Der Hessische Ausschuß der Ostermarschierer hatte in Frankfurt für Samstag, den 27. März, zu einer Protestdemonstration gegen die amerikanische Politik in Vietnam aufgerufen. Kundgebung und Demonstrationszug waren rechtzeitig beim Polizeipräsidium angemeldet worden. Die Genehmigung wurde erteilt, jedoch mit zwei Einschränkungen, wovon eine mindestens gegen das Grundrecht freier Meinungsäußerung verstößt. Die Polizei schrieb mit dem Hinweis auf die Verkehrslage für den Zug einen Weg vor, der an der Peripherie der Innenstadt entlangführt, wodurch die Wirksamkeit dieser Demonstration wie so mancher zuvor erheblich reduziert werden sollte. Man hätte dagegen wenig machen können. Die Polizei machte aber den Ostermarschierern auch politische Auflagen:

»Durch die Demonstranten dürfen die außenpolitischen Belange der Bundesrepublik Deutschland und insbesondere ihre sich aus internationalen Verträgen ergebenden Verpflichtungen nicht gefährdet werden. Eine solche Gefährdung würde eintreten, wenn die Demonstranten durch Wort oder Schrift einseitig gegen eine der am Vietnam-Konflikt beteiligten Parteien Stellung nehmen würden. Es wird Ihnen daher aufgegeben, dieser Lage durch entsprechende Vorbeugung Rechnung zu tragen.«

Dies war ein eklatanter Verstoß gegen das Grundgesetz, den die Veranstalter der Protestkundgebung nicht hinzunehmen brauchten. Sie kündigten an, sich an keine der Auflagen zu halten, weil sie »verfassungswidrig und daher für uns unverbindlich« seien; das Polizeipräsidium ließ dagegen verlauten, die Polizeibeamten hätten Anweisung, eine Mißachtung der Verfügung »mit allen gesetzlichen Mitteln zu unterbinden«.

Damit waren die Fronten für eine kleine Probe auf Demokratie im Notstand abgesteckt. Interessant, welche Rolle die ortsansässige Presse in der vorbereitenden Phase spielte. Die für die klugen Köpfe wollte ebendieselben nicht verwirren und brachte daher keine einzige Zeile über die geplante Demonstration. Ihre Absicht, dieser möglichst wenig Echo zu verleihen, kam noch in dem hinterher an die Beamten im Polizeipräsidium gerichteten Vorwurf zum Vorschein, sie hätten wenig politisches Fingerspitzengefühl gezeigt, mit ihrem Auflagebrief nur den Widerstandswillen der Ostermarschierer kräftig angeheizt und »einer Veranstaltung, die man nicht hochspielen wollte, ein weltweites Echo gegeben« (FAZ vom 30. März 1965). Die Frankfurter Rundschau dagegen rief noch am Freitagabend ihre Leser dazu auf, sich für die Erhaltung der demokratischen Rechte ein zusetzen: »Im Polizeipräsidium soll man den Antragstellern für die Demonstration gesagt haben, jenseits der Zonengrenze sei es ja auch nicht möglich, mit sowjetfeindlichen Parolen zu demonstrieren. Wird von den Frankfurter Behörden etwa eine Angleichung an das totalitäre Ulbricht-Regime angestrebt? Wir wollen aber gerade auf den Unterschied zwischen demokratischer Freiheit und kommunistischer Unfreiheit stolz sein. Sorgen wir dafür, daß wir es auch in Zukunft können« (FR vom 27. März 1965). Ob solche Rede im Ernstfall sogenannten Notstands noch durch die Zensur ginge?

Die Polizei sorgte auch weiter dafür, daß in eine Demonstration gegen die Kriegspolitik der Vereinigten Staaten zunehmend sich Züge einer Demonstration gegen die ungesetzlichen Maßnahmen der Polizei mischten. Den knapp fünfhundert Teilnehmern an Kundgebung und Umzug standen drei Hundertschaften Schutz und Landespolizei gegenüber; Dutzende von Funkstreifen- und Mannschaftswagen, berittene Polizei und ein Ungetüm von Wasserwerfer in der Kulisse schufen bei den Marschierern die letzten psychologischen Voraussetzungen dafür, daß sie bereit waren, nach der Auflösung des offiziell zugelassenen Demonstrationszuges ›wild‹ weiter zu demonstrieren – diesmal in der für sie verbotenen Innenstadt und am amerikanischen Konsulat. Was weder die Plakate noch die Handzettel vermocht hatten: die mehr oder weniger große Gleichgültigkeit der Passanten bei einigen zu durchbrechen, gelang der Polizei. An vier zentralen Stellen griff sie publikumswirksam ein, provozierte Sitzstreiks und Pfui-Chöre. Da waren dann doch auch einige arbeitsam dem Konsumgeschäft nachgehende Bürger empört: einige Polizisten – der Einsatzleiter weigerte sich übrigens, Namen preiszugeben – kamen ihrer professionellen Pflicht und den Befehlen der sie Kommandierenden in einer Weise nach, die es ihnen erlaubte, eine offensichtlich beachtliche Aggressivität abzureagieren. Man konnte bei einzelnen Schlägern derart von der Wut entstellte Gesichter sehen, daß sie – hätte man sie photographiert – ihre Eigentümer später kaum selbst wieder erkannt haben dürften. Allzu viele Beispiele für Unmenschlichkeit einzelner, wenn sie von Amts wegen dazu Gelegenheit erhielten, haben wir in unserer eigenen und in der Geschichte anderer Länder erlebt, um bei solchen Szenen nicht zu erschrecken.

Daß die brutalsten Büttel der herrschenden Ordnung sich aus der Schicht der zumeist Beherrschten rekrutieren – wer weiß das nicht. Aber nur eine hohe Dienststelle dieser Ordnung kann die Anweisung ausgeben: mit allen gesetzlichen Mitteln durchzugreifen. Daran sind schließlich auch diejenigen Beamten gebunden, die ohne besondere Härte lediglich »ihre Pflicht tun«. Ohne es zu wissen, sind natürlich auch sie verlängerter Arm der etablierten Machtverhältnisse. Ob sie sich je Gedanken drüber machten, daß auch in unserer Demokratie stets bei zwar demokratischen aber politisch oppositionellen Kundgebungen erheblich behindernde Polizeiauflagen gemacht werden – nicht Innenstadt, keine Lautsprecherwagen – nicht aber bei solchen, die mit der Regierungspolitik übereinstimmen oder unpolitischer Natur sind?

Für die Polizei schien es sich um nicht mehr und nicht weniger zu handeln als eine Übung. So wie sich der Verteidigungsminister jetzt schon militärische Gerichtsbarkeit wünscht, um im Frieden zu üben für den Ernstfall, so wollen vielleicht auch die Strategen der Schutzpolizei ihre Mittel in ›Friedenszeiten‹ für die Zeit nach der Notstandsgesetzgebung überprüfen. Die Polizei hatte nämlich, wäre dies nicht ihre Absicht gewesen, besser überhaupt nicht eingegriffen. Sie allein hat mit ihren Wagen und Absperrungen den Samstagverkehr behindert statt ihn zu schützen, wie sie vorgab. Der Verkehr gab jedoch für sie die erschwerten Manöverbedingungen ab. Und hätten die Demonstrierenden sich nicht dazu verleiten lassen aus der City heraus zum Konsulat zu ziehen, wo ihnen die leeren Straßen keinen Schutz boten, so hätten für Übungszwecke noch bessere Bedingungen – Tumulte auf der Hauptwache, Wasserwerfereinsatz – geherrscht; diesmal gings mit quergestellten Mannschaftswagen und dem gewöhnlichen Einkreisen und Abdrängen. Wäre es nicht um Einschüchterung und Demonstration von Macht gegangen und um die Probe dazu, warum ließ man nicht die Ostermarschierer mit ihren Plakaten auf der Hauptwache unbehelligt stehen und mit den Menschen diskutieren, die dazu Lust hatten? Zu Tumulten wäre es dabei gewiß nicht gekommen. Vielleicht zu einem Schritt vorwärts zu größerer Selbstverständlichkeit demokratischer Gepflogenheiten.

Der unschuldige Passant, der wissen wollte, was da vorginge, und, weil er auf einer Auskunft insistierte, kurzerhand im Mannschaftswagen abtransportiert wurde; das unbeteiligte Mädchen, das geschlagen wurde; die fassungslose Hausfrau, der die Martinshörner und die rohen Faustschläge, das Getümmel und Handgemenge Angst vor dem »was kommt denn da wieder auf uns zu!« einjagten, und vielleicht noch ein paar der Zuschauer, die sich auf Diskussionen einließen, mögen nachdenklich geworden sein. Aber, und das war das eigentlich Beängstigende an dem ganzen Samstag, von einer spontanen Beteiligung der Passanten, die auf deren Sympathie mit den Parolen der Demonstranten und auf ihre Ablehnung der »polizeilichen Vorkehrungen« hätte schließen lassen, konnte keine Rede sein. Man ließ jene so allein wie damals die Studenten, die sich für den Spiegel auf das Hauptwachenpflaster gesetzt hatten. Dabei konnte diesmal kaum so sehr wie damals das Ressentiment gegen die Intellektuellen, die sonst nichts zu tun haben, eine Rolle spielen: es beteiligten sich Gewerkschaftsjugendliche, junge und ältere Naturfreunde, Hausfrauen geradeso wie Studenten (auch auf gute Rasur hatte man Wert gelegt). Nicht wenigen scheint es einfach ein lustiges, jedenfalls nicht alltägliches Schauspiel gewesen zu sein, wenn Polizisten nach Jugendlichen schlugen, sie jagten oder im Polizeigriff abführten. Die Haltung der Masse der Zuschauer könnte am ehesten mit freundlicher, im Grunde aber gleichgültiger Toleranz bezeichnet werden. Ihnen schien nicht nur Vietnam so weit abzuliegen wie einst das ferne Türkenland, auch die hiesigen, innenpolitischen Verhältnisse und gewisse darin sich abzeichnende autoritäre Entwicklungstendenzen dürften den meisten fremd, unbekannt und unproblematisch erschienen sein. Solch ein gewiß nur oberflächlicher Eindruck beim Beobachten der Reaktionen im zufälligen Publikum einer Demonstration wird durch jüngste Untersuchungen zum politischen Bewußtsein der Deutschen allerdings bestätigt. Zur Politik hat die große Mehrzahl ein indifferentes Verhältnis. Der politische Status quo wird hingenommen, weil und insofern er die einzelnen von Politik verschont, sie in ihrer Privatsphäre nicht stört. Nur wenn unmittelbar konkrete Interessen verletzt werden (bei Arbeitern etwa durch Einschränkung des Streikrechts), ist mit größerem Engagement zu rechnen. Im übrigen aber ist von einem emotionalen Verhältnis der einzelnen zur Politik generell nicht zu sprechen. Bewußt antidemokratisch und dezidiert autoritär verhalten sich wenige. Aber ebenso sind diejenigen eine Ausnahme, die ein kritisch- waches demokratisches Bewußtsein haben. Die Entpolitisierung ist soweit fortgeschritten , daß an die Stelle von Überzeugungen ein unverbindliches Meinen getreten ist, Ausdruck von Hilflosigkeit und Reflex objektiver Ohnmacht.

Will man in den Vorfällen jenes Samstags eine Probe auf die Demokratie im Notstand sehen, so darf man über den unmittelbar Beteiligten, der Polizei und den Protestierenden, nicht dieses Publikum vergessen. Schwer zu sagen, wie es sich verhielte unter weniger gesicherten wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen als sie augenblicklich bestehen. Demagogische Politiker könnten dann wahrscheinlich mit Erfolg Ressentiments für ihre Zwecke ausbeuten und mit Hilfe der unpolitischen Mehrzahl der Bevölkerung demokratische Elemente der Gesellschaftsordnung zerstören. Soweit sich eine Einschränkung demokratischer Rechte jedoch innerhalb einer Entwicklung relativen Wohlstands vollziehen sollte, und dies scheint wahrscheinlicher, ist mit der Apathie der meisten Menschen zu rechnen. Die kleinen politischen Gruppierungen vor allem in den Jugendorganisationen der Parteien und Gewerkschaften und an den Universitäten haben unter diesen Bedingungen zusammen mit einer demokratischen Presse eine Chance, politischen Druck auszuüben und jeden einzelnen auf die Konsequenzen aufmerksam zu machen, die autoritäre Maßnahmen für ihn selbst ganz handfest haben können. Die Mittel sind öffentliche Diskussionen, Resolutionen, Appelle an das Parlament und Demonstrationen. Daß sie erfolgreich sein können, beweist unter anderem auch die eindeutige Distanzierung des Oberbürgermeisters Professor Brundert vom Verhalten der Frankfurter Polizei. Allerdings: wenn die Polizei ihren letzten Großeinsatz in Frankfurt als Übung auffaßte, vielleicht sollten dann auch die Veranstalter und Teilnehmer dieser alles in allem erfolgreichen Demonstration der Ostermarschierer ›Manöverkritik‹ abhalten. Sowohl die Strategie wie vor allem das Bewußtsein davon, was die einzelnen ohne größeres Risiko tun dürfen, scheinen noch unterentwickelt. Überlegungen derart sind legal und demokratisch.

Sebastian Herkommer