Kritische Theorie und Antisemitismus – Kommentar zu den Adorno-Vorlesungen
Vom 05.07. bis zum 07.07.23 hielt Ilka Quindeau die vom Institut für Sozialforschung (IfS) und dem Suhrkamp Verlag organisierten Adorno-Vorlesungen. Unter dem Titel „Spuren des Anderen“ referierte die Psychoanalytikerin und Soziologin zu einem Thema, das einmal im Innersten der Kritischen Theorie stand: Die Kritik des Antisemitismus.
Im Jahre 1940 schrieb Theodor W. Adorno in einem Brief an seinen Kollegen Max Horkheimer:
„Mir geht es allmählich so, auch unter dem Eindruck der letzten Nachrichten aus Deutschland, daß ich mich von dem Gedanken an das Schicksal der Juden überhaupt nicht mehr losmachen kann. Oftmals kommt es mir vor, als wäre all das, was wir unterm Aspekt des Proletariats zu sehen gewohnt waren, heute in furchtbarer Konzentration auf die Juden übergegangen ist. Ich frage mich, ob wir nicht, ganz gleich wie es mit dem Projekt wird, die Dinge, die wir eigentlich sagen wollen, im Zusammenhang mit den Juden sagen sollten, die den Gegenpunkt zur Konzentration der Macht darstellen.“1
In seinem Brief nahm Adorno vorweg, welch zentrale Rolle die Untersuchung des Antisemitismus für ihre Gesellschaftskritik später spielen sollte. Mit dem angesprochenen „Projekt“ meinte er das sieben Jahre später veröffentlichte Werk Dialektik der Aufklärung, das heute wahrscheinlich bekannteste Werk der Kritischen Theorie. Mit dem Kapitel Elemente des Antisemitismus machten Adorno und Horkheimer die Thematik zur Kernfrage der Kritischen Theorie. Fast alle Theoretiker der ersten Generation der Frankfurter Schule – Adorno, Horkheimer, Marcuse, Löwenthal – widmeten einen Großteil ihrer intellektuellen Anstrengungen der Kritik des Antisemitismus (wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise). Diese inhaltliche Fokussierung ist nur vor ihrem erfahrungsgeschichtlichen Hintergrund zu verstehen: Der Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland, dem Aufenthalt im Exil, der Rückkehr (von zumindest einigen) in die postnazistische Bundesrepublik.2 Die Hinwendung zur Kritik des Antisemitismus wird mit Blick auf die biographischen Erfahrungen der Theoretiker nachvollziehbar, lässt sich aber keineswegs auf sie reduzieren. Antisemitismus war für sie nicht bloß ein gesellschaftliches Phänomen unter vielen, dass es nun wegen der eigenen Bedrohungslage zu untersuchen galt. Der Antisemitismus wurde von ihnen vielmehr zu einem konstitutiven Bestandteil der modernen Gesellschaft erklärt.3 Entsprechend sahen Adorno und Horkheimer im Antisemitismus auch mehr als nur eine Legitimationsideologie des Faschismus. Die „subjekttheoretische Wende der Kritischen Theorie“4 , durch den Bezug auf die Psychoanalyse Sigmund Freuds ist als Versuch zu werten, ein vertieftes Verständnis der modernen Gesellschaft zu gewinnen. Damit grenzte sich die Kritische Theorie von traditionsmarxistischen Analysen ab, die im Antisemitismus bloß eine Ablenkungstaktik der herrschenden Klasse oder einen fehlgeleiteten Klassenkampf sahen. Vielmehr sollten durch die Verbindung von Marx mit Freud die sozialpsychologischen Dynamiken aufgedeckt werden, die in der bürgerlichen Gesellschaft ihren Ursprung finden.
Der autoritäre Charakter
Anwendung fand diese theoretische Verbindung in mehreren empirischen Forschungen zum Autoritären Charakter. Ursprünglich hatte der Sozialpsychologe Erich Fromm – zur Anfangszeit noch festes Mitglied des IfS – den Begriff in den „Studien zur Autorität und Familie“ (1936) geprägt. Sein Begriff des Sozialcharakters bot der Kritischen Theorie eine geeignete Brückenkategorie: Sie beschreibt die der Sozialstruktur entsprechenden Charakterzüge, die sich vor allem durch spezifisch-gesellschaftliche Sozialisationsprozesse herausbilden und übersteigt dadurch die rein individualpsychologische Betrachtung. Mit dem Autoritären Charakter bezeichnete Fromm einen Sozialcharakter, der von einer chronischen Ich-Schwäche geprägt ist.5 Diese führe dazu, dass die inner-psychischen Konflikte gegenüber Schwächeren oder Abweichenden sadistisch nach außen und gegenüber Autoritäten masochistisch nach innen gewendet werden. Der Autoritäre Charakter zeichne sich also durch einen grundsätzlichen Hang zum Gehorsam, zur Aggressivität und zum Destruktionswillen aus, und sei deshalb äußerst anfällig für die faschistische Agitation. In späteren Veröffentlichungen aus dem Kreis des IfS wurde das Konzept immer wieder herangezogen, so etwa auch in der bekannten Studie The Authoritarian Personality6 , oder in dem 1950 an die Exilstudien anknüpfenden Gruppenexperiment.
In der Autoritarismus-Forschung wird sich auch heute noch auf das Konzept des Autoritären Charakters bezogen, wie etwa zuletzt in der von Oliver Nachtwey und Carolin Amlinger veröffentlichten StudieGekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus7 . Dennoch hat die Erforschung des Antisemitismus in den Kritischen Sozialwissenschaften an Zentralität eingebüßt. Nachdem das IfS letztes Jahr in die Kritik geriet, da es mit Linda Martín Alcoff eine Referentin zu den Adorno-Vorlesungen eingeladen hatte, die zuvor mehrere israelfeindliche Initiativen unterstützt hatte, wurden die diesjährigen Adorno-Vorlesungen dem Thema Antisemitismus gewidmet.8 Dafür wurde die Soziologin und Psychoanalytikerin Ilka Quindeau eingeladen, die unter dem Titel „Spuren des Anderen“ eine an Jean Laplanche orientierte psychoanalytische Erklärungsweise des Antisemitismus stark machte.
Antisemitismus und das Andere
Die dreitägige Vorlesungsreihe begann Quindeau mit einer Frage: „Wozu Antisemitismus?“. Damit implizierte sie bereits eine Fokusverschiebung: Quindeau wolle sich weniger die Frage stellen, was Antisemitismus sei, sondern eher, welche Funktion der Antisemitismus einnehme. Dabei bezog sie sich auf die psychoanalytische Verführungstheorie von Laplanche, die von einem Primat des Anderen ausgehe. Laplanche verstehe die Subjektkonstitution als Erfahrungsprozess mit dem Anderen, Äußeren. Durch einen Übersetzungsprozess präge der Erwachsene das Kind mit unbewussten Botschaften, und übertrage damit auch übergenerationale Konfliktdynamiken. Durch diesen Prozess gehe das Andere über das Unbewusste in das Eigene ein. Ambiguitätstoleranz sei das Vermögen mit diesem Anderen im Eigenen umgehen zu können. Wenn der Konflikt zwischen sozialen Anforderungen und unbewussten (Trieb)ansprüchen (als das eigene Andere) nicht gelöst werden könne, komme der Antisemitismus zum Tragen. Adorno und Horkheimer beschrieben diese Konfliktbewältigungsdynamik bereits in der Dialektik der Aufklärung als pathische Projektion: Sie “löse” die inneren Konflikte des Subjekts, indem die eigene unheimliche, inkompatible Fremde nach Außen gewendet werde. So personifizierten Jüd*innen „das Fremde“, sie gelten in der Moderne als „das Andere“, als die Antithese zum naturwüchsigen Volk.
Decken sich einige Überlegungen der klassischen Kritischen Theorie ganz offensichtlich mit denen Quindeaus, grenzt sich die Theoretikerin an anderer Stelle bewusst ab. So etwa bei dem Konzept des Autoritären Charakters: Dieser tendiere zur Pathologisierung des Antisemitismus, da er einzig auf die für den Antisemitismus notwendigen psychischen Dispositionen ziele. Zudem könne er nur manifeste Formen des Antisemitismus erklären. Quindeau beansprucht von ihrem Ansatz aber auch die Erfassung latenter Formen. Sie will zeigen können, dass Antisemitismus eine grundsätzliche Konfliktlösungsstrategie darstellt, der nicht nur autoritäre Charaktere, sondern potenziell alle Subjekte in modernen kapitalistischen Gesellschaften verfallen könnten.
Zur gesellschaftlichen Begründung des Antisemitismus
Quindeaus Versuch, den untergründigen, alltäglichen Antisemitismus theoretisch fassbar zu machen, scheint für eine Gesellschaftskritik durchaus bereichernd sein zu können. Schließlich machen die Persistenz und die Verbreitung antisemitischer Weltbilder eine Analyse notwendig, die sich nicht bloß auf manifeste Formen wie den nazistischen oder islamistischen Antisemitismus verengt. Jedoch muss der kritische Anspruch dieses Ansatzes uneingelöst bleiben, wenn die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen der Antisemitismus als Konfliktlösungsstrategie zum Tragen kommt, nicht näher bestimmt werden. Der Vorteil der klassischen Kritischen Theorie ist es, dass sie diese Bestimmung in die Analyse des Antisemitismus einbindet. Adorno bestimmte diese Bedingungen als warenproduzierende Gesellschaft, in der das Wertgesetz die allgemeine Vermittlungsform darstelle. Durch das Zusammendenken von Marxscher Kritik der politischen Ökonomie mit der Psychoanalyse von Freud, konnte Adorno die Psychologie des Autoritären Charakters gesellschaftlich begründen. Insbesondere in seinem Hauptwerk Negative Dialektik stellt Adorno die Warenform in einen Zusammenhang mit einer spezifischen Denkform: Auf der einen Seite das der Warenform entsprechende Wertgesetz, welches qualitativ unterschiedliche Gebrauchsgegenstände unter den vergleichbaren Tauschwert subsumiere. Auf der anderen Seite eine Identifizierende Denkform, die das Besondere unter allgemeine Kategorien zu stellen trachte. Beide Ebenen – Denk- und Warenform – stehen bei Adorno also in einem wechselseitigen Verhältnis. Versteht man nun das Konzept des Autoritären Charakters vor diesem Hintergrund, bekommt es eine deutlich tiefere Bedeutung. Gesellschaftlich ist er in der warenproduzierenden Gesellschaft begründet. Definiert man den Autoritären Charakter also nicht als pathologische Extremposition, sondern als „Idealtypus moderner Subjektivität“9 , die sich in unterschiedlichen Abstufungen äußern kann, erscheint Quindeaus Abgrenzungsversuch vom Autoritären Charakter weniger überzeugend.
Die Universalität des Antisemitismus
Im letzten Teil der Vorlesung versuchte Quindeau den „Vorwurf des Antisemitismus“ anhand der documenta 15 theoretisch einzuordnen. Dabei bezog sie sich auf einen exemplarischen Artikel der FAZ, in dem der Postkolonialismus für die antisemitischen Darstellungen der documenta 15 verantwortlich gemacht wurde. Quindeaus These: Hinter der affektiven Wucht des Vorwurfs des Antisemitismus (wie er sich in jenem Artikel zeige) stecke selbst eine Form der Projektion. Unbewusste Transmissionen würden dem Anderen (dem Postkolonialismus, dem globalen Süden usw.) zugeschoben werden, um die eigene Ambiguität zu überdecken. Eigene Spuren der Vergangenheit, Schuld- und Abwehrgefühle würden dadurch verdrängt werden. Der Vorwurf des Antisemitismus sei einer wirklichen Kritik des Antisemitismus deshalb abträglich. Wichtiger sei eine Selbstreflektion, die der eigenen Ambiguitätstoleranz nachspüre und den eigenen Antisemitismus wahrnehmen könne. Wie in der Diskussion nach Quindeaus Vorlesung eingewandt wurde, birgt das übermäßige Pochen auf Selbstreflektion jedoch die Gefahr einer einseitigen Standortepistemologie. Sichtbar wurde dies auch im Fall der documenta 15: Mit dem Argument, die indonesische Künstlergruppe Ruangrupa habe eben einen anderen Erfahrungshorizont als die deutsche Öffentlichkeit, wurde der Vorwurf des Antisemitismus lange Zeit abgewehrt. Seine deutsche Ausprägung in ihrer Besonderheit zu kritisieren, schließt allerdings nicht aus, Antisemitismus als globales Phänomen ernst zu nehmen. So universal wie die Warenform heute ist, so universal muss auch der moderne Antisemitismus verstanden werden. Eine an der Kritischen Theorie orientierte Antisemitismuskritik sollte der Totalität der Gesellschaft Rechnung tragen. Notwendigerweise würde das auch eine Kritik des postkolonialen Antisemitismus miteinschließen. Dass der antisemitisch motivierte Hass auf die Universalität heute oftmals nicht mehr direkt auf die Jüd*innen direkt, sondern auf den Staat Israel projiziert wird, kann dabei nicht außer Acht gelassen werden. Wie also zwischen dem unreflektierten Vorwurf des Antisemitismus und der legitimen Antisemitismuskritik (an Anderen) differenzieren? Diese Frage kann wohl nur in der konkreten Auseinandersetzung mit dem bis heute weltweit anhaltenden Antisemitismus beantwortet werden. Fraglich ist nur ob der Rückzug auf die Selbstreflektion dabei ausreichend ist.