Das Plädoyer der Verteidigung Stephan Ernst – Verharmlosung und Relativierung des rassistischen und rechtsextremen Motivs

Mustafa Kaplan und Jörg Hardies plädierten am 43. Prozesstag am 21. Januar 2021 für ihren Mandanten Stephan Ernst auf Totschlag statt Mord und für Freispruch wegen des rassistischen Anschlags auf Ahmed I. Ihre Argumentation, dass die Mordmerkmale der niederen Beweggründe nicht gegeben waren, da Ernst im irrigen Glauben „im Allgemeininteresse zu handeln“ Walter Lübcke ermordete, stieß im Nachhinein auf heftigen Widerspruch vieler Rechtsanwält_innen. Kaplan versuchte anscheinend durch Lob des Senats und heftige Kritik an der Bundesanwaltschaft rhetorisch bei den Richter_innen in Frankfurt zu punkten. Dabei verstiegen sich die Kölner Rechtsanwälte in sachlich zweifelhafte Angriffe gegenüber dem DNA-Sachverständigen Schneider, dem sie schlichtweg die Wissenschaftlichkeit absprachen. Stattdessen stellte sich Hardies in seinem Schlussvortrag als den besseren Sachverständigen dar und referierte über die DNA-Spur am gefundenen Messer bei Stephan Ernst, nur um mit einem Zitat des Richters Sagebiel zu schließen: „Nichts genaues weiß man nicht.“

Mustafa Kaplan, der seinen Schlussvortrag mit der Auflistung begann, aus wie vielen Gründen dieser Prozess „ungewöhnlich“ gewesen sei, vergaß natürlich nicht, erneut auf die schwere Kindheit von Ernst einzugehen und argumentierte schließlich dafür, den Mord nicht als politischen, sondern in dessen privater Dimension wahrzunehmen, als ganz ‚normaler‘ Mord. Inhaltlich schloss sich Kaplan an die von der Nebenklage der Familie Lübcke angeführten 30 Punkte an, die die Tatbeteiligung von Markus H. herausstellten und betonte den Aufklärungswillen seines Mandanten. Zudem nehme Ernst an einem Aussteigerprogramm teil und habe sich „glaubwürdig“ von der rechten Szene abgewandt. Gegenüber der Familie schloss Kaplan mit der Zusicherung, dass Ernst ihnen auch weiterhin für alle Fragen zur Verfügung stehe. Er selbst habe keine Zweifel daran, dass Ernst die volle Wahrheit vor Gericht gesagt habe.

Das Plädoyer der Verteidigung Markus H. – Rechte Agitation und Polemik

Die Anwälte Björn Clemens und Nicole Schneiders bewiesen am 44. Prozesstag, den 26. Januar 2021 ihre feste Verortung innerhalb der extremen Rechten. Beide plädierten für ihren Mandanten Markus H. auf Freispruch in beiden Anklagepunkten und auf Entschädigung wegen der verbüßten Untersuchungshaft. In ihrer völkisch-nationalistischen Argumentation nutzten sie wiederholt rechte Rhetorik und Argumentation, bspw. als Nicole Schneiders behauptete, dass die wahnhafte Vorstellung einer „Umvolkung“ keineswegs irrational sei, sondern vielmehr ein real drohendes Szenario, wogegen man Widerstand leisten müsse. Ihr Mandant Markus H. habe sich deswegen auch nicht schuldig gemacht, als er das verkürzte Video der Versammlung in Lohfelden hochgeladen habe. Auch Björn Clemens Schlussvortrag strotzte vor Täter-Opfer-Umkehr und der Relativierung rechter Gewalt, unter anderem wenn er einen linkshegemonialen Meinungsdiskurs herbeifantasierte, oder aufrechnete, wie viele Mieten man mit dem neu eingesetzten Programm der Bundesregierung gegen Rechtsextremismus bezahlen könne.

Das Urteil – „das stimmige Bild eines Hassenden“

Am Tag der Urteilsverkündung, dem 45. Prozesstag am 28. Januar 2021, gab es schon morgens verschiedene Aktionen vor dem Gebäude des OLG in Frankfurt, u.a. waren Schüler_innen der Walter-Lübcke-Schule daran beteiligt. Ab 11 Uhr gab es eine Kundgebung, zu der ein antifaschistisches Bündnis aufgerufen hatte und bei dem sowohl der Prozess als auch die Aufarbeitung und politische Einordnung des Gerichts kritisiert wurde. Auch nach der Urteilsverkündung standen Demonstrierende vor dem Gericht, u.a. die Initiative 19. Februar demonstrierte in Solidarität mit Ahmed I. Eine Teilnehmende an der Demonstration nach der Urteilsverkündung vor dem Gerichtsgebäude berichtete der diskus, dass die Demonstrierenden, darunter Betroffene des rassistischen Anschlags in Hanau, von der anwesenden Polizei hinter die Absperrung verwiesen wurden, um den Ablauf der Pressestatements nicht zu behindern. Im Umgang mit der anwesenden kritischen Öffentlichkeit zeigten die Behörden erneut ihre Gleichgültigkeit.

Im Gerichtssaal wurde Stephan Ernst an diesem Tag wegen der Ermordung Walter Lübckes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe, mit Vorbehalt der Sicherungsverwahrung, verurteilt. Des rassistischen Angriffs auf Ahmed I. wurde Ernst freigesprochen. Auch H. wurde der Beihilfe zum Mord an Walter Lübcke freigesprochen und lediglich wegen des Waffendelikts zu einer Haftstrafe von einem Jahr und acht Monaten verurteilt, ausgesetzt auf Bewährung. Der vorsitzende Richter Sagebiel eröffnete die Urteilsbegründung mit einem langen Vortrag über den Verfahrensgrundsatz „in dubio pro reo“ und betonte, dass eben nicht zweifelsfrei von der Tatbeteiligung H.‘s ausgegangen werden könne. Auch hinsichtlich des rassistischen Angriffs auf Ahmed I. habe der Senat „ernsthafte Zweifel“, dass Ernst der Täter sei, da zum einen der Kaufbeleg für ein Messer aufgetaucht sei, zum anderen die DNA-Spur  „nicht in naturwissenschaftlich tragfähiger Weise“ Ahmed I. zuzuordnen sei  Der Senat sei weiterhin vom ersten Geständnis von Stephan Ernst überzeugt, dieses habe „das stimmige Bild eines Hassenden“ gezeichnet. Die politische Einordnung des Motivs schwankt im Wortlaut der Richter_innen immer wieder zwischen „Fremdenfeindlichkeit“, „Ausländerhass“ und „Ausländerfeindlichkeit“ und weist wiederum auf das Unvermögen hin, Rassismus zu erkennen und zu begreifen.

Reaktionen – „die gleichen Fehler wie im NSU-Prozess“

Markus H. verlässt das Gericht siegessicher, er feixt als sein Freispruch verkündet wird – und schießt anschließend mit seinen Verteidiger_innen vor dem Gerichtssaal Abschiedsbilder. Ein JVA-Beamter des OLG geht ihm dabei gerne zur Hand. Auch hier zeigt sich, dass von dem Urteil kein abschreckendes Signal an die Szene geht – wie Caro Keller herausstellt, fühlen sich Nazis, wenn ihre Taten juristisch nicht geahndet werden, bestärkt. Keller, die als Aktivistin der unabhängigen Beobachtungsstelle NSU-Watch den ganzen Prozess beobachtet und kritisch begleitet hat, urteilt in ihrem Pressestatement über dieses Urteil:

„Weder die Anklage noch der Senat hatten ein Interesse daran, die Taten vollständig aufzuklären. Das Milieu, das die Taten unterstützte, bleibt unaufgedeckt und damit gefährlich. Hier passieren die gleichen Fehler wie im NSU-Prozess.“

Auch Liisa Pärssinen, Leiterin der Opferberatungsstelle Response, die auch Ahmed I. nach dem rassistischen Angriff begleitet hat, stellt die Wirkung, die dieser Freispruch Ernsts für Ahmed I. aber auch für andere Betroffene rassistischer und rechter Gewalt in einer Pressemitteilung der Bildungsstätte Anne Frank, heraus: Aus unserer Beratungsarbeit wissen wir: Wenn rechte, rassistische oder antisemitische Gewalttaten straffrei bleiben, erschüttert dies das Vertrauen der Betroffenen in Rechtsstaat und Gesellschaft stark.“

Die rechten Szene-Anwälte von Markus H. freuen sich. Nicole Schneiders schreibt auf facebook: „Wir können zufrieden sein.“ Björn Clemens vergisst in seiner Stellungnahme auch nicht den funktionierenden Rechtsstaat zu erwähnen, er sei erleichtert, „dass sich das Gericht nicht von den mannigfaltigen Versuchen Dritter und der Stimmungmache (sic!) der Medien hat beeinflussen lassen, die auf Biegen und Brechen eine Verurteilung von H. herbeireden bzw. schreiben wollten.“

Dazu bemerkt Rechtsanwalt Hoffmann auf Twitter: „Die deutsche Justiz entdeckt ihr Liebe zum Rechtsstaat zumeist, wenn es gegen Nazis geht.“ In diesem Sinne behalten alle Lobreden auf das Urteil von Journalist_innen und Politiker_innen einen schalen Beigeschmack, loben sie zumeist die Härte des Rechtsstaats und das harte Urteil gegen Ernst, während sie nicht ein Wort über dessen Freispruch verlieren. Der ARD-Brennpunkt am 28. Januar nennt beispielsweise nicht einmal den Namen von Ahmed I. Augenscheinlich wird in den Reaktionen der Mehrheitsgesellschaft ihr struktureller Rassismus. Wie wichtig die Perspektive von Betroffenen im juristischen Verfahren, in der Berichterstattung aber auch in der kritischen Öffentlichkeit ist, wird hieran schmerzlich deutlich. In seinem Pressestatement nach der Urteilsverkündung kritisiert I. das Gerichtsverfahren scharf: „Wir wissen alle, wer der Täter ist. Nur das Gericht weiß es nicht.“ Er fordert nun vom Untersuchungsausschuss, dass dieser als letzte Instanz die Möglichkeit habe, die offen gebliebenen Fragen zu beantworten:

„Die Abgeordneten müssen sich wirklich große Mühe geben. Sie müssen eine bessere Arbeit machen. Es ist eine Chance nochmal hinzuschauen. Ihr müsst das gut machen. Zu dem Untersuchungsausschuss sage ich: Nehmt mich ernst. Schaut mich an. Hört mir zu. Die Polizei hat Fehler gemacht."

Laura Schilling und Arthur Romanowski