Gerade jähren sich viele der Ereignisse um die Verbrechen der »Aktion Reinhardt« zum achtzigsten Mal: der Aufstand in Treblinka, der Aufstand in Sobibor, die Auflösung des Ghettos in Bialystok, die Massenerschießungen unter dem zynischen Decknamen »Aktion Erntefest«, die das Ende der »Aktion Reinhardt« waren. Du machst mit dem Bildungswerk Stanisław Hantz seit vielen Jahren historisch-politische Bildungsarbeit in Polen, insbesondere an den Orten der »Aktion Reinhardt«. Wer war Stanisław Hantz?

Stanisław Hantz – von uns Staszek genannt – war ein Pole, der mit 15 Jahren bei einer Straßenrazzia in Warschau festgenommen und mit einem der ersten Transporte nach Auschwitz gebracht wurde, wo er fast die gesamte Kriegszeit inhaftiert war. Gegen Ende des Krieges kam er bei den sogenannten Todesmärschen ins KZ Dachau, wo er von den Amerikanern befreit wurde. Er kehrte nach Auschwitz zurück, holte dort seine Ausbildung nach und beteiligte sich von Beginn an am Aufbau der Gedenkstätte. Irgendwann entschied er sich in eine Kleinstadt zu gehen, nach Zgorzelec, das liegt bei Görlitz. Dort hat er in einer Braunkohlegrube gearbeitet, sein Chef war auch ein ehemaliger KZ-Häftling. Wie vielerorts in Polen gab es in Zgorzelec einen Club der ehemaligen Häftlinge nationalsozialistischer Konzentrationslager. In Zgorzelec war Staszek der Vorsitzende des Clubs, der über 120 Mitglieder hatte. Ich erzähle das, weil wir den Club, als wir Staszek kennenlernten, unterstützt haben. Mittlerweile lebt nur noch eine Person, Zofia, die beinah 100 ist und in Ravensbrück inhaftiert war.1 Die Gruppe hatte einen Raum, in dem sie sich getroffen hat. Dort wurden auch ärztliche Behandlung, Medikamente und sonstiges organisiert.

Was hat der Kontakt zu Stanisław Hantz für die Gründung des Bildungswerks bedeutet?

Die Leute aus dem Bildungswerk haben Staszek Anfang der 90er Jahre kennengelernt und sind gemeinsam mit ihm nach Auschwitz gefahren. So ist ein enger Kontakt und mit manchen auch eine Freundschaft entstanden. Daraus sind organisierte Reisen nach Auschwitz hervorgegangen, die bis heute stattfinden. Darüber hinaus haben manche mit ihm gemeinsam Polen erkundet und so ist auch die Reise nach Ostpolen zu den vergessenen Lagern der »Aktion Reinhardt« in Kooperation mit ihm entstanden. Das war wirklich eine Zusammenarbeit. Staszek hatte schon einen bestimmten, differenzierenden Blick auf das Lager Auschwitz und seine Widersprüche. Er hat in seinen ganz eigenen Worten die Verhältnisse dort geschildert, wobei oft ganz kleine Situationen besonders wichtig waren. Er hat konkrete Geschichten aus seiner eigenen Vergangenheit erzählt. Das, was die Überlebenden erzählen, ist dann auch zum Mittelpunkt unserer Arbeit geworden und prägt die Bildungsreisen bis heute. Wir haben angefangen, mit weiteren Überlebenden zusammenzuarbeiten und sie dazu eingeladen, auf unseren Reisen von ihren Erlebnissen zu berichten. Die meisten leben mittlerweile nicht mehr. Ihre Erinnerungen sollen nicht verloren gehen. Wir wollen das weitererzählen, was sie uns erzählt haben. Staszek starb 2008. Im Buch »Zitronen aus Kanada« kann man seine Geschichte nachlesen.

Was ist das Bildungswerk eigentlich für ein Arbeitszusammenhang?

Wir sind ein kleiner Verein und unsere Mitglieder sind über ganz Deutschland verteilt. Wir arbeiten alle ehrenamtlich. Ich sehe das auch als antifaschistische Arbeit. Was immer das heißen mag; Antifaschismus, das ist natürlich ein großer Begriff. Aber wenn ich das von mir persönlich sage, das hat mein ganzes Leben geprägt. Eben weil ich aus Deutschland komme – aus der Tätergesellschaft. Als ich zum ersten Mal nach Ostpolen gefahren bin, wusste ich davon nicht sehr viel. Die Weise, wie mir die Geschichte auf dieser Reise nah gebracht wurde, hat mich davon überzeugt, dass das eine wichtige Bildungsarbeit ist. Wir wollen Fragen aufwerfen und es geht darum, aus der Geschichte zu lernen.

Du hast erzählt, dass eure Arbeit seit der Gründung vor über 20 Jahren vor allem von der Zusammenarbeit mit denjenigen geprägt war, die die Shoah überlebt haben. Was hat es für euch bedeutet, dass in den letzten Jahren die meisten der Zeitzeug_innen gestorben sind?

Es gibt noch immer Einzelne, mit denen wir zusammenarbeiten können. Zum Beispiel auf der Fahrt nach Łódź. Aber insgesamt ist es schon richtig, dass es nicht mehr möglich ist. Wir haben noch Kontakt zu Einzelnen, die aber mittlerweile zu alt zum Reisen sind. Natürlich bedeutet das eine große Veränderung. Ohne diejenigen, die es erlebt haben, gibt es nur noch die Vermittlung über Medien. Nicht mehr den direkten Austausch, bei dem man ein Gesicht sieht, bei dem jemand selbst erzählt. Diese direkte Kommunikation kann in der pädagogischen Arbeit schon sehr wichtig und eindrücklich sein. Unsere Aufgabe ist es jetzt, die Erzählungen weiterzutragen. Und auf unseren Rundgängen versuchen wir viel mit den Zeugnissen zu arbeiten, die an den Orten entstanden sind. Dabei zeigen sich natürlich auch Widersprüche. Die Geschichte ist nie einfach. Darüber wollen wir Fragen aufwerfen.

Wozu eigentlich reisen? Weshalb sollte man an die Orte des Geschehens gehen? Das ist ja auch mit Problemen behaftet, zum Beispiel, dass an den Orten der »Aktion Reinhardt« nichts mehr von der Lagerstruktur übrig ist. Was ist das Spezifische an den Orten? Kann man nicht ebenso gut ein Buch lesen?

Es ist eine sehr intensive Erfahrung, wenn man diese Orte bereist und dort mit der Geschichte des Holocaust konfrontiert ist. Und es ist eine Erfahrung, die verschiedene Ebenen der Wahrnehmung betrifft. Ich denke schon, dass es ein großer Unterschied dazu ist, nur darüber zu lesen. Das kann dich natürlich auch beeindrucken. Zu Hause in deinem Zimmer. Aber wenn du da vor Ort bist, ist es nicht so, dass da gar nichts mehr ist. Es gibt noch Überbleibsel. Zum Beispiel ein Haus, das noch steht, in dem eine Person gewohnt hat, deren Bericht wir kennen. Oder es gibt ein historisches Foto, auf dem ein Giebel zu sehen ist und den gibt es heute noch. Und zugleich hörst du einen Bericht darüber, was an diesem Ort passiert ist. Das hat eine andere Wirkung. Herauszufinden, was an diesen Orten passiert ist, ist eine wichtige Arbeit dafür, dass es nicht wieder geschieht. Und dass wir daraus lernen können. Deshalb meine ich auch, dass es eine antifaschistische Arbeit ist. Ich denke nicht, dass man Faschismus nur damit verhindern könnte. Das ist klar. Aber wenn du verstehst, was da passiert ist – völlig verstehen kann man es nicht, aber vielleicht: sich nähern, das trifft es besser – dann ist das etwas, aus dem man lernen kann.

Die Gedenkstätten in Bełżec, Sobibór und Treblinka zählen im Jahr weniger als 100.000 Besucher. Du kennst auch die Gedenkstätte in Auschwitz, die jährlich von bis zu 2 Millionen Menschen besucht wird. Wie unterscheiden sich diese Orte voneinander?

Viele Menschen fragen sich beim Besuch einer Gedenkstätte zuerst, ob sie vielleicht eine Gaskammer sehen können oder so etwas. Unser Konzept funktioniert anders. Wir versuchen uns den Orten anzunähern. Wir fahren nie direkt mit dem Bus zu den Gedenkstätten, sondern wir fahren erst zu den Orten, von denen Menschen herkamen, an denen sie gewohnt haben. Später versuchen wir uns fußläufig den Orten, an denen sich die Mordlager befanden, zu nähern. Die Gedenkstätten an sich sind selbst erfahrbar und es gibt dort kleine Museen. Was wir machen können, ist, dort hinzuführen und das Drumherum zu zeigen.

In einer Gedenkstätte wie Auschwitz ist das natürlich sehr schwer. Auch dort gibt es viele vergessene Orte dieses großen Lagerkomplexes, auf die man hinweisen kann, die vielleicht nochmal einen anderen Blick ermöglichen, als wenn man eine offizielle Führung dort macht. Aber es gibt natürlich auch Leute, die nach Bełżec fahren, in die Gedenkstätte gehen, beeindruckt sind und gleich wieder nach Hause fahren. Das bleibt natürlich auch in der Erinnerung fest, weil die Gedenkstätte ein beeindruckender Ort ist. An einen Ort wie Tomaszów zu fahren, von wo aus die jüdischen Menschen deportiert wurden und dort zu erfahren, welche Bedeutung dem Ort zukam, das wirkt auf die Besucher. Von dort aus geht man weiter und schaut, welche Gebäude im Ort Bełżec damit zu tun hatten. Eine regelrechte Spurensuche. Dort ist das Gebäude, in dem die Täter gelebt haben, das noch steht. Du gehst an den Ort, an dem die geraubte Habe der Ermordeten sortiert wurde. Das ist eine andere Konfrontation mit der Geschichte. Dafür brauchst du mehr Zeit, das geht nicht schnell. Das kann man nur in Ruhe und langsam Schritt für Schritt machen.

Natürlich: Für Viele ist es so, dass ein Ort, an dem noch viele Baracken stehen vielleicht auf den ersten Blick eindrücklicher ist. Aber es gibt auch etwas anderes. Gerade die Leere, die da ist, kann sehr eindrücklich sein. Und die Geschichte, die du hörst, die Erzählungen, von denen, die dort waren, machen das im Kopf sehr greifbar.

Mir fallen noch drei Dinge aus der Perspektive der Teilnehmenden ein. Die Reisen sind eine kollektive Erfahrung. Es wird diskutiert und es gibt Austausch über die Geschichte der Shoah. Außerdem lässt man sich durch das Austreten aus dem Alltag vielleicht mehr ein. Und: Diese Orte zu bereisen verändert auch die Orte selbst. Ihr mischt euch auch immer wieder erinnerungspolitisch ein. Was beschäftigt euch gerade? Und: Hat das, was ihr tut, etwas mit der polnischen Bevölkerung zu tun?

Bei unserer Arbeit wollen wir nicht nur wie Touristen dorthin fahren, sondern auch aktiv an der Gedenkkultur vor Ort teilnehmen. Wir beginnen gerade ein Projekt, mit dem wir eine jüdische Gemeinde in der Ukraine unterstützen wollen. In Drohobytsch war einmal eine sehr große jüdische Gemeinde, heute ist sie sehr klein. Viele haben wenig Geld. Seit einiger Zeit gibt es eine Küfa und Unterstützungspakete mit Lebensmitteln und Hygieneprodukten.

In Izbica, dem ehemaligen Transitghetto in Ostpolen, organisieren wir gemeinsam mit Rena, der Tochter des Shoah-Überlebenden Thomas Blatt Gespräche mit den Schülern. Thomas Blatt ist in Izbica aufgewachsen und wurde von dort nach Sobibor verschleppt. Dort nahm er am Aufstand teil, konnte entkommen und setzte sich danach sein ganzes Leben lang für die Erinnerung an die NS-Verbrechen ein.

Eigentlich haben wir in allen drei ehemaligen Lagern versucht, an der Gedenkarbeit mitzuwirken. In Sobibor haben wir Anfang der 2000er eine Gedenkallee initiiert. Man konnte an einem Weg einen Baum für eine im Holocaust ermordete Person pflanzen. Daneben wurde ein Stein mit dem Namen drauf gestiftet. Die Allee besteht heute wegen der Neugestaltung der Gedenkstätte nicht mehr und es war ein langes Ringen darum, ob es möglich ist, dass die Steine bleiben können. Sie werden nun an einem anderen Ort aufgestellt.

In der Ortschaft Bełżec gibt es außerhalb des ehemaligen Lagers verschiedene Stellen, die direkt mit dem Lager zu tun hatten. Zum Beispiel die sogenannte Kommandantur der Deutschen: Der Bereich wurde nach dem Krieg wieder privatisiert und gehörte der polnischen Bahn. Es gibt da zwei Häuser von denen eins heute noch privat bewohnt ist. Das zweite, mit dem Gelände drum herum, unter anderem auch ein Wirtschaftsgebäude, das die Täter 1942 errichten ließen, stand ab 2010 leer und war am verfallen. Wir haben mit der polnischen Bahn verhandelt, die das Gelände schließlich zur Auktion freigab. Letztlich fand die Auktion wegen des internationalen Aufsehens darüber, dass ein Gebäude mit einer solchen historischen Bedeutung an den Meistbietenden verkauft werden soll, nicht statt. Die polnische Bahn hat einen Rückzieher gemacht und das Gelände für einen symbolischen Złoty an die Gedenkstätte übertragen. Das Kommandanturgebäude ist nun renoviert und steht für Seminare und Büros der Gedenkstätte zur Verfügung. Das Wirtschaftsgebäude wurde allerdings wegen seines schlechten Zustands abgerissen, obwohl es das einzige Gebäude war, das erst auf Veranlassung der Deutschen hin dort errichtet worden ist.

In Treblinka haben wir die sogenannte Stacja Treblinka mitinitiiert. Ein Gedenkort am ehemaligen Bahnhof, der heute nicht mehr besteht. Dort wo das Gleis einst verlief, liegt heute eine Schnellstraße. Der Bahnhof wurde Stück für Stück abgebaut. Wir haben beobachtet, wie der Ort langsam verschwindet.

An der Stacja Treblinka wird der Eisenbahner Jan Maletka geehrt. 2021 wurde ein Gedenkstein, der auf die Initiative des Pilecki Instituts zurückgeht, für ihn eingeweiht. Ihr habt die Ehrung kritisiert. Was ist an diesem Gedenkakt verkehrt?

Jan Maletka war ein polnischer Eisenbahner, der von den Deutschen an der Stacja Treblinka getötet wurde. Die Deportationszüge standen häufig tagelang, völlig überfüllt und ohne Wasser in der Hitze. Viele sind in den Zügen gestorben, die Menschen haben sehr gelitten und nach Wasser gerufen. Jan Maletka wollte nach Aussage seiner Eltern den Menschen Wasser geben,ohne dafür Geld zu verlangen. Es gibt allerdings auch viele Erzählungen aus Treblinka, dass die Menschen viel für das Wasser bezahlen mussten. Ob es nun stimmt oder nicht: Die Stacja Treblinka ist ein Gedenkort für jüdische Opfer – für etwa 900.000 Menschen – die durch diesen Ort gekommen sind und dann im Lager Treblinka ermordet wurden. Die einzige Person, der namentlich mit einem Stein gedacht wird, ist ein nichtjüdischer Pole. Wir denken, das ist nicht richtig. Wir sind froh, dass es den Gedenkort jetzt gibt. Aber es ist falsch, dass er für bestimmte Interessen genutzt wird. Vielleicht ist es richtig für Maletka einen Gedenkstein aufzustellen – aber nicht an diesem Ort.

Welche Interessen sind das, die da einander gegenüberstehen? Wie wird das Holocaustgedenken in Polen politisiert und was bedeutet das für eure Arbeit als Bildungswerk?

Die grundlegende Politik, die hinter dieser Episode steht, ist ein großes Thema. Grundsätzlich ist es so, dass man in Polen die nichtjüdischen polnischen Helden in den Vordergrund stellt. Das ist in vielen mittelosteuropäischen Ländern ein Problem: Es gab damals auch dort einen verbreiteten Antisemitismus und auch antisemitische Gewalttaten. Ein Beispiel: Es gibt einen Feiertag für die verfemten Soldaten. Das waren diejenigen, die nach der Befreiung von Polen durch die Rote Armee weitergekämpft haben gegen die zweite Besatzung. Das waren Leute, die waren vorher zum Teil auch schon im Widerstand. Ein Sammelsurium von Menschen, unter denen auch viele Antisemiten waren. Und einige von ihnen sind tatsächlich gewaltsam gegen Juden vorgegangen. Dennoch werden sie heute als Helden verehrt. Im Vordergrund steht ihr Kampf gegen die neue Besetzung. Da gibt es ein Missverhältnis und das schafft Probleme in der Erinnerungsarbeit.

Da ist dieses Gesetz, das es übrigens auch in Litauen gibt. Da geht es darum, dass man nichts Falsches sagen darf über Polen. Es gibt diese Vorgabe, dass man auf keinen Fall »polnische Lager« sagen darf (was auch richtig ist!). Aber immer, wenn man Lager sagt, muss man jetzt »deutsches Lager« sagen. Es ist eben sehr wichtig, dort immer zu sagen: es waren die Deutschen, nicht wir.

Spielt dadurch die Erinnerung an die ermordeten Juden eine geringere Rolle?

Nein, das kann man so nicht sagen. Aber es gibt ein großes Problem dort, wo antisemitische Morde von Polen verübt wurden. Die gab es, aber sie werden nicht thematisiert. Wenn wir heute auf die Geschichte blicken, sollten wir aber ein vollständiges Bild zeichnen. Ein Beispiel aus Lublin: In der Stadt gab es nach der Befreiung antisemitische Übergriffe. Dabei sind Juden umgekommen, die gerade die deutschen Mordlager überlebt hatten. Einer der beiden Überlebenden aus Bełżec, Chaim Hirszman, und Leon Felhendler, der den Aufstand in Sobibor mitorganisiert hatte. Ein Weiterer wurde von einer Einheit der polnischen Heimatarmee getötet, weil behauptet wurde, er hätte mit dem politischen Geheimdienst der Sowjetunion kooperiert. Die Einheit wurde festgenommen und hingerichtet. Nun, wie sieht das heute aus? Was gibt es an Erinnerung? Der jüdische Mann, der getötet wurde, hat keinerlei Erinnerung. Aber diejenigen die ihn getötet haben, werden am Schloss in Lublin mit einer Tafel als Opfer des NKWD geehrt. Ähnlich ist es mit den polnischen Rettern. Natürlich ist es richtig, sich ihrer zu erinnern. Es gab Polen, die Juden gerettet haben. Aber wenn man nur diese zeigt, dann verschleiert man die andere Seite: die Seite der Kollaboration und des Antisemitismus. 

Nochmal zu Maletka: Es geht darum, an welchem Ort und in welchem Kontext der Gedenkstein aufgestellt wurde. Der Historiker Jan Grabowski hat dazu gesagt, dass die Geschichte des Holocaust verdreht wird, indem man das polnische Leiden in den Mittelpunkt stellt. Diese Steinaufstellung erregte international Aufsehen, ein Artikel darüber erschien in der New York Times. Die offizielle ­staatliche Politik Polens wird für ihren Umgang mit der Geschichte regelmäßig kritisiert.

Und andererseits muss man dann sagen, dass in den letzten Jahren doch viele staatliche Gelder in die Erneuerung der Gedenkstätten ­geflossen sind. Der Staat unterstützt schon das Gedenken auch an die jüdischen Opfer. Es gibt allerdings keine ­Thematisierung der antisemitischen Verfolgung von polnischer Seite. Zugleich ist das natürlich auch schwierig hier von deutscher Seite aus draufzuschauen. Deutschland war verantwortlich für den Holocaust, nicht Polen. Das ist klar.

Interessiert sich der deutsche Staat für das Holocaustgedenken an den Orten der »Aktion Reinhardt«?

Naja, der gibt eigentlich kein Geld. Es gibt zwei Dinge, die die Bundesrepublik mitfinanziert hat: Ein Denkmal auf dem jüdischen Friedhof im ehemaligen Transitghetto Izbica und die neue Ausstellung in Sobibor. Das waren die ersten Gelder, die bisher geflossen sind. Die öffentliche Position lautet wohl in etwa: »Wir bezahlen schon so viel für Auschwitz, das muss reichen.« Und von sich aus macht der Staat sowieso nichts. Das geht auf die Initiative von Einzelnen zurück, die sich da sehr um Geld bemüht haben. Die »Aktion Reinhardt« war das größte Mordprogramm der Deutschen und wird als »Kern des Holocaust« (Lehnstaedt) bezeichnet. Doch wir nennen unsere Reisen nicht ohne Grund »Reisen zu den vergessenen Lagern«. Wenn man herumfragt, wer den Namen Bełżec kennt, da findet man nur Historiker, Spezialisten und wenige Leute, die mal dort waren. Ich kannte ihn vor meiner ersten Reise auch nicht.

Wieso sind die Orte so unbekannt oder: vergessen?

Ich glaube der wichtigste Grund ist, dass die deutsche Gesellschaft sich nie wirklich mit dem Holocaust beschäftigen wollte. Durch Basisinitiativen hat sich das etwas geändert. Mancherorts wurde nachgeforscht, wohin die eigenen Nachbarn verschleppt worden waren. Aber mit dem ganzen Ausmaß hat sich die Gesellschaft eigentlich nie richtig beschäftigen wollen.

Auschwitz ist aus verschiedenen Gründen zum Symbol geworden. Zudem waren die Hürden nach dem Zweiten Weltkrieg sehr hoch. Man konnte nicht einfach zu den Orten der Verbrechen fahren. Die Gedenkstätten sind auch erst Mitte der Sechziger entstanden. In Auschwitz ist das viel früher passiert. Auschwitz war auch ein Symbol für das polnische Leiden, weshalb der Staat es mehr in den Mittelpunkt gestellt hat.

Außerdem gab es so gut wie keine Überlebenden, die hätten erzählen oder selbst etwas initiieren können. In Bełżec wurden fast 500.000 Menschen umgebracht, nur drei Überlebende sind bekannt. Einer wollte gar nicht darüber sprechen, einer wurde schon 1945 in Lublin ermordet, der Dritte ist nach Kanada ausgewandert. Die Situation war also: Der Staat macht nichts, Überlebende gab es nicht. Paradoxerweise war Bełżec zur Zeit der deutschen Besatzung wahrscheinlich das bekannteste Mordlager, das erste der »Aktion Reinhardt«. Die Existenz eines solchen Lagers hatte sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen.

Auf meinen Reisen mit euch hatten einige Teilnehmende das Gefühl, man müsste eigentlich alles zum Museum machen. Wie kann es sein, dass in diesem Haus heute jemand wohnt oder dieser Lokschuppen dahinvegetiert, fragte man sich. In der Gegend um Lublin stößt man an jeder Ecke darauf.

Es gibt in Polen eine Initiative, sie heißt Zapomniane2, die stellen an nicht gekennzeichneten Stätten, an denen jüdische Opfer verscharrt liegen, Mazewas (jüdische Grabsteine) aus Holz auf, auf denen in hebräischen Lettern etwa steht: »Hier liegt ein Opfer des Holocaust«. Das ist auch so eine Initiative von unten. Die Leute machen das, weil sie es wichtig finden. Sie haben schon Hunderte dieser Mazewas an unbekannten, bislang unmarkierten Orten überall in Polen aufgestellt. Eigentlich gibt es in beinahe jeder Ortschaft ein Massengrab. In allen Ortschaften gab es eine jüdische Bevölkerung. Die meisten wurden in den Mordlagern ermordet, einige aber auch direkt vor Ort erschossen.

Wie geht ihr damit um, dass es Zeugnisse aus der Täter- und der Opferperspektive gibt?

Ich würde sie nicht durcheinanderwerfen, das ist das Erste. Ich würde nicht das Zitat eines Opfers neben das eines Täters stellen. Man muss mit den Zitaten der Täter immer achtsam sein und sie beispielsweise nach Entlastungsstrategien prüfen. Mit den Zeugnissen der Opfer sollte man allerdings ebenso historisch genau arbeiten. Man braucht grundsätzlich eine kritische Distanz zu den Zeugnissen.

Ich denke, dass es sehr wichtig ist, sich mit Täterbiografien zu beschäftigen. Warum haben Menschen so etwas gemacht? Wieso waren sie dazu fähig? Was war ihr Hintergrund? Uns ist es wichtig, auch Täterinnen vorzustellen. Ob das Sekretärinnen waren, die nur Zahlen aufgeschrieben haben oder welche wie im »Durchgangslager« Janowska bei Lemberg, die vom Balkon aus auf Gefangene geschossen haben. Es gibt auch da eine Bandbreite. Ich denke, wir können nicht versuchen, uns dem anzunähern, was dort passiert ist, wenn wir nur eine Seite sehen. Das geht nicht. Trotzdem ist es mir wichtig, zu betonen: Wir machen das, um der Opfer zu gedenken.

Jetzt wo sich die Verbrechen zum achtzigsten Mal jähren: Wie ist der Stand der Dinge und worum sollte es nun in der Erinnerungsarbeit gehen?

Ich denke, dass die Überlebenden nicht mehr da sind und nicht mehr – vielleicht auch als Korrektiv – erzählen können, das öffnet den Raum für andere Gruppen und deren Interessen, etwas mit der ­Geschichte zu machen. Das birgt auch eine gewisse Gefahr. 80 Jahre danach, das ist ein Zeitpunkt, zu dem es keine Überlebenden der Mordlager mehr gibt. Ich habe dennoch die Hoffnung, dass die Geschichte der NS-Verbrechen in Ostpolen einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wird.

Außerdem: Noch ist es so, dass man viel sehen kann. Nicht nur dort, wo sich einst die Lager befanden, sondern auch drum herum. So wie der Lokschuppen in Bełżec, der außerhalb des Lagers gelegen war und als Magazin für die geraubte Habe genutzt wurde. Der ist heute eine Ruine und in Privatbesitz. Diese Orte verschwinden langsam aber sicher und man muss natürlich nicht alle erhalten. Manchmal sind es wichtigere manchmal weniger wichtige. In Izbica gab es ein jüdisches Kino, in dem dann später die freiwillige Feuerwehr war. In der Besatzungszeit war es ein Magazin für die geraubte Habe der Ermordeten. Nach der letzten Deportation hat man zwischen tausend und zweitausend Juden in das Kino getrieben, wo sie drei Tage lang ohne Essen und Trinken ausharren mussten. Diejenigen, die nach drei Tagen noch lebten, wurden auf den jüdischen Friedhof getrieben und dort erschossen. Das Kino wurde vor zwei oder drei Jahren abgerissen, eine Erinnerungstafel gibt es nicht.

Ich denke es ist wichtig, weiter aktiv zu sein, dass die Verbrechen nicht in Vergessenheit geraten. Es betrifft auch die Frage, wie wir mit Rassismus und Antisemitismus umgehen. Wir können durch den Blick auf die Vergangenheit lernen, wie es funktioniert hat, von der Ausgrenzung bis zum organisierten Massenmord. Aus der Opfer- sowie aus der Täterperspektive.