Am 15. Juni 2019, 13 Tage nach dem Mord an Walter Lübcke wurde Stephan Ernst festgenommen, 10 Tage später gestand er den Mord. In diesem ersten Geständnis erwähnte er Markus H. als Freund und Kollegen, aufgrund dieser Aussage wurde Markus H. Untersuchungshaft gebracht. Die Waffenfunde bei Stephan Ernst ließen die Ermittler_innen zudem darauf schließen, dass Stephan Ernst auch mutmaßlich des rassistischen Angriffs auf Ahmed I. anzuklagen sei, da DNA-Reste an einem Messer gefunden wurden. Die derzeitige Anklage konstruiert die beiden als Einzeltäter, Markus H.s Anklagevorwurf der psychischen Beihilfe ist dabei sehr schwach. Die Entscheidung des Strafsenats am 21. Verhandlungstag ihn aus der Untersuchungshaft freizulassen, folgt dieser Sicht auf den Tatkomplex und bewertet H.s Rolle als noch geringer. Die Vernetzung der beiden Angeklagten tritt somit in der Hauptverhandlung in den Hintergrund, aus dem Einblick in die Ermittlungen der Behörden wurde zunehmend offensichtlich: Die tatermöglichenden Strukturen in den Blick zu nehmen und aufzudecken, um weitere Gewalttaten aus diesem Milieu zu verhindern, hat weder die Polizei vorangetrieben noch die Bundesanwaltschaft und das Gericht hier eingefordert.

 

Von Hunden und Runen – Die Aussage von Lisa Marie D.

Vor Gericht gilt was gesprochen wird, das ist der sogenannte Mündlichkeitsgrundsatz. Und unter dieser Prämisse ist vor allem eine Aussage des 19. Verhandlungstages, 17. September, entscheidend für die Haftentlassung Markus H.s: Die Aussage von Lisa Marie D., Hauptbelastungszeugin für die Anklage gegen Markus H., dessen ehemalige Freundin und Mutter der gemeinsamen Tochter. Sie wurde in der Anklageschrift zitiert, indem sie Ernst als „Macher“ bezeichnete und H. als „Denker“, ihre Aussage sollte vor allem ein Bild von Markus H. und seinem Charakter vor Gericht zeichnen.

D. und H. lernten sich 2014 über das Internetportal Jappy kennen, vor ihrem ersten Treffen berichtet D. habe sie H. heimlich an seinem Flohmarktstand für Militaria beobachtet. Auch seine Vorliebe für Waffen schildert sie; beschreibt H. als Einzelgänger, der gerne provozierte und manipulierte. Seine rechte politische Einstellung kann ihr also gar nicht entgangen sein, obwohl die beiden nie zusammengelebt, sondern immer eine Fernbeziehung führten. Sie schildert in ihrer Aussage seinen Waffenfetisch, seine Vorliebe für Militaria und NS-Devotionalien, gibt rassistische und sexistische Äußerungen von ihm wieder. Die beiden haben eine gemeinsame Tochter, die 2016 zur Welt kam, im Jahr darauf trennten sie sich. Sie sind seitdem in einen Sorgerechtsstreit verwickelt. Die Beziehung zwischen Ernst und H. beschreibt D. als „harmonisch“, es sei eine „Freundschaft“ gewesen – wenn man beim Einzelgänger H. von Freundschaft sprechen könne. Lisa Marie D. zeigte sich noch in ihrer polizeilichen Befragung sicher: Falls Stephan Ernst vorgehabt habe Walter Lübcke zu ermorden, hätte Markus H. davon gewusst. Markus H. bezeichnet sie vor Gericht als „Rechtsextremist und Reichsbürger“, beschreibt ihn als „narzisstisch“, „manipulativ“, mit „psychopathischen Anteilen“ – „einer, der grinsend daneben steht“. Durch ihre Aussage wird auch nochmal im Besonderen die misogyne und sexistische Einstellung der beiden Angeklagten beleuchtet.

Gestört hat sie die politische Einstellung H.s offenbar nicht, da im Verlaufe der Aussage vor Gericht mehr und mehr ihre eigene politische Einstellung thematisiert wird. Während der Befragung kommt heraus, dass D. den SS-Spruch „Meine Ehre ist Treue“ tätowiert hat, in ihrer Rechtfertigung betont sie der Spruch beziehe sich auf ihre große Liebe zu ihren drei Hunden, deren Namen direkt unter dem Spruch eintätowiert seien. Die Hundefreundin gibt jedoch später zu sie zu, dass sie, als sie 15 war und diesen Spruch tätowieren ließ, wusste, dass der Spruch „mit dem Judenmord zu tun hat und dem ganzen Drumherum“. Diese geschichtsrevisionistische und Holocaust-relativierende Aussage wird ergänzt durch weitere Details: weitere Bilder von ihr zeigen, dass sie neben dem SS-Spruch sowohl eine verbotene nordische Rune mit Bezug zum Nationalsozialismus tätowiert hat als auch ein Hakenkreuztattoo mit dem Code 1488, welches inzwischen allerdings übertätowiert worden sei. Zwar schiebt sie all das auf falsche Freunde aus der Neonazi-Szene und gibt vor, sich inzwischen davon distanziert zu haben, jedoch bleiben daran erhebliche Zweifel. Ihre Betonung, dass all das in der Vergangenheit liege, wird konterkariert durch eine SMS, die sie noch 2017 an Markus H. schrieb, in der sie sich rassistisch äußerte. D. drückt sich vor Gericht vor der Zuordnung zur rechten Szene, räumt allerdings ein auch heute noch „vom Grunde her schon rechts“ zu sein.

Ihre Glaubwürdigkeit als Zeugin wird allerdings endgültig erschüttert, als es in der Befragung um den Sorgerechtsstreit zwischen ihr und H. geht. Dabei wird sie nachweislich einer Falschaussage vor Gericht überführt, sie sei, wie es Richter Sagebiel ausdrückt, „gerade bei einer dicken Lüge erwischt“ worden – und die Frage sei, was sie noch alles heute falsch angegeben hätte. Die Glaubwürdigkeit der Zeugin Lisa Marie D. ist dadurch beträchtlich geschmälert, ihre Aussage von Ernst als „Macher“ und H. als „Denker“ hat sie zudem in ihrer Aussage vor Gericht relativiert – beide seien schon ehrlich miteinander gewesen, wer von beiden allerdings die dominantere Rolle einnahm, könne sie nicht beurteilen.

 

Rechter Rand: Arbeitskollegen und Freund_innen

Am 7. September nimmt das Gericht das komplette Video der Bürgerversammlung Lohfelden, aufgezeichnet durch Markus H. in Augenschein – nicht nur den auf YouTube hochgeladenen Ausschnitt, sondern das komplette, 11 Minuten lange Video. Nebenkläger Jan-Hendrik Lübcke sagt im Anschluss daran laut in den Saal „Ich bin echt stolz auf meinen Papa. Alles was er da gesagt hat, da hat er recht und das stimmt immer noch!“ Richter Sagebiel verwarnt ihn daraufhin, dass diese Äußerung ihm nicht zustände. Die Worte allerdings bleiben. Der Moment verdeutlicht, was in diesem Prozess verhandelt wird. Hier versuchen Angehörige mit den Folgen rechten Terrors umzugehen. Sie verlangen komplette Aufklärung und sind mit ihrer ganzen Geduld in diesem Prozess anwesend. Ihre präsenten Körper und Stimmen, lassen diesen politischen Konflikt konkret werden. Sie verlangen nach einer Aufklärung und stehen mit der Frage da, warum das nicht verhindert werden konnte. Wieso hat niemand die monatelange politische Hetze gegen Walter Lübcke ernst genommen? Es sind die Aussagen und Fragen der Nebenklage, die es einem deutlich machen, dass es hier um mehr als nur ein normales Strafverfahren geht. Warum ist niemandem im Umfeld von Markus H. und Stephan Ernst aufgefallen, dass die beiden vermutlich einen Mord planten? Die simple Antwort darauf scheint im Licht des Prozesses zu sein: Wo rechte und menschenfeindliche Einstellungen normal sind, fallen sie auch niemandem auf.

Nachdem die ersten Wochen des Prozesses vor allem durch die Aussagen von Stephan Ernst dominiert wurden, fiel durch die Aussagen von Arbeitskollegen und Freund_innen in den sechsten bis zehnten Verhandlungswochen deutlich mehr Licht auf das Umfeld von Stephan Ernst und Markus H.. Niemandem fielen die radikalen Gedanken von Stephan Ernst in seinem Umfeld auf – weil sie in seinem Umfeld geteilt wurden. Das unterstützt zum Beispiel die Aussage von Habil A., ein Arbeitskollege und Freund von Stephan Ernst. Ernst sei wie ein Bruder für ihn gewesen, sie hätten sich seit 2012 gekannt. Auch er war Mitglied im Schützenverein, auch sie haben gemeinsam Schießtraining absolviert. Zu Beginn seiner Einlassung vor Gericht am 1. September, dem 14. Verhandlungstag, spielt er ihre politischen Gespräche noch herunter, sie hätten zwar darüber gesprochen, dass es zu viele Geflüchtete in Deutschland gebe, aber das Thema sei „nebenbei“, bei vielen Leuten ein Thema gewesen. Habil A. war auch die Person, die Ernst nach einem Alibi für den 1. Juni 2019 gefragt hatte. Er antwortete ihm, Ernst könne sich auf ihn verlassen. Das nächste Mal habe A. Ernst in der JVA wiedergesehen, sein Alibi brauchte Ernst zu diesem Zeitpunkt nicht mehr, da er bereits gestanden hatte. Im Verlaufe der Befragung kommt allerdings auch zunehmend die Positionierung von Habil A. zur Sprache. Er räumt ein mit Ernst bei Pegida in Kassel gewesen zu sein, angeblich weil er das einfach mal habe hören wollen. Auf Nachfrage räumte er zudem ein, im Schützenverein mit scharfen Waffen geschossen zu haben. Auch er sehe die Zuwanderungspolitik Merkels „kritisch“, auch er finde Homosexualität „nicht normal“.

Ein weiterer Arbeitskollege von Stephan Ernst, Holger M., bestätigt in seiner Aussage am 17. Prozesstag, 8. September 2020, dass Ernst sich auch an seinem Arbeitsplatz wiederholt rechts geäußert habe. Ernst brachte Zeitschriften wie die Junge Freiheit und Compact mit. Auch in dieser Befragung versucht der Befragte zu Beginn eine ganz normale Arbeitsbeziehung darzustellen, über den Verlauf kam aber mehr und mehr M.s politische Positionierung zum Vorschein. So waren anscheinend mehrere Arbeitskollegen der Firma gemeinsam bei der Kundgebung des Kassler Pegida Ablegers. Auf die Rückfrage wie sich M. selbst verorten würde, antwortet er „regierungskritisch“, er finde ja nicht alles gut, was die „Regierung der Bevölkerung antut“ – ohne zu verpassen gleich noch mit zu erklären, er sei ja „kein Nazi“. M. bejahte auf Rückfrage Rechtsanwalt Kaplans, dass auch er die Compact auf Arbeit mitgebracht hätte, man müsse die „allgemeine Presse“ gegenlesen, da man sich nicht sicher sein könne, was stimme. „Ich bin ja einer, sage ich mal, ich muss die Dinge von zwei Seiten betrachten“, weswegen er die Junge Freiheit, die Compact mit der HNA gegenlese. Ernst beurteilt er auch als jemanden der zwar „rechts“ eingestellt sei, aber durchaus „differenzieren könne“. Die Differenzierung verortet M. dabei beispielsweise in einer Aussage Ernsts, dass man alle „Migranten in ein Flugzeug stecken und über dem Mittelmeer rauslassen“. Ernst habe ja nicht alle Migranten gemeint, sondern nur „kriminelle“ oder diejenigen ohne Aufenthaltserlaubnis.

Diesen Eindruck des Arbeitsumfelds von Ernst und H. in Kassel bestätigen auch Timo A. und Jens L., die am 22. September, dem 20. Prozesstag, vor Gericht ausgesagt haben. Beide haben ebenfalls illegale Waffen besessen und diese teilweise von Ernst erworben; gegen sie laufen gesonderte Strafverfahren. Auch ihnen seien wohl die Ansichten Ernsts nicht als besonders radikal aufgefallen, allerdings bestreitet L. „rechtsgerichtet oder rechtsradikal“ zu sein, obwohl bei seiner Hausdurchsuchung NS-Devotionalien und -Schriften gefunden wurden.

Eine Episode der Aussage von Holger M. ist von größerem Interesse für die Aufklärung des Angriffs auf Ahmed I. Auf Nachfragen von Sagebiel erzählte M., dass Ernst ihm von einem Vorfall erzählt habe, bei dem Ernst auf dem Fahrrad gefahren sei und ihn jemand mit Steinen beworfen habe. Ernst sei daraufhin abgestiegen und habe der Person „eine gegeben“, die Person sei daraufhin in den Straßengraben gefallen. All das sei 2015 oder 2016 auf dem Arbeitsweg nach der Spätschicht nach Hause passiert. Die Spätschicht in der Firma sei immer gegen 22 Uhr geendet, Ernst habe M. das beiläufig im Frühjahr 2018 erzählt. Nebenklagevertreter Rechtsanwalt Hoffmann erklärt daraufhin, dass diese Erzählung auf den Angriff auf seinen Mandanten Ahmed I. verweise. Offenbar habe Ernst das Bedürfnis verspürt seinem Umfeld von seinen Taten zu erzählen. Aus Angst vor einer Entdeckung habe er allerdings eine Tarnversion erzählt.

 

Polizeiliche Ermittlungen

Mit diesem Hintergrund bleibt zu fragen, ob es weitere Taten gibt, die den beiden Angeklagten angelastet werden könnten und bis jetzt nicht aufgeklärt wurden. Davon spricht in einer Aussage vor Gericht auch ein Mitgefangener von Markus H., der H. in der Untersuchungshaft kennen lernte. Youssef E. schilderte am 3. September, dem 15. Prozesstag, dass H. ihm gegenüber davon gesprochen habe, Ernst habe weitere Straftaten gegenüber „Menschen mit ausländischer Herkunft“ und anderen Glaubensrichtungen begangen. Diesem Hinweis wurde offensichtlich in den polizeilichen Ermittlungen nicht nachgegangen. Youssef E. und auch ein anderer Mithäftling, Hassan E., sind eher durch einen Zufall im Winter 2019 von der Polizei befragt worden. Beide sprachen vor Gericht nur äußerst sparsam und unfreiwillig, zudem erinnerten sie sich an wenige Details und bestätigten meist nur Vorhaltungen der polizeilichen Vernehmung. In dieser Episode zeigt sich anderes Merkmal des Tatkomplexes um den Mord an Walter Lübcke: Nach der Festnahme und dem Geständnis von Stephan Ernst scheint relativ wenig über dessen Umfeld und weitere mögliche Straftaten ermittelt worden zu sein. Es stellt sich der Eindruck ein, die Behörden seien mit der Festnahme und der relativ eindeutigen DNA-Beweislage zufrieden gewesen. Diesen Eindruck bestätigt auch die Zeugenaussage des Soko-Leiters Muth am 27. August, dem 13. Verhandlungstag. Muth berichtet in seiner Aussage, dass eine einzelne Hautschuppe von Stephan Ernst, gefunden auf dem Hemd von Walter Lübcke, die Ermittler auf dessen Spur brachte. Am 4. Juni 2019 übernahm Muth die Ermittlungen der SoKo „Liemecke“. Besonders schwierig erwies sich, dass die Ermittler_innen keinen Tatort mehr sichern konnten, da ein Freund der Familie diesen gereinigt hatte, um der Familie den Anblick zu ersparen. Zu diesem Zeitpunkt ging die Familie noch von einem Herzinfarkt aus, erst bei der Leichenschau durch den Kriminaldienst wurde die Schussverletzung festgestellt, der Todesgrund war zuvor auf Drängen der Familie nochmal untersucht worden. Erst daraufhin wurde die Polizei eingeschaltet.

Muth schilderte, dass sein Einsatzteam zunächst mehrere Hypothesen aufstellte, Suizid oder ein Unfall allerdings relativ schnell aufgrund fehlender Schmauchspuren ausgeschlossen werden konnte. Erst nachdem mehr und mehr Personen aus dem familiären Umfeld ausgeschlossen wurden, begannen die die Ermittler_innen auch politische Tatmotive in Betracht zu ziehen. Am 14. Juni 2019 kam dann der Anruf: Eine einzelne Hautschuppe, die auf dem zwischenzeitlich schon im Müll entsorgten Hemd Lübckes gefunden wurde, gab den entscheidenden Hinweis, mit dem die Datenbank der Polizei abgeglichen werden konnte und Stephan Ernst als Übereinstimmung erschien. Da Ernst wegen „politisch motivierter Gewalt, rechts“ bekannt war, habe Muth beschlossen, Ernst festnehmen zu lassen.

Der DNA-Sachverständige Harald Schneider erklärt das genauere Vorgehen am 21. Prozesstag, dem 1. Oktober, lang und ausführlich. Durch diesen Sachverständigen wird vor allem eins deutlich: Das angewendete DNA-Verfahren war äußerst aufwendig und das Finden des „hautschuppenähnlichen Partikels“ grenzt an Glück. Dieses Partikel war weniger als einen Millimeter groß, es wurde auf verschiedene genetische Merkmale untersucht, sogenannte Allele. Neun dieser 16 Allele waren auswertbar, dies erfüllte die Minimalgröße, um einen Datenbankabgleich durchführen zu können. Mit Stephan Ernst gab es eine Übereinstimmung in fünf Genmerkmalen, ein Indiz gerademal, kein Beweis. Durch die von Ernst genommene Speichelprobe konnten später noch mehr Merkmale abgeglichen und Zweifel ausgeräumt werden. Dieses extrem aufwendige Verfahren wird nur in Ausnahmefällen durchgeführt und ist vor Gericht noch nicht lange zugelassen. Aufschluss gibt diese Methode hinsichtlich der Täterschaft von Ernst im Fall von Ahmed I. leider nur bedingt. An einem Klappmesser von Stephan Ernst wurden sehr schwache DNA-Spuren gefunden, innerhalb dieser wurden zwei seltene genetische Merkmale gefunden, welche laut dem Sachverständigen Schneider daraufhin deuten, dass die angegriffene Person aus der Region des Irak kommen könnte. Allerdings könne sich aufgrund dieser Spur nicht darauf festgelegt werden, dass die DNA von Ahmed I. stamme, dazu könne man zu wenig auswerten.

So eindeutig die Spur im Fall von Stephan Ernst ist, drängt sich allerdings die Frage auf, was passiert wäre, wäre der Partikel auf dem Hemd von Walter Lübcke nicht gefunden worden. Wie der Soko-Leiter Muth berichtete, begannen die Ermittlungen erst fünf Tage nach dem Mord eine politische Tatmotivation für wahrscheinlicher zu halten, nach dem Ausschluss der ersten Hypothesen. Neben dem rechten Motiv, wegen der Veranstaltung in Lohfelden, hätten die Ermittler_innen allerdings auch ein politisch „linkes“ Motiv aus dem Umfeld der Windkraftgegner_innen nicht ausgeschlossen.

Nachdem Stephan Ernst festgenommen wurde, hätten Mitarbeiter_innen der Soko in seinen Akten festgestellt, dass Ernst immer irgendwann seine Taten in der Vergangenheit gestanden habe. Deswegen habe Muth ein Team seiner Ermittler zu Ernst in die JVA geschickt, um ihm ein Gespräch anzubieten. Dies lehnte Ernst zunächst ab, dann habe allerdings die JVA am 25. Juni 2019 angerufen und mitgeteilt, Ernst wünsche ein Gespräch mit den Ermittler_innen. In diesem Gespräch fiel auch zum ersten Mal der Name von Markus H. Auch was seine Handydaten des Tatabends betrifft wird hier ein Versäumnis offensichtlich. Markus H.s Telefon war am Tatabend in keine Funkzelle eingeloggt, sondern im Flugmodus. Um die Tatzeit herum, um 22.36 Uhr, wurde allerdings via einer WLAN-Verbindung eine Whatsapp abgeschickt. Die Ermittler_innen schlossen aus, dass das in Wolfhagen-Istha geschehen sein konnte, da es im Ort kein offenes WLAN gibt. Allerdings versäumten die Ermittler_innen es bei der Hausdurchsuchung die Fritzbox von H. mitzunehmen und zu untersuchen, ob jene Whatsapp von ihm zu Hause versendet wurde. Die Fritzbox kann heute nicht mehr ausgewertet werden, da H.s Wohnung aufgelöst wurde.

 

Kein Netzwerk, kein Problem

Die Wochen nach der Einlassung von Stephan Ernst zeigen, wie schwierig die Beweislage ist, auch aufgrund der wenigen stichhaltigen Beweise und unglaubwürdigen Zeug_innen hinsichtlich der Beziehung zwischen H. und Ernst. Stephan Ernst hat wiederholt sein Geständnis geändert, was sich nun in der jüngsten Entscheidung zur Freilassung von Markus H. niederschlägt. Er wirkt vor Gericht nur bedingt glaubwürdig. Auch bei seiner gerichtlichen Einlassung sagte er, trotz der Beteuerung an einem Rechtsextremismus-Aussteiger-Programm teilnehmen zu wollen, nicht vollständig und umfassend aus. Das betrifft zum Beispiel die Beteiligung von Alex S., dessen Aussage vor Gericht noch aussteht. S. war gemeinsam mit H. und Ernst auf Demonstrationen, u.a. 2018 in Chemnitz. Er war außerdem der einzige Chatpartner mit dem die beiden über Threema, eine hochverschlüsselte Nachrichtenplattform, chatteten. In seiner Einlassung vor Gericht wurde Ernst am 9. Prozesstag gefragt, ob er mit S. auch über Walter Lübcke chattete, was dieser mit „Ja“ beantwortete. Auf Nachfragen der Richter_innen erbat sich Ernst ein Gespräch mit seinem Verteidiger Kaplan und gab nach diesem an, seine Chats mit S. seien gänzlich unpolitisch gewesen. Es sei darin nur „um technische Sachen“ gegangen. Journalistische Recherchen ergaben, dass S. auch gemeinsam mit H. Schießtraining im Schützenverein absolvierte. Außerdem telefonierte H. mit S. am 1. Juni 2019 nachmittags, dem Tag der Ermordung Walter Lübckes. Allein diese Verstrickungen sind schon auffällig, ab drei Personen kann man zudem von einer terroristischen Vereinigung ausgehen und diese als solche anklagen. Das allerdings wurde und wird, wie die Freilassung von Markus H. erahnen lässt, in diesem Gerichtsprozess nicht mehr angestrebt. Markus H., der inzwischen als Gefährder eingestuft ist, wurde ermahnt, er müsse weiterhin an allen Verhandlungstagen teilnehmen. Seine Tatbeteiligung wird offensichtlich vom Gericht als gering eingeschätzt und bis jetzt als noch nicht erwiesen gesehen: Keine Beihilfe, keine Mittäterschaft, keine terroristische Vereinigung.

Weder der Gerichtsprozess noch die Ermittlungen haben das Netzwerk und Umfeld der beiden mutmaßlichen Täter aufzudecken versucht. Stattdessen wurde nach dem Fund der DNA-Spur an der Einzeltäterthese festgehalten. Es bleibt abzuwarten, wie Alex S. vor Gericht aussagen wird. Auch der parlamentarische Untersuchungsausschuss, der erst nach dem Ende des Gerichtsprozesses beginnen wird, kann diesen Mythos des Einzeltäters Stephan Ernst noch beeinflussen. Die Vorzeichen durch den juristischen Prozess sind allerdings düster.

Arthur Romanowski und Laura Schilling

 

.*quotes