Diskus Zionismusgeschichte und Postcolonial Studies: Du beschäftigst dich mit dem Zusammenhang beider Komplexe. Was macht das »uneingestandene Verwandtschaftsverhältnis«1 beider zueinander aus? 

Stefan Vogt Bisher hat es nicht sehr viel Dialog zwischen diesen beiden Feldern gegeben. Das geht bis hin zu gegenseitiger Ablehnung oder gar Feindschaft. Dazu trägt bei, dass ein Großteil der Vertreter_innen der Postcolonial Studies eine antizionistische politische Perspektive einnimmt und von Seiten der Zionismusforschung den Postcolonial Studies oft unterstellt wird, dass sie eigentlich nur eine politische Ideologie vertreten. Das führt dazu, dass es lange Zeit so gut wie keinen und noch immer sehr wenig Dialog zwischen beiden Feldern gibt. Gleichzeitig gibt es Punkte, wo die beiden Felder sich berühren, auch der Hintergrund beider weist eine strukturelle Gemeinsamkeit auf. Die Verbindung zwischen jüdischer Geschichte und Kolonialgeschichte besteht vor allem in Gemeinsamkeiten der Marginalisierungs-, Verfolgungs- und Ausgrenzungserfahrungen von Jüdinnen_Juden und »Kolonisierten«. Das betrifft auch den Zionismus als Teil der jüdischen Geschichte, als spezifisch jüdische Form der Selbstermächtigung, an der man ziemlich große Ähnlichkeiten zu kolonialen oder postkolonialen Formen von Selbstermächtigung und Identitätspolitik feststellen kann. In gewisser Hinsicht lassen sich beide als subalterne Nationalismen verstehen. Das trifft vor allem dann zu, wenn wir den Zionismus nicht nur als Vorgeschichte des Staates Israel betrachten, sondern auch als eine Strategie von Jüdinnen_Juden, sich innerhalb der europäischen nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert neu zu verorten. 

Diskus Was wäre denn durch eine Zusammenarbeit zu gewinnen?

Stefan Vogt Eine der wichtigsten Einsichten der Postcolonial Studies liegt in der Uneindeutigkeit des Kolonialverhältnisses. Damit ist gemeint, dass dieses Verhältnis nicht in einer binären Gegenüberstellung von kolonisierten und kolonisierenden Gesellschaften aufgeht. Diese Einsicht lässt sich meines Erachtens sehr produktiv auf die jüdische Geschichte und die Geschichte des Zionismus anwenden. Dabei können wir sehen, dass die Geschichte des Zionismus in gewisser Weise auch ein Element dieser Uneindeutigkeit des Kolonialverhältnisses ist, da sie beiden Seiten zugeordnet werden kann. Im Zionismus finden wir koloniale, aber auch antikoloniale Elemente. Diese Erkenntnis würde auch den Postcolonial Studies zugutekommen. Ich glaube, dass eine solche Wahrnehmung der jüdischen Geschichte helfen kann, diese Uneindeutigkeit, diese essenzialismuskritische Position innerhalb der Postcolonial Studies zu stärken, indem man die jüdische Geschichte insgesamt und damit auch die zionistische Geschichte als ein Element der Uneindeutigkeit wahrnimmt, thematisiert und analysiert.

Diskus Warum, würdest Du sagen, betrachten die meisten postkolonialen Theoretiker_innen die jüdische Geschichte nicht als Teil ihrer Disziplin?

Stefan Vogt Ich glaube, dass das Nichtthematisieren oder das Nichtaufnehmen von jüdischer Geschichte in das eigene Feld durch die Postcolonial Studies sehr stark politisch motiviert ist. Ein Großteil der postkolonialen Theoretiker_innen bezieht im Nahostkonflikt sehr explizit Partei für die palästinensische Seite. Antikoloniale, subalterne Elemente in der zionistischen Geschichte wahrzunehmen, würden eine solche politische Positionierung erschweren. Ein zweiter Punkt wäre, dass es fast schon so etwas wie eine strukturelle Blindheit in den Postcolonial Studies für den Antisemitismus gibt. Diese wird aber durchaus auch von einer strukturellen Blindheit für Rassismus und koloniale Unterdrückung auf der Seite der Antisemitismusforschung ergänzt. Die Geschichte des Antisemitismus wurde wie die jüdische Geschichte insgesamt zumeist völlig unabhängig von der Kolonialgeschichte und der Geschichte des Rassismus untersucht. Von beiden Seiten wurde der Blick auf mögliche Zusammenhänge vermieden, um die singuläre Bedeutung des eigenen Themas zu betonen.

Diskus Nun wird gerade den Postcolonial Studies immer wieder vorgeworfen, mit eindeutigen Dualismen von Kolonisierten und Kolonisierenden an die Welt heranzutreten. Wie erklärst Du dir das und wo findet sich dann explizit auch die Einsicht über die Uneindeutigkeit, die Du beschreibst? 

Stefan Vogt Ich will vorausschicken, dass es immer schwierig ist, von den Postcolonial Studies als Ganzes zu sprechen, denn das ist ein äußerst heterogenes Feld, das sich über Jahrzehnte entwickelt hat. Darin finden sich unterschiedliche theoretische Hintergründe: zum Teil marxistische, zum Teil poststrukturalistische, zum Teil beides oder auch nichts von beiden. Insofern ist es schwierig, das zu vereinheitlichen. Ich würde jedoch schon sagen, dass die Wahrnehmung der Uneindeutigkeit und der Versuch, die Vereindeutigung durch den Kolonialismus – hier Kolonisierte, dort Kolonisierende – also den Dualismus des Kolonialverhältnisses zu unterlaufen, eine Ausgangsthese der gesamten Postcolonial Studies war. Ich nehme in den letzten Jahren aber eine gewisse Tendenz zu einer Wieder-Vereindeutigung innerhalb der postkolonialen Theorie wahr, die gerade jetzt im Zuge der politischen Auseinandersetzung stärker geworden ist. Das betrifft die Postcolonial Studies nicht per se, sondern stellt eine Art Verfall der Postcolonial Studies dar. Ich denke, dass es möglich ist, an diese ursprünglichen Positionen anzuknüpfen, an diese Absicht der Ent-Vereindeutigung. Bei aller politischen Problematik, denke ich, ist es ein bleibender Verdienst der Postcolonial Studies – auch für die jüdische Geschichte – dass sie deutlich gemacht haben, dass die Kolonialgeschichte nicht nur ein Aspekt der Moderne ist, sondern ein der Moderne zugrundeliegendes Verhältnis darstellt, das alle Aspekte der modernen Geschichte betrifft und damit eben auch die jüdische Geschichte. 

Diskus Hast Du eine Erklärung für die antisemitischen Äußerungen vieler Vertreter_innen des postkolonialen Paradigmas? Würdest Du das auch theoretisch erklären oder anders?

Stefan Vogt Ich weiß nicht, ob ich das theoretisch erklären kann. Ich würde eher sagen, dass diese Tendenzen nicht von vornherein angelegt, sondern dazugekommen sind. Dass sie auch durch politische Einflüsse, durch politische Positionierungen stärker werden, als es früher der Fall war. Es gibt in den Postcolonial Studies Positionen, die sehr viel stärker an alten, antiimperialistischen und traditionsmarxistischen Positionen orientiert sind und darüber schon von Grund auf offener sind für Vereinfachungen, die wiederum anschlussfähig für Antisemitismus sind. Insgesamt würde ich sagen, dass es hier eine Tendenz gibt, die sehr stark politisch motiviert ist und solchen einfacheren theoretischen Positionen wieder mehr Raum verschafft. Kompliziertere Positionen, die stärker auf einer poststrukturalistischen oder auch einer spätmarxistischen oder kritisch-theoretischen Konzeption fußen, werden verdrängt. Es sind vor allem solche Vertreter_innen der Postcolonial Studies, die sich da in erster Linie politisch äußern, die eher diesen einfachen theoretischen Vorstellungen zugeneigt sind. An diese Vereinfachung kann eben auch Antisemitismus anknüpfen. Antisemitische Muster kommen hier zum Tragen wie auch eine Verleugnung des Antisemitismus derjenigen, mit denen man sich in politischen Auseinandersetzungen einlässt. Und wenn das zu einer Rechtfertigung des Antisemitismus führt, dann ist es eben auch selbst antisemitisch. 

Diskus Du argumentierst, dass postkoloniale Konzepte für das Verständnis des Zionismus fruchtbar sein können. Wir haben uns gefragt, wie sich das Verhältnis des Zionismus zur hegemonialen Kultur in Europa, zu Nationalismus und auch zum Antisemitismus konkret besser verstehen lassen, wenn postkoloniale Konzepte dafür angewandt werden.

Stefan Vogt Das ist ein sehr breites Feld, ich greife einen Punkt heraus, nämlich Antisemitismus, das ist ja auch das Schwerpunktthema eures Heftes. Die zionistische Strategie kann man im Sinne der postkolonialen Theorie als Identitätspolitik verstehen. Das bezieht sich auch auf zionistische Strategien gegen den Antisemitismus. Deren Prinzip war es, auf Differenz zu bestehen. Statt zu argumentieren »Wir sind gleich wie die Mehrheitsgesellschaft«, bestand man auf Differenz, in etwa: »Wir sind anders als die Mehrheitsgesellschaft, aber das ist kein Grund, uns als Juden auszugrenzen oder uns als minderwertig zu verstehen«. Das ist die zionistische Strategie der Bekämpfung des Antisemitismus. Diese lässt sich meines Erachtens als eine Form von Identitätspolitik verstehen, wie sie auch in antikolonialen und postkolonialen Minderheitsbewegungen zu finden ist. Wobei wichtig ist, dass in dieser Strategie auch ein essenzialistisches Element enthalten ist. Die Affirmation der eigenen Identität unterstellt eine gewisse essenzialistische Form und teilt damit gewissermaßen auch die antisemitische Vorstellung, dass Jüdinnen_Juden grundsätzlich anders sind als Nichtjüdinnen_juden. Es wurde den Zionist_innen auch von nicht-zionistischen Jüdinnen_Juden sehr scharf vorgeworfen, dass sie damit den Antisemitismus unterstützen würden. Auch das ist ein Element, das wir in antikolonialen Identitätspolitiken finden: diesen Essenzialismus, den man sozusagen zur Waffe machen will, mit all seinen ambivalenten Folgen.

Diskus Hast Du außer dem Begriff der Identitätspolitik noch andere Begriffe oder Theoretiker_innen im Kopf, bei denen Du sagen würdest, dass sie nützlich sind, um einerseits im Nahen Osten Konflikte zu verstehen, die andererseits aber auch dazu dienen können, Kritik zu üben? Es geht ja nicht nur darum zu sagen: »Alle diese Gruppen sind gleichermaßen Unterdrückte und Unterdrückende«, denn dann würde man sich auch die Möglichkeit nehmen, Kritik zu üben und etwa islamistische Terrorgruppen wie die Hamas zu verurteilen. 

Stefan Vogt Ein ganz zentrales Element dieser Kritik an der binären Vorstellung des Kolonialverhältnisses war immer auch die These, dass es keine klare Trennung zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten gibt, dass es ständig Übergänge und Verwischungen gibt, dass der Kolonialismus ironischerweise selbst diese Störungen der Binarität produziert. Was ich meine ist, dass der Kolonialismus einerseits darauf basiert, dass er Binarität schafft, darüber reproduziert er sich. Die Binärität ist sozusagen das Grundprinzip, das zwischen dem Eigenen und dem Fremden, zwischen der kolonisierenden und der kolonisierten Welt trennt. Aber der Kolonialismus unterläuft andererseits diese Trennung selbst. Das ist eine These, die Homi Bhabha stark gemacht hat: Dadurch, dass der Kolonialismus ständig Berührungspunkte zwischen der europäischen und der außereuropäischen Welt schafft, die es in der Form vorher nicht gegeben hat, schafft er genau diese Unsauberkeiten, diese Störungen oder das, was Bhabha dann als den dritten Raum bezeichnet hat. Damit meint er einen Raum, der nicht in der kolonialen Binarität aufgeht. Ich denke, dass der Zionismus ein sehr gutes Beispiel dafür ist. Er ist schließlich eine Bewegung, die auf beiden Seiten des Kolonialverhältnisses verortet werden kann, die koloniale und antikoloniale Aspekte beinhaltet und damit die Vorstellung, dass der Zionismus oder Israel ein koloniales Projekt ist, klar dementiert. Das finden wir in anderen Formen auch im Nahostkonflikt. Ich bin kein Fachmann für islamistische Organisationen, aber man könnte sich die Hamas wahrscheinlich auch in dieser Hinsicht genauer anschauen. Ihre Entstehung basierte sicherlich auf einer Situation der Unterdrückung, sie hat dann aber selbst massivste Unterdrückungsformen entwickelt. Ein anderes klassisches Beispiel wäre die sogenannte islamische Revolution im Iran, die sich gegen ein repressives, von Europa gesponsortes, postkoloniales Regime des Schahs gerichtet hat und dann selbst ein viel krasseres diktatorisches Regime errichtet hat, das die eigene Bevölkerung unterdrückt. Solche Formen haben wir im kolonialen Raum zu Hauf. Damit ist in keiner Weise gesagt, dass die repressiven Elemente im Zionismus mit der menschenverachtenden Ideologie der Hamas oder des iranischen Regimes zu vergleichen sind. Im Unterschied etwa zur FLN in Algerien oder auch zur PLO, und eben auch zum Zionismus, waren dies niemals Befreiungsbewegungen. 

Diskus Du hast gesagt, dass in den Jewish Studies Rassismus untertheoretisiert bleibt, während in den Postcolonial Studies Antisemitismus untertheoretisiert bleibt. Liegt das nicht auch daran, dass es eben zwei strukturell sehr unterschiedliche Phänomene sind, die sich auch mit den jeweils anderen Theorieparadigmen nicht einfach einordnen lassen?

Stefan Vogt Sicherlich ist das ein Faktor. Gleichzeitig würde ich aber betonen wollen, dass auch wenn das sehr unterschiedliche Ideologien sind, mit unterschiedlichen Strukturen und unterschiedlichen Genealogien, es trotzdem ein hohes Maß an Verflechtung gibt. Sowohl historisch, wenn wir uns ansehen, wie sich Antisemitismus und Rassismus entwickelt haben, als auch strukturell-theoretisch. Dass man dafür auch das theoretische Instrumentarium der jeweils anderen Seite braucht, ist es einmal mehr ein Grund, zu sagen: Wir müssen miteinander reden, um dieses Konglomerat verstehen zu können. Also um den Antisemitismus wirklich verstehen zu können, müssen wir Rassismus thematisieren, theoretisch, aber vor allem auch historisch. Und umgekehrt: Wenn wir den Rassismus verstehen wollen, müssen wir Antisemitismus thematisieren und zu verstehen versuchen. 

Diskus Kannst Du ein historisches Beispiel für diese Verflechtung geben? 

Stefan Vogt Wir können uns einen deutschen Fall ansehen. Ganz allgemein gesprochen lässt sich feststellen, dass die Transformation des Antisemitismus in politische Ideologien Ende des 19. Jahrhunderts gleichzeitig stattfindet wie die Entwicklung des biologischen Rassismus. Diese ideologischen Transformationen werden zum Teil auch von denselben Personen durchgeführt. Wir finden auch Institutionen und Organisationen, in denen sich beide Vorstellungen miteinander verknüpfen. Ich habe unter anderem den Alldeutschen Verband dahingehend untersucht. Das war eine der wichtigsten nationalistischen Pressure-Groups im Kaiserreich, die in den 90er Jahren als kolonialer Agitationsverband begonnen hat und dann nach und nach immer stärker zu einer hauptsächlich antisemitischen Organisation geworden ist. Bei dieser Transformation hat sich die Organisation nicht von einer Ideologie zur anderen bewegt, sondern sie hat beide Ideologien miteinander verknüpft. Ein weiteres Beispiel: Es gibt einige Fälle, in denen vonseiten radikaler Nationalisten eine Art Allianz imaginiert wird zwischen Jüdinnen_Juden, Kolonisierten, zum Teil auch osteuropäischen, angeblich minderwertigen Menschen, die nicht jeder für sich, sondern zusammen in einer abgesprochenen konzertierten Aktion die Existenz der deutschen Nation bedrohen würden. Ich glaube vor diesem Hintergrund, dass es sehr wichtig ist, historisch-empirisch darauf zu schauen, wo es wirklich zu diesen realen Berührungspunkten kommt und nicht nur theoretisch zu überlegen, wie sich Antisemitismus und Rassismus zueinander verhalten könnten. 

Diskus Das Thema des Heftes ist vor allem durch die Situation nach dem 7. Oktober entstanden. In diesem Zusammenhang haben wir uns gefragt, ob die Verschärfung der Debatte in dem Feld auch dein Forschungsvorhaben betrifft? Und wenn ja, hat sich seitdem auch etwas an deinem Blick auf das Zusammenwirken von beiden Disziplinen oder Forschungsbereichen verändert? 

Stefan Vogt Ja, ich würde schon sagen, dass diese Tendenz, die es innerhalb der Postcolonial Studies gibt – hin zu einer Vereinfachung, Vereindeutigung, auch Essenzialisierung, zur Widererrichtung einer dichotomischen Sicht auf den Kolonialismus –, dass sich das seit dem 7. Oktober noch einmal deutlich verstärkt hat. Das hat bei einigen Vertreter_innen der Postcolonial Studies auch zu recht unappetitlichen Konsequenzen geführt, die sich dann in der Legitimierung oder manchmal sogar Bejubelung des antisemitischen Massakers der Hamas ausdrücken. Zum Beispiel gibt es eine Erklärung von Lehrenden der Columbia University, die unter anderem von sehr bekannten postkolonialen Theoretiker_innen wie Gayatri Spivak und Partha Chatterjee und einigen anderen unterschrieben worden ist. In der Erklärung beziehen sich die Unterzeichner_innen auf das Massaker als berechtigen Aufstand. Diese Art von Legitimierung eines ganz offensichtlich antisemitischen Ereignisses, gestützt von einer eindeutig antisemitischen Vorstellungswelt, macht es schwierig, wenn nicht gar unmöglich, mit Leuten, die das vertreten, in Zukunft wissenschaftlich oder gar politisch irgendwie zusammenzuarbeiten. Und das ist natürlich ein großes Problem für jemanden, der wie ich gerade auf die Zusammenarbeit setzt. Ich würde dennoch sagen, dass man differenzieren muss, denn es geht meiner Meinung nach nicht um alle Vertreter_innen der Postcolonial Studies oder das Feld insgesamt, weil es einfach viel zu heterogen ist, um es so einer Charakterisierung zu unterziehen. Es betrifft meines Erachtens auch nicht die durchaus richtigen Einsichten, die selbst diese Leute, die jetzt solche Positionen vertreten, einmal gehabt haben. Man muss sich jeweils anschauen, ob da nicht auch schon Ideen drinstecken, die für Antisemitismus anschlussfähig sind. Grundsätzlich würde ich aber nicht behaupten, dass mit einer völlig inakzeptablen politischen Positionierung nach dem 7. Oktober zugleich jede Arbeit einer Person disqualifiziert ist – sodass man beispielsweise nicht mehr Spivak lesen sollte. 

Diskus Wie sieht deine weitere Forschung aus? Du hattest Ende Juni deine Antrittsvorlesung als Apl.-Professor für jüdische Geschichte. Was kommt als nächstes?

Stefan Vogt Wie viele andere auch habe ich trotz meiner außerplanmäßigen Professur das Problem, prekär, nicht dauerhaft beschäftigt und auf Projektmittel angewiesen zu sein. Was unter anderem auch bedeutet, dass ich nicht immer das machen kann, was eigentlich meinem eigenen Forschungsinteresse entspricht. Ich arbeite derzeit in einem Projekt zur jüdischen Geschichte Hessens namens »Synagogen-Gedenkbuch Hessen«, versuche aber nebenher, soweit es geht, meine Interessen an der Verflechtung von jüdischer Geschichte und Kolonialgeschichte und von Jüdischer Geschichte und Postcolonial Studies weiterzuverfolgen. Hier würde mich jetzt eigentlich auch gerade vor dem Hintergrund der politischen Entwicklung besonders interessieren, ob es nicht auch produktive Thematisierungen von Antisemitismus, von Nationalsozialismus generell, von der Shoah speziell, aus dem weiten Feld der Postcolonial Studies gibt oder geben kann. Aber ich komme, wie gesagt, aufgrund der beruflichen Situation kaum dazu, weil mich das Synagogen Projekt praktisch komplett absorbiert. Es ist allerdings auch ein sehr spannendes Projekt, das ich gerne mache. Ich organisiere beispielsweise in diesem Kontext gerade eine Konferenz, die wir im Dezember durchführen, zur Geschichte des alltäglichen Antisemitismus. Insofern gibt es dann auch Berührungspunkte zu meinen eigenen Themenfeldern. 

Diskus Auf der Webseite der Martin-Buber-Professur wird bereits ein weiteres Projekt zum Verhältnis der Postcolonial Studies zur Shoah und der Erinnerung an die Shoah angekündigt. Wie blickst Du jetzt auf dieses Projekt und was steht dabei potenziell als nächstes an? 

Stefan Vogt Das Problem ist wie gesagt, dass ich bisher nicht dazu kam, mich da tiefer einzuarbeiten. Aber zur Frage, wie ich aufgrund der aktuellen Situation darauf blicke: Ich glaube, dass es nötiger denn je ist, sich dem Thema zuzuwenden, denn ich habe das Gefühl, dass es auch für die Forschung zur jüdischen Geschichte einen extremen Verlust darstellt, wenn wir uns aufgrund der politischen Entwicklungen die Postcolonial Studies nicht mehr angucken würden. Und gerade dann finde ich es besonders interessant zu schauen, ob es in dem Feld, wo das Problem am stärksten zu Tage tritt, nicht auch positive Anknüpfungspunkte geben könnte oder sogar gibt. Das ist der Hintergrund, wieso ich dieses Projekt sehr gerne machen und mich damit auseinandersetzen würde, auch mit der ganzen Kritik an den Postcolonial Studies, die es in den letzten Monaten, aber auch vor dem 7. Oktober schon gab. Dabei stellt sich auch die Frage, inwieweit die Kritik tatsächlich gerechtfertigt ist und wie sie gegebenenfalls auch differenziert werden müsste. Das ist tatsächlich das Projekt, das mir gerade am Herzen liegen würde, wenn ich die Zeit dafür hätte. 

Diskus Im Rahmen des sog. Historikerstreit 2.0 sind die Postcolonial Studies in Zusammenhang gebracht worden mit einer Relativierung der Shoah. Warum sagst du, möchtest Du gerade in diesem Feld nach positiven, produktiven Anknüpfungspunkten für die Holocaustforschung suchen? Und fallen dir dazu schon konkrete Dinge ein, bei denen Du sagst, hier passiert etwas Interessantes, was nicht auf eine Relativierung hinausläuft?

Stefan Vogt Bisher konnte ich aus Zeitgründen noch nicht tiefer in dieses Forschungsfeld einsteigen. Mit dem Buch von Michael Rothberg über multidirektionale Erinnerung habe ich mich aber ausführlicher auseinandergesetzt. Ich denke, dass das Buch spannende Ansätze liefert. Auch wenn man vielleicht einiges von dem, was er danach geschrieben hat, kritisieren mag, ist seine Grundthese, dass die Erinnerung an Kolonialismus und an die Shoah nicht in einem Konkurrenzverhältnis zueinanderstehen müssen, sondern sich durchaus unterstützen könnten, meines Erachtens richtig. Sie widerspricht auch in keiner Weise der Erkenntnis von der Einzigartigkeit der Shoah. Wenn man diese Einzigartigkeit nicht als rein metaphysische Qualität begreift, sondern als Ergebnis einer spezifischen historischen Konstellation, so wird sie durch eine Kontextualisierung, wie sie Rothberg unternimmt, sogar noch untermauert. Die Konkurrenz zwischen den Erinnerungen an die Shoah auf der einen und die Kolonialverbrechen auf der anderen Seite ist eine der Ursachen dafür, dass sich auch die Kämpfe gegen Antisemitismus und Rassismus in einem Konkurrenzverhältnis befinden. Das halte ich für eine politisch geradezu fatale Situation, die man unbedingt überwinden muss, wenn man in der Lage sein will, den massiven Rechtstendenzen und dem politischen Erfolg rechtspopulistischer Bewegungen überall in der Welt entgegenzutreten. Diese sind zumeist sowohl antisemitisch als auch rassistisch und ihnen ist daran gelegen, genau dieses Konkurrenzverhältnis zu nutzen, um beide Kämpfe gegeneinander auszuspielen. Das darf man meines Erachtens nicht zulassen. Und dazu kann eine Forschung, die auf den Zusammenhang von Antisemitismus und Rassismus und von jüdischer Geschichte und Kolonialgeschichte schaut, einiges beitragen.