, deren politische Praxis darin besteht, einen klaren Dualismus zwischen »dem Westen« und »den Unterdrückten« zu beschwören, ist die iranische Opposition eine störende Anomalie.
Über den langen Arm des iranischen Regimes, das auch jüdische Personen und Einrichtungen in Deutschland ausspäht, die Lage jüdischer Studierender in Deutschland und den zähen politischen Kampf gegen Antisemitismus haben wir mit Margarita Blum vom Verband Jüdischer Studierender in Hessen (VJSH) gesprochen. Sie berichtet vom tiefen Bruch, den jüdische Studierende in linken Zusammenhängen nach dem 7. Oktober erfahren mussten. Es ist eine beliebte Strategie antiisraelischer Rhetorik, den Zusammenhang zwischen Jüdinnen_Juden und dem Staat Israel zu leugnen und in den eigenen Reihen diejenigen Personen mit jüdischer Identität als Kronzeugen zu instrumentalisieren, die bezeugen sollen, dass Antizionismus nichts mit Antisemitismus gemein habe. Margarita Blum erzählt hingegen davon, dass Israel im Leben jüdischer Studierender eine wichtige Rolle spielt und dass der 7. Oktober und seine Folgen viele persönlich betreffen. Am Beispiel des Angriffs auf Lahav Shapira, der im Februar 2024 in Berlin körperlich angegriffen wurde und deshalb im Krankenhaus behandelt werden musste, weil er seine Verbundenheit zu Israel offen gezeigt hatte, wurde zudem sehr deutlich, dass Jüdinnen_Juden auch in Deutschland von antizionistischem Antisemitismus bedroht sind.
Kris Teva und Felyx Feyerabend werfen einen Blick auf die Gruppen, die an der Goethe-Universität antiisraelischen Aktivismus betreiben. Diese kombinieren den altbekannten Antiimperialismus aus der Zeit des Kalten Kriegs mit Argumentationsmustern des Postkolonialismus und postmoderner Identitätspolitik und machen ihn damit anschlussfähig an den Universitäten. Das verbindende Moment ist ein manichäisches Weltbild: hier die Unterdrückten, dort die Unterdrücker. Weshalb postkoloniale Kritik nicht zwangsläufig antizionistisch ist, erklärt Stefan Vogt, Apl. Professor für jüdische Geschichte. Im Interview wirft er einen optimistischen Blick auf die Grundideen der Denktradition. Eine ihrer wichtigsten Einsichten sei, dass Kolonialismus nicht durch binäre Gegenüberstellungen, sondern als ein Verhältnis zu verstehen ist. Nähme man diesen Gedanken ernst, könnte man auch den Zionismus als Element der Uneindeutigkeit dieses Verhältnisses verstehen: einerseits enthalte er koloniale, andererseits auch antikoloniale Elemente. Stefan Vogt plädiert dafür, Postcolonial Studies und Jewish Studies zusammen zu denken und ihr »uneingestandenes Verwandtschaftsverhältnis« zueinander aufzuklären.
Der Historiker Moishe Postone hat Marx auf eine Weise interpretiert, die in vielen Punkten mit der marxistischen Theorietradition bricht. Auch deshalb wurden seine Texte zu Orientierungspunkten einer linken Selbstkritik, die sich gegen Antisemitismus in der Linken wandte und dabei nicht auf der Ebene des Phänomens stehen blieb, sondern es zum Anlass nahm, den Fundus linker Theorie grundlegend zu überdenken. 1979 erschien im diskus sein Text »Antisemitismus und Nationalsozialismus« erstmals auf deutsch. Wir drucken ihn wieder ab, weil wir denken, dass er 45 Jahre später nicht nur historisch interessant, sondern immer noch hilfreich dabei ist, linke Holzwege zu verstehen. Postone analysiert den nationalsozialistischen Antisemitismus in seinem Text als »fetischistischen Antikapitalismus« und grenzt sich von linken Analysen ab, die Antisemitismus bloß als faschistisches Instrument zur Befriedung des Klassenkonflikts deuten. Postone geht so weit, Antisemitismus als eine universale Denkform der kapitalistischen Moderne zu interpretieren. Antisemitismus biete die Möglichkeit, die abstrakte Herrschaft des Kapitals zu konkretisieren und zugleich als Abstraktum zu negieren, ohne dabei den Kern der kapitalistischen Gesellschaft infrage stellen zu müssen. Die Sprengkraft des Ansatzes besteht darin, die Dialektik von Herrschaft und Revolte aufzudecken. Interpretiert man Antisemitismus als antikapitalistische Revolte, kann man ihn auch in linken Weltanschauungen kritisieren. In diese Richtung dachte Postone in späteren Texten und politischen Interventionen weiter nach – auch, um die Möglichkeit auf eine wirklich emanzipative Kapitalismuskritik bewahren zu können. Moritz Zeiler wirft in seinem Text »Illusionen und Versäumnisse« einen Blick in diese Texte und stellt sie in einen theoretischen und historischen Zusammenhang. Julian Bierwirth fasst die politökonomischen Überlegungen zusammen, die Postones Text zugrunde liegen.
In welcher Hinsicht Postones Ausführungen ihrem »Zeitkern« verhaftet bleiben und inwiefern sie den aktuellen Antisemitismus in der Linken erklären können, bleibt zu diskutieren. Klar ist jedoch: Die Linke täte gut daran, »den Diskussionsstand der neunziger Jahre nicht in Vergessenheit geraten zu lassen«, wie die Herausgeber_innen der Berliner Initiative kritische Geschichtspolitik bereits 2005 anlässlich ihrer Neupublikation von »Antisemitismus und Nationalsozialismus« festhielten. Knapp zwei Jahrzehnte später lässt sich sagen, dass der Diskussionsstand nicht völlig vergessen ist. Doch die Linke ist weit davon entfernt, ihn neu zu beleben. »Die Linke machte einmal den Fehler anzunehmen, daß sie ein Monopol auf Antikapitalismus hätte; oder umgekehrt: daß alle Formen des Antikapitalismus zumindest potentiell fortschrittlich seien. Dieser Fehler war verhängnisvoll – nicht zuletzt für die Linke selbst.« So endet Postones Text. Ergänzt man »Antikapitalismus« um andere linke »-ismen« wie Feminismus oder Antirassismus, stellt sich die Frage, wie die gegenwärtige Linke diesem »Verhängnis« heute entgehen kann: Was bleibt von linken Ideen und Bewegungen angesichts ihrer antisemitischen Verkehrung noch übrig? Was bedeutet »links« angesichts der zunehmenden Delegitimierung linker Selbstkritik? What’s left?