Moishe Postones Aufsatz »Antisemitismus und Nationalsozialismus« umfasst zwar lediglich 30 Seiten, lieferte aber wichtigere Impulse für linke Debatten als unzählige Bücher und Studien. Antisemitismus interpretiert er im Kontrast zu verbreiteten linken Auffassungen nicht als Variante des Rassismus, sondern als Ausdruck eines reaktionären Antikapitalismus.

Im Vorwort zur Sammlung von Postones Aufsätzen schrieb die herausgebende initiative kritische geschichtspolitik: »Die Kritik an Nation, Volk und romantischem Antikapitalismus, in den bewegungsarmen neunziger Jahren regelmäßig Gegenstand kontroverser Debatten, wurde zum lähmenden Ballast, als es galt, die globalisierten Massen zu agitieren. (…) Gegen diesen Trend der Vergangenheitsentledigung soll die Veröffentlichung von Aufsätzen und Kommentaren von bzw. Interviews mit Moishe Postone eine Ermutigung sein, die kritische Reflexion über Normalität und Anormalität Deutschlands und seiner Vergangenheit wieder aufzunehmen.«1 Postones Aufsatz »Antisemitismus und Nationalsozialismus« beeinflusste die Debatten von Teilen der radikalen Linken und ihrer Kritik an den deutschen Zuständen in den 1990er Jahren, sowie die Kontinuitäten des Postnazismus. Mitte der 2000er Jahre wurde mit der Veröffentlichung von Postones Schriften die Hoffnung verbunden, den »Diskussionsstand der neunziger Jahre nicht in Vergessenheit geraten zu lassen und zugleich Anstöße für weiterführende Debatten zu geben.«2 Diese Hoffnung hat auch zwanzig Jahre später wenig an Gültigkeit verloren.

Biographie und Werk

Moishe Postone wurde 1942 im kanadischen Edmonton geboren. Seine Eltern waren beide jüdischer Herkunft und stammten aus Osteuropa, der Vater war ein Rabbiner aus Litauen, die Mutter kam aus der Sowjetunion. Ein Großteil der Familien der Eltern wurde von den Nazis ermordet. Postone studierte in den 1960er Jahren in Chicago, erst Biochemie, dann Geschichte. In den 1970er Jahren lebte er in Frankfurt am Main und promovierte 1983 bei Iring Fetscher und Heinz Steinert. Seit den 1980er Jahren lehrte Postone Geschichte an der Universität Chicago. Er starb 2018.

Die umfangreichste Veröffentlichung Postones ist Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft.Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Karl Marx und basiert auf seiner Dissertation. In überarbeiteter Version erschien diese 1993 in englischer Sprache, 2003 in deutscher Übersetzung. Basierend auf einer erneuten Lektüre des Spätwerks von Karl Marx – besonders des Kapital und der Grundrisse – entwickelte er eine Kritik des traditionellen Marxismus der Sozialdemokratie des 19. und 20. Jahrhunderts wie des Marxismus-Leninismus des Parteikommunismus in Tradition der Kommunistischen Internationale des 20. Jahrhunderts. Anstelle einer Kritik des Kapitalismus vom Standpunkt der Arbeit entwarf Postone eine kritische Analyse der Arbeit im Kapitalismus.3 Postone formulierte damit eine Marxinterpretation, die in vielen Punkten Parallelen zur Neuen Marx-Lektüre aufweist.4 Resonanz erfuhren seine Marxlektüre und Arbeitskritik auch in den wertkritischen Zeitschriften Krisis und Exit.5

Neben seiner Auseinandersetzung mit der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie beteiligte sich Postone immer wieder an Diskussionen der deutschen Linken. Unter Pseudonym veröffentlichte er 1977 eine Kritik am bewaffneten Kampf der Stadtguerillagruppe Rote Armee Fraktion (RAF) und ihrem Antiimperialismus.6 Wenig später erschien 1979 sein wohl bekanntester Aufsatz, »Antisemitismus und Nationalsozialismus«. Mitte der 1980er Jahre verfasste er einen Brief an die westdeutsche Linke anlässlich des Staatsbesuchs des US-amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan 1985. Gemeinsam mit dem deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl besuchte Reagan den Soldatenfriedhof in Bitburg, auf dem auch Angehörige der SS begraben liegen. Der Friedhofsbesuch und die Kranzniederlegung 40 Jahre nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht illustrierte einen Akt der Versöhnung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Postone kritisierte seine deutschen Genoss_innen dafür, dass »Hunderttausende bereit sind, gegen den amerikanischen Imperialismus zu demonstrieren, aber nur ein paar Hundert gegen die Rehabilitation der Nazi-Vergangenheit«.7 Unter seinen weiteren politischen Debattenbeiträgen sind besonders seine Thesen zum historischen Wandel des Internationalismus und Antiimperialismus hervorzuheben, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts einen kritischen Kommentar zu damaligen linken Mobilisierungen darstellten.8 Postones Aufsatz »Antisemitismus und Nationalsozialismus« erschien erstmals 1979 in der Frankfurter Student_innenzeitung diskus, kurz darauf 1980 in der amerikanischen Zeitschrift New German Critique.9

Antisemitismus und Nationalsozialismus 

»Keine Analyse des Nationalsozialismus, die nicht die Vernichtung des europäischen Judentums erklären kann, wird ihm gerecht.«10

Postones Aufsatz »Antisemitismus und Nationalsozialismus« umfasste zwar lediglich 30 Seiten, lieferte aber wichtigere Impulse für linke Debatten als unzählige Bücher und Studien. Der Text bot eine neue Interpretation von Antisemitismus, Antikapitalismus und Nationalsozialismus. Postone kritisierte eine verbreitete linke Interpretation der nationalsozialistischen Herrschaft als simplen Ausdruck von Klassenherrschaft und Antikommunismus und betonte die zentrale Rolle des Antisemitismus und der Vernichtung des europäischen Judentums für das Verständnis des Nationalsozialismus. Antisemitismus interpretierte er im Kontrast zu verbreiteten linken Auffassungen nicht als Variante des Rassismus, sondern als Ausdruck eines reaktionären Antikapitalismus. Postones Thesen lieferten wichtige Anregungen für eine kritische Analyse von Nationalsozialismus und Antisemitismus, aber auch von antiemanzipatorischen Formen des Antikapitalismus und eines Antisemitismus von links – sowohl historisch wie aktuell.

1979 wurde die vierteilige TV-Miniserie Holocaust aus den USA in Deutschland im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gesendet. Die Einschaltquoten waren hoch, es folgte eine umfangreiche gesellschaftliche Debatte um die nationalsozialistische Vergangenheit. Die politischen Diskussionen waren nach Postone von auffallenden Mängeln gekennzeichnet: Während liberale und konservative Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus sich auf die Verfolgung und Vernichtung der Juden konzentrierten, betonten sie einen Bruch zwischen dem Nationalsozialismus und der Bundesrepublik und vermieden eine Auseinandersetzung mit Kontinuitätsfragen. Linke Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus wiederum betonten die Kontinuität von Nationalsozialismus und Postnazismus, der linke Fokus lag dabei auf der Funktion des Nationalsozialismus für den Kapitalismus, der Zerschlagung der Arbeiter_innenklasse, der kriegerischen Expansion etc. Für das linke Verständnis des Nationalsozialismus stellte Antisemitismus kein zentrales Moment dar. Wenn Antisemitismus thematisiert wurde, dann meist als Vorurteil und Diskriminierung. Linke teilten dabei mit Liberalen ein »Verständnis von modernem Antisemitismus als antijüdischem Vorurteil, als besonderem Beispiel für den Rassismus im Allgemeinen.«11

Solche Auffassungen waren auch eine Folge des damaligen Zustandes der deutschen historischen Forschung und nur begrenzt zugänglicher kritischer Analysen sowie verzögerter Literaturübersetzungen ins Deutsche. Die Geschichtsschreibung zum Nationalsozialismus war in den 1950er und 1960er Jahren von einer sehr konservativen Haltung geprägt, woraus große Schwierigkeiten bei der Veröffentlichung kritischer Studien resultierten. Ehemalige Mitglieder der NSDAP sowie Schüler von nationalsozialistischen Historikern bescheinigten sich selbst ungeniert Objektivität, während sie jüdischen und antifaschistischen Autoren, die der nationalsozialistischen Verfolgung im Exil entgangen waren, Ressentiments und Unsachlichkeit unterstellten.12 Der jüdische Historiker Joseph Wulf resümierte in einem Brief von 1967: »Ich habe hier 18 Bücher über das Dritte Reich veröffentlicht, und das hatte alles keine Wirkung. Du kannst Dich bei den Deutschen totdokumentieren, es kann in Bonn die demokratischste Regierung sein – und die Massenmörder gehen frei herum, haben ihr Häuschen und züchten Blumen.«13 Studien zur Geschichte des Nationalsozialismus und seines Antisemitismus, die heute als Standardwerke gelten – wie beispielsweise die Arbeiten von Raul Hilberg und Leon Poliakov – waren in der Nachkriegszeit lange mit erheblichen Problemen bei der Veröffentlichung konfrontiert: Die Verlagssuche war mit zahlreichen Absagen verbunden, die Übersetzungen erschienen erst etliche Jahre nach dem Erscheinen im Original. Hilbergs mehrbändiges Werk Die Verfolgung und Vernichtung des europäischen Judentums wurde 1961 in den USA veröffentlicht, die deutsche Erstausgabe erschien nach negativen Gutachten deutscher Historiker des Münchner Instituts für Zeitgeschichte und damit verbundenen Verlagsabsagen erst 1983. Leon Poliakovs Arbeit Vom Hass zum Genozid. Das Dritte Reich und die Juden erschien bereits 1951 in Frankreich, seine achtbändige Geschichte des Antisemitismus gilt als Standardwerk der internationalen Antisemitismusforschung. Die deutsche Erstveröffentlichung von Vom Hass zum Genozid erfolgte jedoch erst 2021 und genießt keineswegs die gleiche Aufmerksamkeit und Anerkennung wie in anderen Ländern.14

Linke Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus

Die Linke nach 1945 war vor allem durch die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) und die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) geprägt. Der KPD gelang es nach dem Ende des Nationalsozialismus nicht, an ihre Erfolge aus der Weimarer Republik anzuknüpfen. Autoritäre Strukturen und stalinistische Positionen sorgten für ihren Bedeutungsverlust innerhalb der Linken und ihre Orientierung an der DDR und der Sowjetunion isolierte sie im politischen Klima der Blockkonfrontation. 1956 wurde die KPD verboten. Die SPD vollzog mit dem »Godesberger Programm« von 1959 einen Wandel von einer bislang sozialistischen Arbeiter_innenpartei zur Volkspartei. Mit ihrem Bekenntnis zur Marktwirtschaft verabschiedete sie sich von der Idee einer sozialistischen Alternative zum Kapitalismus. Seit Ende der 1950er Jahre entwickelte sich daraufhin die Neue Linke um Organisationen wie den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) und Zeitschriften wie Argument und konkret

Großen Einfluss auf das kommunistische Verständnis des Nationalsozialismus hatte lange Georgi Dimitroffs Definition des Faschismus als »offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals.«15 Diese Interpretation ist in vielerlei Hinsicht problematisch, denn sie gab weder überzeugende Antworten zur Frage der massenhaften Zustimmung der deutschen Bevölkerung zum Nationalsozialismus und dem Ausbleiben eines relevanten Widerstands, noch beschäftigte sie sich mit zentralen ideologischen Momenten wie Antisemitismus und Volksgemeinschaft. Andere Analysen, beispielsweise die Arbeiten der Kritischen Theorie zum Nationalsozialismus, wurden in der traditionellen kommunistischen Linken wenig zur Kenntnis genommen. Davon unterschieden sich die Diskussionen der Neuen Linken: Besonders im SDS und um die Zeitschrift Argument gab es in den 1950er und 1960er Jahren eine rege Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Als Beispiel lässt sich die »Aktion Ungesühnte Nazijustiz« nennen, die zu nationalsozialistischen Tätern in der Justiz recherchierte und zahlreiche Biographien weiter unbehelligt an deutschen Gerichten arbeitender Nazis der Öffentlichkeit präsentierte. Der SDS unterstützte diese Initiative Reinhard Streckers.16 Die Zeitschrift Argument veröffentlichte in den 1960er Jahren eine mehrteilige Heftreihe zum Thema Faschismustheorien. Zahlreiche Beiträge beschäftigten sich explizit mit dem Nationalsozialismus, der als deutsche Variante eines umfassenderen politischen Phänomens Faschismus verstanden wurde. Die Besonderheit des Nationalsozialismus gegenüber anderen faschistischen Bewegungen, die Verfolgung und Vernichtung des europäischen Judentums, wurde damit jedoch nicht erfasst. 

Die Kritischen Theoretiker des Instituts für Sozialforschung (IfS) zählten zu den Ersten, die die Bedeutung des Antisemitismus für ein kritisches Verständnis des Nationalsozialismus benannten. Im Exil in den USA entstanden neben den Studien zum autoritären Charakter auch die »Elemente des Antisemitismus« aus der Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Bevor der Text in den 1960er Jahren erneut veröffentlicht wurde, kursierte er bereits als Raubdruck. Die Arbeiten der Kritischen Theorie waren in den Diskussionen der Neuen Linken durchaus bekannt. Vor allem in Frankfurt gab es nach der Rückkehr von Horkheimer und Adorno an die dortige Universität und den Wiederaufbau des Instituts für Sozialforschung einen intensiven, wenn auch nicht konfliktfreien Austausch mit den linken Studierenden. 

Die Diskussionen um Nationalsozialismus und Antisemitismus beschränkten sich jedoch auf kleine Zirkel innerhalb der Linken. Spätestens 1967/68 wurden andere Themen bedeutsamer: Anstelle von Antifaschismus und der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und postnazistischen Kontinuitäten prägten verstärkt Internationalismus und Antiimperialismus die Debatten und Kampagnen der Neuen Linken. Wichtige Ereignisse waren dabei besonders der Vietnamkrieg (1955–1975) und der Sechstagekrieg zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn 1967.17

Internationalismus und die antizionistische Wende der deutschen Linken 

Internationalismus und die Unterstützung antikolonialer Kämpfe um nationale Befreiung von kolonialer Herrschaft wurden in den 1960er Jahren bedeutende Themen in der Neuen Linken weltweit. Ein zentrales Ereignis für die westdeutsche Neue Linke war dabei der Vietnamkongress 1968 in Berlin. Bereits zuvor hatte 1967 der Staatsbesuch des persischen Schahs zu linken Massenprotesten und der Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg geführt.18 Wenige Tage später kam es vom 5.–10. Juni 1967 zum Sechstagekrieg in Israel. Anlass waren Provokationen wie die Schließung wichtiger Schiffsrouten im Roten Meer für die israelische Schifffahrt durch Ägypten und der ägyptische Truppenaufmarsch an der israelischen Grenze. Israel kam mit einem Präventivschlag befürchteten Angriffen der arabischen Nachbarstaaten zuvor und besiegte die Armeen von Ägypten, Jordanien und Syrien. Dabei eroberte die israelische Armee Gaza, das Westjordanland und Ostjerusalem, den Golan sowie die Sinaihalbinsel. Der Sechstagekrieg markiert eine antizionistische Wende der westdeutschen Linken. Nach der Staatsgründung Israels 1948 existierte innerhalb der Sozialdemokratie, den Gewerkschaften und der entstehenden Neuen Linken eine proisraelische Haltung. Die israelische Kibbuzimbewegung genoss große Sympathie, der SDS setzte sich mit anderen für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Israel sowie für »Wiedergutmachungszahlungen« an jüdische Opfer des Nationalsozialismus und ihre Angehörigen ein. Von diesen Positionen und Initiativen verabschiedete sich 1967 ein Großteil der Linken und positionierte sich seitdem propalästinensisch. Schon bei der Beurteilung des Vietnamkrieges wurde die internationalistische Haltung mit der Theorie des Antiimperialismus verbunden. Imperialismus wurde als aggressives Streben nach Macht über die eigenen staatlichen Grenzen hinaus verstanden. In Vietnam stand demzufolge der imperialistischen Aggression der USA der antiimperialistische Widerstand des Vietkongs gegenüber. 

Der Antiimperialismus war häufig durch ein manichäisches Weltbild gekennzeichnet, das klar in Gut und Böse unterscheidet und damit politische Ambivalenzen und Widersprüche ausblendete. Im Nahen Osten wurde der Konflikt als Konfrontation zwischen Israel als imperialistischer Macht und dem arabischen Antiimperialismus gesehen und Israel nicht länger als Staat der Überlebenden der Shoa betrachtet. Die proisraelische Berichterstattung der Boulevardzeitung Bild oder der Tageszeitung Die Welt – mit ihrer teilweise problematischen Verwendung von »Blitzkrieg« und anderem Nazivokabular – führte verstärkend zu einer linken Ablehnung israelfreundlicher Positionen, nachdem die Medien des Verlegers Axel Springer bereits zuvor aufgrund ihrer ablehnenden Haltung gegen die studentischen Proteste ein Feindbild vieler linker Gruppen geworden waren.

Die Unterstützung der palästinensischen Befreiungsbewegung einte nach 1967 die Neue Linke bei all ihren sonstigen Differenzen und Streitigkeiten. Vor allem bewaffnete Gruppen knüpften enge Kooperationen mit palästinensischen bewaffneten Guerillagruppen. In deren Camps im Nahen Osten erfuhren sie militärische Ausbildung und deutsche Linke unterstützten oder befürworteten terroristische Anschläge palästinensischer Kommandos in Deutschland und anderswo. Zur Illustration sind drei Beispiele genannt: der gescheiterte Anschlag auf das jüdische Gemeindezentrum in Berlin 1969; die Geiselnahme des israelischen Sportteams während der Sommerolympiade 1972 in München und die Flugzeugentführung 1976 nach Entebbe.19

Am 9. November 1969 wurde im jüdischen Gemeindezentrum in Berlin eine Bombe deponiert. An diesem Abend fand dort eine gut besuchte Gedenkveranstaltung an das nationalsozialistische Pogrom vom 9. November 1983 statt. Glücklicherweise detonierte die Bombe nicht. Die Berliner Tupamaros, eine Vorläufergruppe der Bewegung 2. Juni, bekannten sich zum geplanten Anschlag mit folgender Erklärung in der linken Zeitschrift agit 883: »Der wahre Antifaschismus ist die klare und einfache Solidarisierung mit den kämpfenden Feddayin. (…) Jede Feierstunde in Westberlin und in der BRD unterschlägt, dass die Kristallnacht von 1938 heute täglich von den Zionisten in den besetzten Gebieten, in den Flüchtlingslagern und in den israelischen Gefängnissen wiederholt wird. Aus den vom Faschismus vertriebenen Juden sind selbst Faschisten geworden, die in Kollaboration mit dem amerikanischen Kapital das palästinensische Volk ausradieren wollen.«20

Die Erklärung illustrierte wichtige Themen eines Antisemitismus von links: Die Umkehr von Opfern und Tätern, den Vergleich Israels mit dem Nationalsozialismus inklusive der Dimension der Vernichtung. Die Aktion verdeutlichte zudem die Bereitschaft deutscher militanter Linker, in ihren Taten nicht vor der Ermordung jüdischer Menschen zurückzuschrecken.

Drei Jahre später feierte die RAF die Geiselnahme des israelischen Sportteams bei der Olympiade 1972 durch die palästinensische terroristische Gruppe Schwarzer September in einer Erklärung: »Die Aktion des ›Schwarzen September‹ in München hat das Wesen imperialistischer Herrschaft und des antiimperialistischen Kampfes auf eine Weise durchschaubar gemacht und erkennbar gemacht wie noch keine revolutionäre Aktion in Westdeutschland und Westberlin. Sie war gleichzeitig antiimperialistisch, antifaschistisch und internationalistisch.«21

Bei der Entführung eines Flugzeuges der Air France durch die PFLP und die Revolutionären Zellen (RZ) trennten die beiden deutschen Mitglieder der RZ jüdische und nichtjüdische Passagiere (bei anschließender Freilassung der nichtjüdischen Passagiere durch das Entführungskommando). Israelische Spezialeinheiten befreiten schließlich die Geiseln auf dem Flughafen von Entebbe in Uganda. Diese Aktion wurde auch von Postone erwähnt: Dieses »Selektionsverfahren wurde, weniger als vierzig Jahre nach Auschwitz, von zwei jungen Deutschen vorgenommen. Innerhalb der Neuen Linken in Deutschland gab es keine öffentliche Protestreaktion – geschweige denn einen allgemeinen Aufschrei.«22

Postones Aufsatz formulierte Thesen für ein umfassenderes Verständnis des Nationalsozialismus, in dem Antisemitismus den zentralen Aspekt darstellt. Aus der fehlenden Auseinandersetzung mit Antisemitismus folgte für ihn ein enorm reduziertes Bild der nationalsozialistischen Vergangenheit sowie ein problematisches, da beschränktes Verständnis von Antifaschismus, das von Desinteresse und Ignoranz gegenüber der Verfolgung und Vernichtung des europäischen Judentums durch die Nazis geprägt war. Wo Antifaschismus nicht die Bekämpfung des Antisemitismus umfasst, ist die Konsequenz im schlimmsten Fall ein Antisemitismus von links, der sich selbst als antifaschistisch (miss)versteht.23

Antisemitismus als reaktionärer Antikapitalismus 

Linke Faschismusanalysen hatten den Nationalsozialismus meist als autoritäre Krisenlösung und Brutalisierung der kapitalistischen Ausbeutung erklärt. Antisemitismus bildete dabei (wenn überhaupt) eine Randnotiz und wurde als Sündenbockstrategie missverstanden. Der Nationalsozialismus war jedoch für Postone nicht ohne die Analyse des Antisemitismus zu verstehen. Er interpretierte den Antisemitismus jedoch nicht wie die zu seiner Zeit vorherrschenden Analysen als Vorurteil und Diskriminierung oder Spielart des Rassismus. Für ihn stellte der Antisemitismus der Nazis vielmehr eine besondere Form des Antikapitalismus dar. Die Ablehnung der herrschenden kapitalistischen Verhältnisse fand sich demzufolge nicht allein im politischen Spektrum der Linken, sondern ebenso aufseiten der politischen Rechten, dem italienischen Faschismus und dem deutschen Nationalsozialismus.

Eine emanzipatorische Kapitalismuskritik strebt nach der Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise und ihrer Krisen. Ihr Programm lässt sich als Negation von Eigentum, Markt und Kapitalakkumulation definieren. Produktion, Verteilung und Konsum sollen in postkapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnissen eines »Vereins freier Menschen« (Marx) nicht länger nach der Logik der Kapitalakkumulation, sondern nach gesellschaftlichen Bedürfnissen geregelt werden. Wie gesellschaftliche (nicht staatliche) Planung aussehen könnte, war und ist Gegenstand umfangreicher Debatten. Eine rechte Kritik des Kapitalismus unterscheidet sich davon fundamental – ihr geht es nicht um die Überwindung der herrschenden Ordnung, sondern um die Schaffung einer alternativen, noch autoritäreren Ordnung.

Die nationalsozialistische Kritik des Kapitalismus unterschied sich grundlegend von einer kritischen Kapitalismusanalyse, wie sie am prominentesten Karl Marx im Kapital entwickelt hatte. Nicht Eigentum, Markt, Konkurrenz und die Akkumulation des Kapitals waren für die Nazis Gegenstand der Kritik, sondern nach Postone all die abstrakten Momente des Kapitalismus wie Geld, Kredit und Zins, Spekulation. Mit Bezug auf die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie und besonders die Fetischkritik attestierte Postone den Nazis ein Unverständnis für die Komplexität der kapitalistischen Verhältnisse. Schon in der kapitalistischen Ware zeigte sich nach Marx ein Doppelcharakter von konkretem Gebrauchswert und abstraktem Tauschwert, der seinen Ausdruck im Geld findet. Wie bei der Ware und ihrem Doppelcharakter als Elementarform der kapitalistischen Ökonomie im Detail, ist Kapitalismus als Einheit von Produktions- und Zirkulationssphäre zu begreifen. Industrielle Produktion ist ohne Kredit nicht möglich, industrielles Kapital und Finanzkapital schwer voneinander zu trennen. Das Kapitalismusverständnis der Nazis unterschied jedoch zwischen einem positiv wahrgenommenen »schaffenden« Kapital und einem zu bekämpfenden »raffenden« Kapital. Industrie und Technik genossen die Sympathie der Nazis, an Eigentum und Lohnarbeit wurde keine Kritik formuliert. Stattdessen wurde die abstrakt wahrgenommene Sphäre des Geldes und des Finanzkapitals abgelehnt, Banken und Börsenspekulation für kapitalistische Krisen verantwortlich gemacht. In einem nächsten Schritt wurde die abstrakte Sphäre des Kapitalismus mit dem Judentum identifiziert. Krisenlösung erhofften sich die Nazis schließlich aus der Vernichtung des Judentums. Postone verstand den Antisemitismus somit als reaktionären Antikapitalismus: »Der moderne Antisemitismus ist eine besonders gefährliche Form des Fetischs. Seine Macht und Gefahr liegt darin, daß er eine umfaßende Weltanschauung liefert, die verschiedene Arten antikapitalistischer Unzufriedenheit scheinbar erklärt und ihnen politischen Ausdruck verleiht. Er läßt den Kapitalismus aber dahingehend bestehen, als er nur die Personifizierung jener gesellschaftlichen Form angreift. Ein so verstandener Antisemitismus ermöglicht es, ein wesentliches Moment des Nazismus als verkürzten Antikapitalismus zu verstehen. Für ihn ist der Haß auf das Abstrakte charakteristisch. Seine Hypostasierung des existierenden Konkreten mündet in einen einmütigen, grausamen – aber nicht notwendig haßerfüllten Mission: der Erlösung der Welt von der Quelle allen Übels in Gestalt der Juden.«24

Der Begriff des »verkürzten Antikapitalismus« bringt allerdings Probleme mit sich, suggeriert er doch die Möglichkeit einer »Verlängerung« beziehungsweise »Verbesserung«. Eine solche Deutung findet sich nicht bei Postone, aber durchaus anderswo, etwa in der Verharmlosung des Antisemitismus als »Sozialismus der dummen Kerls« (August Bebel). Antisemitismus erfordert weniger linke Nachhilfe, sondern vielmehr linke Kritik, nicht zuletzt, wenn er in Gestalt eines diffusen Antikapitalismus gegen »die da oben« oder als Antizionismus auch innerhalb der Linken auftritt. Postones Kritik eines reaktionären Antikapitalismus bedeutet jedoch keineswegs einen prinzipiellen Abschied von Antikapitalismus, sondern ist ein Plädoyer für eine Kapitalismuskritik ohne Personalisierungen und antisemitische Ressentiments. 

Aktualität

Die deutsche Linke und ihre Organisationen, Publikationen und Diskussionen haben seit Ende der 1970er Jahre vielfache Veränderungen erfahren. Neue Marx-Lektüre, Kritische Theorie und Antisemitismuskritik sind jedoch weiterhin nur für kleine (zumeist antinationale und antideutsche) Zirkel von Interesse, Kritik des Antisemitismus und Antizionismus keineswegs linker common sense. Viele von Postones Thesen sind daher weiterhin aktuell. Personalisierende Kapitalismuskritik findet sich sowohl in den weltweiten Protesten der Globalisierungskritik seit Ende der 1990er Jahre wie in wiederkehrenden Krisenprotesten seit Ende der Nuller Jahre. Auch eine Zinskritik, wie sie Silvio Gesell in seinen Überlegungen zu Schwundgeld und Tauschökonomie vor gut hundert Jahren entwarf, erfreut sich in alternativen Milieus wiederkehrendem Interesse.25 Antisemitismus und völkischer Antikapitalismus sind elementare Bestandteile erstarkender autoritärer Bewegungen weltweit. 

In den 1960er und 1970er Jahren galt die linke internationale Solidarität zumeist noch linken Gruppen (mit all den dort bereits existierenden antisemitischen Positionen und autoritären Strukturen), Bündnisse mit reaktionären und islamistischen Gruppen waren innerhalb der antiimperialistischen Linken umstritten. Nach den islamistischen Anschlägen des 11. September 2001 von Al Quaida und zuletzt dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 in Israel mit mehr als tausend Todesopfern und 250 entführten Geiseln manifestierte sich ein Antiimperialismus, der islamistischen Terror bejubelt und Bündnisse sucht.

Postone hatte die Regression des linken Internationalismus und Antiimperialismus bereits vor zwanzig Jahren beschrieben: »Während noch vor einer Generation die Opposition gegen die amerikanische Politik ganz bewußt mit der Unterstützung von Befreiungskämpfen einherging, wird diese Opposition heute per se als antihegemonial gehalten. Der Kalte Krieg scheint die Tatsache aus dem Gedächtnis getilgt zu haben, dass der Widerstand gegen eine imperiale Macht nicht notwendigerweise fortschrittlich sein muss, dass es auch faschistische ›Antiimperialismen‹ gegeben hat. Diese Unterscheidung wurde während des Kalten Krieges unter anderem dadurch verwischt, dass die UdSSR Bündnisse mit autoritären Regimes einging, die mehr mit Faschismus als mit Kommunismus gemein hatten und sogar die Linke in ihren Ländern liquidierten, etwa im Irak. Antiamerikanismus wurde per se zu einem progressiven Code, obwohl es zutiefst reaktionäre ebenso wie progressive Formen von Antiamerikanismus gegeben hat.«26

Nach dem 7. Oktober hat sich in zahllosen Aktionen und Statements antiimperialistischer Gruppen gezeigt, dass vieles von dem, was sich Palästinasolidarität nennt, in Wirklichkeit Solidarität mit der Hamas bedeutet. In der Parole »From the River to the Sea« drückt sich der Wunsch nach einem künftigen Palästina aus, welches Israel von der Karte streicht und die Vernichtung der dortigen jüdischen Bevölkerung in Kauf nimmt oder gar begrüßt. Quasi täglich erfolgen seit vergangenem Herbst antisemitische Angriffe auf jüdische Menschen und Einrichtungen weltweit und lassen sich antizionistische Verharmlosungen oder offene Sympathie für den Terror der Hamas besonders in linken und liberalen Milieus von Kunst, Kultur und Wissenschaft finden.27

Postones Aufsatz endete folgendermaßen: »Die Linke machte einmal den Fehler anzunehmen, daß sie ein Monopol auf Antikapitalismus hätte; oder umgekehrt: daß alle Formen des Antikapitalismus zumindest potentiell fortschrittlich seien. Dieser Fehler war verhängnisvoll – nicht zuletzt für die Linke selbst.«28 45 Jahre nach Veröffentlichung seines Aufsatzes hat dieses Fazit leider immer noch Gültigkeit. Es bleibt zu hoffen, dass seine Überlegungen zu Antisemitismuskritik für kommende Diskussionen um