Blickbeziehungen

Im Prozesssaal sind Ankläger_innen, Verteidiger_innen und Richter_innen gemeinsam in einem Raum anwesend. Das scheint eine simple Feststellung zu sein, leicht gerät sie jedoch aus dem Blick. Darstellung und Aufmerksamkeit fokussieren sich während des Prozesses meist auf die Seite der mutmaßlichen Täter_innen. Die Titelfotos der prozessbeobachtenden Artikel bilden größtenteils nur die Seite der Angeklagten und deren Verteidigung ab. Der Prozess jedoch ist konstituiert durch die ko-präsentische Anwesenheit der beteiligten Akteur_innen. Das Ziel eines Prozesses den Rechtsfrieden nach einem Rechtsbruch zwischen zwei Parteien wiederherzustellen, setzt voraus, dass diese Parteien in formalisierter Weise aufeinandertreffen. Die ko-präsentische Anwesenheit der Verfahrensbeteiligten wird immer dann offensichtlich, wenn formalisierte Regeln gebrochen werden: Wenn jemand, der normalerweise im Saal sein müsste, nicht da ist. Wenn jemand, der normalerweise nicht redet, redet. Wenn Blicke zwischen den Verfahrensbeteiligten nicht in die Richtung gehen, in die alle anderen Blicke sich richten.

Während der Videoprojektionen der ersten Geständnisse schaut Christoph Lübcke, Sohn von Walter Lübcke, den Großteil der Zeit auf die gegenüberliegende Seite. Auch diese Blicke muss Ernst, muss H. spüren. Die Familie Lübcke blickt die Angeklagten immer wieder offensiv an, es ist eine Geste der Stärke. Auch Ahmed I. beweist durch seine Blicke, dass er sich nicht einschüchtern lässt. Die verhandelte Tat bekommt auch durch die Anwesenheit der beschädigten Körper eine tiefere Dimension. Die Fragilität der Körper, die Leiblichkeit der Angriffe wird bewusst, wenn die Familie Lübcke gemeinsam den Gerichtssaal betritt, stehend hinter ihren Sitzen auf das Eintreffen des Gerichtes wartet, sich gleichzeitig setzt und gemeinsam den Gerichtssaal verlässt. Nur selten weicht die Familie von dieser Routine ab. Es scheint auch eine Routine zu sein, um die Unaushaltbarkeit der ko-präsentischen Anwesenheit zu bannen: Sie sitzen während der gesamten Verhandlung den mutmaßlichen Tätern direkt gegenüber. Ahmed I. sieht sich demjenigen Mann gegenüber, der wahrscheinlich seinem Körper Wunden zugefügt hat und ihn töten wollte.

Markus H.s Mimik wird im Verlaufe des Prozesses immer expressiver, er verfolgt aufmerksam das Prozessgeschehen, grinst oder lacht stellenweise. Kontrastiert wird diese eigenwillige Demonstration von Selbstsicherheit durch die Regungslosigkeit und Starre, in welcher Stephan Ernst im Gerichtssaal sitzt. Auch kann das Verhalten von Markus H. durch die ko-präsentische Anwesenheit im Gerichtssaal als Einschüchterungsversuch gelesen werden. Im Verlaufe der Zeug_innenvernehmungen setzt H. sich zweimal um, den Platz zwischen seinen Verteidiger_innen verlässt er und setzt sich einmal an das Kopfende Richtung Publikumssaal neben sie, um sich schließlich an das Ende Richtung Richter_innen zu setzten. Dort sitzt er den Zeug_innen zentraler gegenüber.

 

Die teilweise Veröffentlichung der Vernehmung von Stephan Ernst

Der Prozess in Frankfurt steht unter besonderer Beobachtung: Juristisch ist der Strafprozess ein Staatsschutzverfahren wegen des politischen Charakters der Straftat. Medial erfährt der Prozess erhöhte Aufmerksamkeit, weil ein Neonazi mutmaßlich zum ersten Mal seit 1945 einen Politiker ermordete. Auf dem Gerichtssaal lastet eine besondere Aufmerksamkeit, der Öffentlichkeitsgrundsatz des Gerichtes soll die Zugänglichkeit und Transparenz der Verhandlung garantieren. Doch, dass das Verständnis was zugänglich, was transparent, was öffentlich ist sich unterscheidet, wird offensichtlich an den Bruchstellen, die in diesem Prozess entstehen. Verschiedene Begriffe und Räume der Öffentlichkeit reiben sich aneinander, werden brüchig. Der vorsitzende Richter Sagebiel hat elektronische Geräte im Gerichtsraum verboten, Journalist_innen dürfen nur mit Stift und Papier mitschreiben, zivile Beobachter_innen gar nicht. Dass dies eine unnötige Behinderung der Arbeit von Medienvertreter_innen darstellt,  zeigt auch die  Praxis anderer Gerichte: In der Verhandlung des rassistischen und antisemitischen Attentats in Halle ließ das Gericht zusätzliche Steckerleisten in den Zuschauer_innenraum verlegen, damit Journalist_innen im Raum besser mitschreiben können.

Eine andere Bruchstelle wird an dem Beitrag des Jugendsenders Funk offensichtlich. In diesem Beitrag auf Youtube werden Teile der Geständnisvideos von Stephan Ernst veröffentlicht. Die Journalisten Julian Feldmann und Nino Seidel diskutieren in einem Video unter dem Titel “Exklusiv: Die Vernehmungen des Stephan Ernst | STRG_F” Teile der Geständnisvideos, ordnen sie ein, erklären die bisherigen Ermittlungsergebnisse zur Tat. Viele Youtube-Nutzer_innen äußern sich positiv über die Veröffentlichung, diskutieren in der Kommentarspalte – inzwischen hat das Video ca. 750.000 Aufrufe. Die beiden Autoren begründen die Veröffentlichung des sensiblen Aktenmaterials damit, dass es sich bei den Aufzeichnungen um ein “Dokument der Zeitgeschichte” handele. Viele Gerichtsreporter_innen, aber auch alle Beteiligten am Prozess sprechen sich im Gericht gegen die Veröffentlichung aus, Richter Sagebiel bezeichnet diese als „bedenklich“, der Nebenklagevertreter Alexander Hoffmann nennt sie eine „Sauerei“. Annette Rammelsberger, Journalistin der Süddeutschen Zeitung, antwortet in einem Video zu ihren Bedenken, die eine solche Veröffentlichung haben kann: Neben dem direkten Einfluss auf den Prozess durch die Beeinflussung von Zeugen sei auch die Darstellungsweise des Beitrags problematisch, da sie einer Version der Tat eine Bühne gebe. Jedoch sei vor dem Abschluss des Prozesses nicht endgültig feststellbar, ob diese Darstellung auch der Wahrheit entspreche. Nicht nur allein die Veröffentlichung als solche, sondern auch der Zeitpunkt erscheint als problematisch, denn ein “Dokument der Zeitgeschichte” wäre es ja auch noch Monate nach dem Prozess.

 

Die Öffentlichkeiten des Gerichtssaals

Mediale Öffentlichkeit und justizielle Öffentlichkeit haben unterschiedliche Begriffe. Was die einen Zuschauer_innen aufnehmen und diskutieren, wird von anderen als unzulässig abgelehnt. Die emotionale Wirkung, die Unmittelbarkeit des Videos ist mit der schriftlichen Begleitung des Prozesses durch Medien eben nicht vergleichbar: Kein Bild während der Verhandlung, kein Mitschnitt kann den Saal verlassen. Alles, was im Gerichtssaal passiert, wird nur mündlich oder schriftlich weitergegeben. Und beide Öffentlichkeiten bedingen sich wechselseitig: Was medial berichtet wird, wird im Gerichtssaal besprochen und angeschaut. So geschieht es auch mit dem Strg_F-Video, welches am 11. Verhandlungstag gemeinsam in Augenschein genommen wird. Nach einem Antrag von Ernsts Verteidiger Kaplan wird das Video sogar als Beweismittel in den Prozess eingeführt und von allen Prozessbeteiligten begutachtet. Neben der möglichen Beeinflussung und Vorverurteilung noch zu vernehmender Zeug_innen stellt der Verteidiger Stephan Ernsts Mustafa Kaplan die Frage, ob dadurch nicht die Persönlichkeitsrechte seines Mandanten geschädigt würden.  

An diesem Beispiel treten diskursiv die unterschiedlichen Räume, die Grenzen zwischen Justiz, Gesellschaft und Medien hervor und werden ausgehandelt. Zudem stellt sich die Frage, wie diese Aushandlung in Zukunft aussehen soll. Kameras während der Hauptverhandlung sind, anders als in Amerika, nicht erlaubt, da man um das manipulierbare Bild weiß. Außerdem soll Täter_innen keine Bühne gegeben werden. Auch dieser Aspekt muss an der Veröffentlichung der Geständnisvideos hinterfragt werden. Denn durch das Prozessgeschehen ist inzwischen klar, dass sich Stephan Ernst bewusst im ersten Geständnisvideo selbst inszenierte. Er versuchte seine Beeinflussung durch Videos so auszumalen, dass er als „Psychonazi“ dastehe. Die Abwägung zwischen notwendiger Transparenz von Prozessen und notwendiger Einschränkung von Medialisierung ist dabei eine schwierige Gratwanderung. Prozessbeobachtung ist auch deswegen eine Filterstelle, um Aufmerksamkeitsökonomien zu brechen und trotzdem Aufklärung an der Schaltstelle zum öffentlichen Diskurs voranzutreiben. Selbstdarstellungen und Entlastungsnarrativen von Täter_innen darf nicht der Diskursraum überlassen werden, umfassende Aufklärung, Einordnung und Verhinderung weiterer rechter Gewalttaten sind Anlass antifaschistischer Prozessbeobachtung.

 

Verteidiger Hannig wird entpflichtet

Das geschieht auch durch weitere mediale Akteure. Frank Hannig, Verteidiger von Stephan Ernst, berichtet in eigenen Videos auf Youtube über den Prozess. Er nennt es eine Form der ‚Litigation-PR‘, Prozessbericht sei Teil seines Mandats und sein Mandant habe den Videos auf Youtube zugestimmt. Auch diese mediale Strategie wirkte in den Gerichtssaal hinein und hatte für den Verteidiger weitreichende Konsequenzen.

Es sollte ein ruhiger Verhandlungstag am Montag, den 27.07., werden. Angekündigt war die Verlesung einiger Urkunden, die meisten Pressevertreter*innen kamen erst kurz vor der Vergabe der Platzkarten. Am sechsten Verhandlungstag nach der Sommerpause wird der Prozess gegen Stephan Ernst und Markus H. wiedereröffnet mit der Ankündigung des Richters Sagebiel, ihn hätten einige Anträge der Verteidigung Ernsts erreicht. Hannig stellt verschiedene Ermittlungs- und Beweisanträge, unter anderem solle ein Einbruch im Regierungspräsidium Kassel untersucht werden, mit der Fragestellung, ob dabei auch Dokumente der Firma der beiden Söhne von Lübcke gestohlen wurden. Außerdem fordert er eine Funkzellenabfrage um Wolfhagen-Istha, den Wohnort Walther Lübckes, von zwei Bekannten Stephan Ernsts, die laut Hannigs Angaben möglicherweise die Flucht abgesichert haben könnten. Richter Sagebiel reagiert auf diese Anträge mit der Bewertung sie seien „gequirlter Unsinn“ und fragt, ob Hannig seinem Mandanten schaden wolle, indem Ernst auch noch wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung angeklagt werde. Sagebiel äußert die Sorge, ob Ernst noch gut verteidigt werde. Ernsts zweiter Verteidiger, Mustafa Kaplan, stellt daraufhin klar, die Anträge seien nicht mit ihm abgesprochen. Kaplan entschuldigt sich gegenüber der Familie Lübcke, dass er und auch sein Mandant sie nicht mit Dreck bewerfen wollten. Daraufhin kommt es zu einer kurzen Unterbrechung der Verhandlung. Kaplan besprach sich mit seinem Mandanten. Nach der Pause zieht Hannig zwar seine Anträge zurück, Kaplan verkündet jedoch, dass Stephan Ernst Hannig sein Vertrauen entziehe. Auf Rückfrage von Sagebiel direkt an den Angeklagten bestätigt Ernst im Gericht seinen Antrag auf Entpflichtung Hannigs. Außerdem verkündet Kaplan, Ernst ziehe auch seine gegebenen Vollmachten für die PR-Arbeit von Hannig zurück und kritisiert die Verteidigungsstrategie Hannigs, die nur aus Youtube-Videos zu bestehen scheine. Die Bundesanwaltschaft unterstützt den Antrag auf Entpflichtung. Am folgenden Prozesstag wird der Entpflichtung Hannigs mit den Worten des Gerichts, dass Vertrauensverhältnis zwischen Verteidiger und Mandanten sei endgültig zerstört, stattgegeben. Rechtsanwalt Hannig wird entlassen und der Kanzleipartner von Kaplan, Jörg Hardies, übernimmt sein Mandat.

 

Keine Bühne dem Täter – Rolle der Nebenklage

Am Tag der Entpflichtung von Frank Hannig wird Jan-Hendrick Lübcke, Sohn von Walther Lübcke, in den Zeugenstand gerufen. In seiner Aussage vor Gericht tritt vor Augen, dass die Angehörigen Lübckes eine entscheidende Rolle bei der Aufklärung spielten. Er schilderte den Abend des 1. Juni, an dem im Ort eine Kirmes stattfand. Als er in der Nacht nach Hause zurückkam, wunderte er sich, dass die Tür zur Terrasse noch offen stand, das Licht noch an war. In einem Stuhl auf der Terrasse fand er seinen Vater, Jan-Hendrick Lübcke meinte zunächst, dass dieser eingenickt sei. Als Walter Lübcke auf seine Ansprache und den Versuch ihn aufzuwecken nicht reagierte, rief er den Notruf und begann mit Wiederbelebungsmaßnahmen. Zu diesem Zeitpunkt vermutete Jan-Hendrick noch einen Herzinfarkt. Als die Sanitäter eintreffen, beginnen sie mit weiteren Wiederbelebungsmaßnahmen auf der Terrasse, die erst sehr viel später als ein Tatort erkannt wird. Als die Maßnahmen keine Wirkung zeigen, wollen die Sanitäter zunächst Walter Lübcke nicht mehr ins Krankenhaus bringen, zu lange würde man es schon versuchen. Erst auf Drängen des Sohnes und eines hinzugerufenen Freundes fahren die Sanitäter in ein nahegelegenes Krankenhaus in Kassel. Dort bemühen Notärzte vergeblich weitere Wiederbelebungsmaßnahmen. Als der Tod von Walter Lübcke feststand, drängte die Familie darauf den Todesgrund zu untersuchen. Erst nach dieser Untersuchung wurde der Verdacht eines Herzinfarkts fallen gelassen und ein Polizeibeamter nahm Jan-Hendrick Lübcke zur Seite und berichtete ihm, dass ein „Gegenstand“ im Kopf gefunden wurde.

Jan-Hendrick Lübcke spricht vor Gericht gefasst und ruhig, detailreich berichtet er über den Abend. Eindringlich verdeutlichen seine Worte, dass die Familie immer noch „weit davon entfernt“ sei zu einem Alltag zurückzufinden. Er bekräftigt, dass sie als Angehörige hinter der weltoffenen Haltung Walter Lübckes stehen. Das sei auch der Grund, weswegen die Familie bis heute in ihrem Haus in Wolfhagen-Istha wohne. Jan-Hendrik Lübcke beschreibt, dass natürlich der erste Impuls gewesen sei, alles zu verkaufen und wegzuziehen. Jedoch hätte die Familie im Andenken an Walter Lübcke, sich dafür entschieden zu bleiben. Im Angedenken seiner politischen Haltung wohnen sie also noch bis heute in dem Haus, dass der mutmaßliche Mörder jahrelang ausgespäht hat. Es ist die gleiche Haltung, aus der sie heraus die vollständige Aufklärung im Gericht fordern und aus der sie ein entschiedenes Eintreten gegen menschenfeindliche Aussagen fordern.

Diese Rolle nehmen sie als Nebenkläger im Gericht wahr, sie beteiligen sich an der Aufklärung des Falles, nehmen aktiv an Befragungen teil. Auch die Nebenklage von Ahmed I., Alexander Hoffmann und Björn Elberling, weist immer wieder auf Leerstellen in den Ermittlungen, in den Aussagen hin und ordnet die Taten politisch ein. In ihrer Erklärung zu den im Prozess in Augenschein genommenen Geständnisvideos verdeutlicht Elberling, dass man sich nicht auf die Selbstdarstellung und scheinbare Glaubwürdigkeit Ernsts Aussagen verlassen dürfe, sondern unabhängig davon Informationen sammeln müsse. Die Aussage Ernsts vor Gericht und seiner Angabe, an einem Ausstiegsprogramm teilnehmen zu wollen, konterkarieren sie mit dem Hinweis darauf, dass er dann auch ausführlich zur Aufklärung beitragen müsse und über Kontakte aus der rechten Szene Angaben machen müsse. Nebenklagevertreter der Familie Lübcke, Holger Matt, stellt die Frage: Woraus er denn austreten wolle, wenn er behaupte zur Tatzeit nicht aktiv in der rechten Szene gewesen zu sein? Weiter wird er gefragt, ob es nicht vielleicht seine Angst sei, die ihn von einem vollumfänglichen Geständnis abhalte? Wäre das Aussteigerprogramm also nur Mittel zum Zweck, seine eigene Familie zu schützen? Stephan Ernst lässt diese Fragen zunächst unbeantwortet. Vor allem der Umstand, dass Ernst den Angriff auf Ahmed I. negiere, unterminiere den Eindruck, Stephan Ernst wolle reinen Tisch machen. Denn der rassistische Mord „wird ihm nachgewiesen werden“, so Rechtsanwalt Elberling.

 

Stephan Ernst sagt vor Gericht aus

Stephan Ernst hat nach seinen ersten zwei ‚Geständnissen‘ ein weiteres abgegeben, diesmal vor Gericht. Am 5. August beginnt Ernst seine Einlassung, die im Gesamten fünf Prozesstage einnimmt. In dieser ‚neuen‘ Aussage gesteht er, Walter Lübcke erschossen zu haben, die Tat habe er allerdings gemeinsam mit Markus H. geplant, der auch in der Tatnacht mit am Tatort gewesen sei. Stephan Ernst beginnt seine Einlassung in Form einer schriftlichen Aussage, die sein Rechtsanwalt Kaplan verliest. Seine Biografie stellt er im Licht familiärer Probleme dar, neben dem rassistischen und alkoholkranken Vater erwähnt Ernst eigene politische Straftaten wie den Brandanschlag auf eine Geflüchtetenunterkunft und den Messerangriff auf einen Imam als scheinbare Nebensache. Er entpolitisiert diese Taten und stellt sie als Konsequenz aus eigenen Beziehungsproblemen und dem psychischen Leiden unter den Gewalttaten des Vaters dar. Die fehlende Anerkennung führt so in der Selbstdarstellung zu einer Leerstelle, die Markus H. als Mentor gefüllt habe. Markus H. habe ihn manipuliert, radikalisiert und aufgehetzt. Stephan Ernst spricht sich die Position des handelnden Subjekts ab und fährt die Strategie einer Entpolitisierung seiner Taten.

Nach dieser Verlesung der Aussage beginnt eine detailreiche Befragung, zunächst durch den Strafsenat und die Bundesanwaltschaft, aber auch durch den Nebenklagevertreter der Familie Lübcke, Rechtsanwalt Holger Matt. Diese Befragung ist unter anderem deswegen so wichtig, weil es von der Tatortsicherung nur äußerst wenige Spuren gibt. Eine mögliche Anwesenheit von Markus H. ist nicht durch Spuren am Tatort nachgewiesen, weshalb sich ein Großteil der Fragen um die gemeinsame Planung und Durchführung der Tat dreht. Doch auch hier ändern sich die Aussagen von Stephan Ernst immer wieder. Gibt er in seiner schriftlichen Einlassung noch an, dass der Gebrauch einer Waffe möglich war, ändert sich dies in seiner Vernehmung zur Angabe, dass es auf jeden Fall verabredet gewesen sei, auf Lübcke zu schießen. Der neusten Aussage von Stephan Ernst schenkt die Nebenklage der Familie Lübcke Glauben, sie geht nach dem nun neuen Geständnis mittlerweile von der Anwesenheit von Marcus H. am Tatort aus.

Auch die verschiedenen Geständnisversionen werden in der Befragung thematisiert. Ernst gibt an, dass das erste Geständnis auf Anraten seines damaligen Anwalts Waldschmidt entstanden sei, der ihm geraten habe, die Beteiligung von H. zu verschweigen und die Schuld auf sich zu nehmen. Im Gegenzug sei ihm und seiner Familie Unterstützung der „Gefangenenhilfe“ zugesichert worden. Die zweite Geständnisversion sei auf Anraten seines Verteidigers Hannig entstanden. Der hätte ihm die Strategie nahegelegt, Markus H. schwer zu belasten, um ihn so zur Aussage zu drängen. Beide Anwälte haben dem Angeklagten also zur Falschaussage geraten. Beide wurden von Ernst partiell von ihrer Schweigepflicht entbunden und werden noch als Zeugen in den Prozess geladen und vernommen.

Detailliert wird außerdem das Verhältnis von H. und Ernst thematisiert, Ernst bezeichnet H. als Reichsbürger, der das 25-Punkte-Programm der NSDAP als Leitfaden gesehen habe und NS-Devotionalien sammelte. Ernst gibt an, dass sie zusammen auf der Arbeit aber auch im Schützenverein über Lübcke gesprochen hätten. Auch dabei wird offensichtlich, wie anschlussfähig ihre politische Meinung in ihrem Umfeld war. Gemeinsam sind sie zu Demos gefahren, haben an AfD-Stammtischen teilgenommen. Auch in seiner erneuten Befragung benennt Ernst die Demo und den sogenannten ‚Trauermarsch‘ in Chemnitz 2018 als Auslöser für den Tatentschluss der beiden, Lübcke nicht nur einzuschüchtern, sondern umzubringen.

 

Ein vorläufiges psychologisches Gutachten

Von der Verteidigung Markus H.s will Ernst keine Fragen beantworten. Die Verteidiger_innen Nicole Schneiders und Björn Clemens befragen ihn trotzdem, doch Ernst schweigt. Die Befragungen sind auch durch die oft vorhandene Einsilbigkeit von Ernst zäh. Wegen seiner vielen unterschiedlichen Geständnisversionen forderte die Verteidigung von Markus H. einen Aussagepsychologen an. Diesem Antrag wird bedingt stattgegeben und am 10. Prozesstag präsentiert der beobachtende Psychologe Leygraf eine vorläufige psychologische Einschätzung. In dieser diagnostiziert er keine psychische Krankheit oder Einschränkung bei Stephan Ernst. Außerdem stellt er zur Aussage Ernsts vor Gericht fest, dass ein Teil davon nicht erlebnisbasiert gewesen sei und somit eher aus einer prozessualen Taktik heraus geschehen sei. Diese Einschätzung spielt allerdings auch der Strategie der Verteidigung von Markus H. entgegen, die immer wieder in Stellungnahmen versucht, Stephan Ernst als psychisch gestörten Einzeltäter zu konstruieren und das politische Tatmotiv zu negieren.

Dass Aussagen von Ernst nicht erlebnisbasiert sind, sondern, umgangssprachlich ausgedrückt, gelogen, zeigt auch die Befragung des Senats bezüglich des rassistischen Angriffs auf Ahmed I. Diesen streitet Ernst ab und beantwortet keine Fragen der Nebenklage von Ahmed I. Doch in seinem ersten Geständnisvideo hat Ernst davon berichtet, nach den Ereignissen in der Silvesternacht 2015/2016 in Köln so wütend gewesen zu sein, dass er in einer der darauffolgenden Nächte wutentbrannt Wahlplakate abgerissen habe. Er nennt als Datum den 6. Januar 2016 – welches der Tag des Angriffs auf Ahmed I. war. Auf die Frage des Senats, wie er ausgerechnet auf dieses Datum gekommen sei, gibt Ernst an, ihm sei ein Zahlendreher unterlaufen. Er meinte eigentlich nicht den 06.01. sondern 01.06. – nur wird offensichtlich nach kurzer Recherche des Strafsenats, dass zu diesem Zeitpunkt in Hessen keine Wahl stattfand und daher auch keine Wahlplakate hangen. Wie Ernst auf dieses Datum gekommen ist, ist durch Zufall wohl kaum zu erklären.

Und Stephan Ernst erzählt, dass er mit Markus H. über die Chatplattform Threema chattete. Diese Chats wurden von beiden am Tag nach der Tat gelöscht und sind heute nicht mehr rekonstruierbar.

 

Das Netzwerk des Stephan Ernst

Doch auch noch mit einer weiteren Person chattete Ernst über diese verschlüsselte Nachrichtenplattform: Alex S. Der Name dieses Neonazis war bereits in einer früheren Befragung von Ernst gefallen, in der Ernst angegeben hatte, dass S. von den Gesprächen zwischen Ernst und H. gewusst habe. Die Ermittler fragten an dieser Stelle allerdings nur bedingt nach. In der Befragung vor Gericht stand S. am 9. Prozesstag dann erneut im Fokus. In einem Bericht vom hr ist nachgewiesen worden, dass Alex S. auch Schießtraining mit Markus H. im Schützenverein Sandershausen absolvierte. Wie viel wusste S. von den Tatplänen? Dazu wird Ernst vom Strafsenat befragt. Alex S. war der einzige Chatpartner von Ernst und H. auf der Messengerplattform. Wurde mit ihm auch über Lübcke gesprochen? Ernst bejaht das und bittet danach um eine Pause. Nach dieser Pause und der Besprechung mit seinen Anwälten, zieht er diese Aussage wieder zurück: Man habe nur über technisch-administrative Sachen gesprochen. Thema sei das Studium von S. in Gießen gewesen. Auf mehr will sich der Angeklagte nicht mehr festlegen. Denn würde er S. tatsächlich die Rolle einer Mitwisserschaft zusprechen, könnte die Bundesanwaltschaft die Anklageschrift durch Vorwurf einer terroristischen Vereinigung nach Strafgesetzbuch §129 erweitern. Diese Selbstbelastung hat Ernst im letzten Moment versucht zu umgehen, den Zweifel an dieser Aussage kann er allerdings nicht mehr ausräumen. Und zugleich ist es schon der zweite offensichtliche Widerspruch in seiner Aussage vor Gericht und erhärtet den Verdacht, dass seine Einlassungen nicht reinen Tisch machen, sondern er taktierend immer wieder Sachen zugibt, die zuvor schon nachgewiesen sind oder deren Beweislast erdrückend ist.

Die Verstrickung von S. in die Kommunikation von Ernst und H. aber auch die inzwischen nachgewiesene gemeinsame Teilnahme an AfD-Stammtischen, an Demos etc. verdeutlicht vor Gericht die Einbindung der mutmaßlichen Täter in Netzwerke und Unterstützer_innenkreise. Hinzu kommt auch, dass in der Befragung von Ernst immer deutlicher wird, dass H. und er auch auf der Arbeit und im Schützenverein aus ihren politischen Einstellungen keinen Hehl gemacht haben. Auch an diesen Orten erfuhren sie keinen Widerspruch zu ihren menschenverachtenden Meinungen. Zwei Arbeitskollegen kauften von Ernst Waffen, einer verschaffte Ernst ein Alibi, der andere stand Schmiere während Ernst seine Waffen vergrub. Im Schützenverein sprachen sie auch über die sogenannte Migrationspolitik und die politischen Leitlinien der Regierung Merkel. Das Gefühl, sich zu bewaffnen zu müssen und gegen Lübcke, Merkel etc. zu hetzen war auch hier weit verbreitet und wurde normalisiert. Es wird also deutlich, dass nicht nur Kontakte und Erfahrungen neonazistischer Netzwerke den Grundstein für rechte Gewalt legen, sondern gerade auch die Normalisierung, Duldung und Überschneidungen der ideologischen Grundlagen mit latenten rechten, menschenfeindlichen und antidemokratischen Einstellungen in Teilen der Gesellschaft, die sich mehrheitlich nicht als rechtsextrem sieht.

 

Arthur Romanowski und Laura Schilling

Die beiden Autor_innen geben auch kurze Rekapitulationen der einzelnen Verhandlungstage in Podcastform. Zu finden auf Spotify unter WilsonstrasseFM.

 

Der nächste Prozesstermin findet am 01.10. um 10:00Uhr im Saal 165C, Gebäude C, Konrad-Adenauer Straße 20 statt. Alle Termine hier zu finden

 

 

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