Editorial
Am 7. Oktober 2023 verübte die palästinensische Terrororganisation Hamas mit unvorstellbarer Brutalität das größte antisemitische Massaker seit dem Holocaust. An keinem anderen Tag seit der Befreiung der Welt vom Nationalsozialismus wurden so viele Juden_Jüdinnen ermordet wie an diesem. In den Wochen darauf wurde wieder einmal überdeutlich, dass der Antisemitismus nicht nur das Leben der Menschen in Israel bedroht, sondern weltweit und in allen Klassen und Milieus virulent ist. Wohnhäuser wurden mit Davidsternen markiert. Auf der Sonnenallee in Berlin wurde Baklava verteilt, um den Angriff auf Israel zu feiern. Molotowcocktails wurden auf eine Synagoge in Berlin-Mitte geworfen und verfehlten nur durch Glück ihr Ziel. In Berlin-Moabit zerstörten Unbekannte mit einem Stein die Scheibe einer Vitrine, in der Motive jüdischen Lebens ausgestellt waren und versuchten darin Feuer zu legen. Währenddessen erklärten zahlreiche antiimperialistische und antikoloniale Linke den Terrorakt der Hamas zur legitimen Reaktion gegen die israelische Besatzung. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Dieser unverhohlene Judenhass wird flankiert vom »ehrbaren Antisemitismus« (Jean Améry) vieler sich als progressiv verstehender Intellektueller an den Universitäten, die meinen, Israel sei ein Kolonialstaat, der einen Genozid an den Palästinenser_innen begehe.
Dass linker und islamistischer Judenhass derzeit so zentral erscheinen, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Antisemitismus in der ganzen Gesellschaft verbreitet ist. Erst vor vier Jahren, im Oktober 2019, versuchte ein rechter Terrorist in Halle die zu Jom Kippur in der Synagoge versammelten Menschen zu ermorden. Allein die Tür, die den Schüssen und Sprengsätzen des schwer bewaffneten Angreifers standhielt, verhinderte ein Massaker. Die Ergebnisse der jüngsten Mitte-Studie, veröffentlicht am 21. September 2023, zeigen, wie weit antisemitische Einstellungen in der Bevölkerung verbreitet sind. Fast 12 Prozent der Befragten meinten, »auch heute noch« sei der Einfluss der Juden_Jüdinnen zu groß, 15 Prozent waren unentschieden. 22 Prozent stimmten der Aussage zu, dass Juden_Jüdinnen »mehr als andere Menschen mit üblen Tricks [arbeiten], um das zu erreichen, was sie wollen« und 20 Prozent glauben mindestens teilweise, dass Juden_Jüdinnen »einfach etwas Besonderes und Eigentümliches an sich« haben und deswegen »nicht so recht zu uns« passen. Es scheint, als hätte der Ausspruch »Nie wieder« seit dem 7. Oktober eine neue Dringlichkeit bekommen, doch die antisemitische Ideologie war nie verschwunden – ebenso wenig wie ihre gesellschaftlichen Ursachen.
Wir meinen, dass das Bewusstsein über Charakter und Ausmaß der Shoah im Kampf gegen Antisemitismus eine wichtige Rolle spielt. Mit diesem Heft wollen wir zur Auseinandersetzung mit einem wenig bekannten Kapitel des in Deutschland ins Werk gesetzten Verbrechens anregen: Der »Aktion Reinhardt«, bei der zwischen Sommer 1942 und Herbst 1943 etwa 2 Millionen Juden_Jüdinnen, vor allem aus Polen, aber auch aus anderen europäischen Ländern, und 50.000 Rom_nja ermordet wurden. Während Auschwitz zum Symbol für den Mord an den europäischen Juden_Jüdinnen und zur Chiffre für den Zivilisationsbruch geworden ist und die dortige Gedenkstätte jährlich über zwei Millionen Besucher_innen zählt, sind die einige hundert Kilometer weiter östlich gelegenen Vernichtungslager der »Aktion Reinhardt« den meisten Menschen kein Begriff. Deutlich weniger als 100.000 Menschen besuchen die Gedenkstätten in Belzec, Sobibor und Treblinka jährlich. Das geringe Wissen steht in deutlicher Diskrepanz zur zentralen Bedeutung, die die Lager, die nicht der Ausbeutung von Arbeitskraft, sondern einzig dem Zweck des Massenmords dienten, für die nationalsozialistische Vernichtungspolitik hatten. Der Tarnname des Massenverbrechens bezieht sich vermutlich auf Reinhard Heydrich, der als Chef des Reichssicherheitshauptamtes einer der Hauptverantwortlichen für die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden_Jüdinnen war und im Juni 1942 an den Folgen eines von tschechoslowakischen Widerstandskämpfern durchgeführten Attentats starb. Heinrich Himmler übertrug die Leitung der »Aktion Reinhardt« an Odilo Globocnik, der SS- und Polizeiführer im Distrikt Lublin im besetzten Polen war. Unter dem zynischen Decknamen »Aktion Erntefest« wurden in dieser Gegend am 3. und 4. November 1943 mehr als 43.000 Juden_Jüdinnen in koordinierten Massenerschießungen ermordet. Das Massaker, das in seiner Dimension mit dem von Babyn Jar vergleichbar aber weitaus weniger bekannt ist, steht am Ende der »Aktion Reinhardt«.
Bereits die Lage der Mordlager abseits größerer Städte zielte auf die Verschleierung des Genozids, wenngleich die Vorgänge in den Lagern der Bevölkerung nicht gänzlich verborgen blieben. Nachdem die Lager geräumt worden waren, zerstörten die Täter die Lagerarchitektur. Sie errichteten Bauernhöfe und pflanzten Bäume, um die Spuren ihres Verbrechens zu verwischen. Heute ist man an den Orten mit einer eigentümlichen Leere konfrontiert. Im Gegensatz zu vielen ehemaligen Konzentrationslagern findet man in Belzec, Sobibor und Treblinka keine erhaltenen oder rekonstruierten Baracken und Gebäude. Die Massengräber bilden den Mittelpunkt der Gedenkstätten. Nur wenige Menschen überlebten die Mordlager und konnten von den Geschehnissen berichten. Was wir heute über den Holocaust und insbesondere über die »Aktion Reinhardt« wissen können, basiert in starkem Maß auf der unermüdlichen Arbeit der frühen Holocaustforscher_innen. Bereits lange bevor die Deutschen besiegt waren, dokumentierten Juden_Jüdinnen selbst ihre Situation in den Ghettos und Lagern und sammelten Beweise über die deutschen Verbrechen. Rachel Auerbach, deren Mahnung gegen das Vergessen am Anfang dieses Heftes steht, war eine von ihnen. Sie sammelte Beiträge für das Untergrundarchiv im Warschauer Ghetto, interviewte als Teil der Jüdischen Historischen Kommission Überlebende der Lager und schrieb nach einer Inspektionsreise im November 1945 den erschütternden Bericht Auf den Feldern von Treblinka.
Das Cover dieses Heftes zeigt die Aufstellung der Skulptur »Treblinka« des sowjetischen Künstlers Vadim Sidur am Amtsgericht in Berlin-Charlottenburg im Jahr 1979. Die Skulptur ist eine frühe künstlerische Auseinandersetzung mit der Shoah im öffentlichen Raum in Deutschland und hier bis heute eines der wenigen Denkmale, die spezifisch an die Verbrechen erinnern, die unter dem Decknamen »Aktion Reinhardt« verübt wurden. Die Aufstellung geht auf die Initiative des Slawisten Karl Eimermacher zurück.
Das Heft ist im Anschluss an mehrere Reisen zu den Tatorten der »Aktion Reinhardt« entstanden. Die Stadt Lublin liegt etwa 1.000 Kilometer von Frankfurt entfernt – etwa doppelt so weit wie Paris. Vierzehn Stunden müssen Reisende mit dem Zug aufbringen, um den Osten Polens zu erreichen. Zu dieser räumlichen kommt eine zeitliche Entfernung von mittlerweile 80 Jahren. Wir meinen, dass der doppelten Distanz mit erinnerungspolitischer Arbeit begegnet werden muss, um die Verbrechen und ihre gesellschaftlichen Ursachen nicht dem Vergessen anheimfallen zu lassen. Mit diesem Heft wollen wir einen Beitrag in diesem Sinne leisten. Auf 100 Seiten kann der Verbrechenskomplex der »Aktion Reinhardt« selbstverständlich nicht erschöpfend behandelt werden. Vielleicht kann die Lektüre aber zumindest ein Interesse wecken und der Ausgangspunkt für eine tiefergehende Beschäftigung mit dem Thema sein. Wir wollen außerdem allen Leser_innen die Reisen des Bildungswerks Stanisław Hantz ans Herz legen. Nicht zuletzt waren es diese, die uns zur Arbeit am Heft motiviert haben.
Täter und Tatorte
Annika Wienert widmet sich der »Architektur als Mordinstrument«. Ihr Beitrag führt vor Augen, dass das allgemeine Verständnis von Architektur als einer zivilisatorischen Errungenschaft im Dienst der Menschheit bei der Konzeption der Mordlager in ihr radikales Gegenteil verkehrt wurde. Die Lager wurden nicht von staatlichen Stellen in einem bürokratischen Akt konzipiert, sondern waren das Produkt der Täter vor Ort und wurden nach dem Prinzip »trial and error« als Teil der Mordpraxis ständig verändert. In direkter Nachbarschaft zum Ort, an dem sie mordeten, schufen sich die Täter eine eigentümliche Wohnidylle. Der Beitrag von Andreas Kahrs schließt dort an und kontrastiert die Fotos des Lagerkommandeurs Johann Niemann, die das Leben der Täter in Sobibor porträtieren, ohne den Massenmord zu zeigen, mit den Zeugnissen der Überlebenden, um das »›Unsichtbare‹ sichtbar« zu machen. Die Fotos sind Teil eines Albums, das erst vor wenigen Jahren auf einem Dachboden gefunden wurde. Das Bildungswerk Stanisław Hantz hat das Album ediert und in einer kommentierten Fassung herausgegeben.
Wer waren die Täter, die in den Lagern der »Aktion Reinhardt« mordeten? Wie verhielten sie sich zu ihren Taten? Was waren ihre Motive? Diesen biographischen Fragen widmet sich der Text von Sara Berger. Sie zeigt dabei insbesondere die Kontinuitäten vom systematischen Massenmord an psychisch oder physisch behinderten oder als deviant stigmatisierten Menschen in Deutschland, der unter dem Namen »Aktion T4« bekannt wurde, zur »Aktion Reinhardt« auf. Angelika Censebrunn-Benz befasst sich in ihrem Beitrag mit einer Gruppe von etwa 5000 zumeist kriegsgefangenen »fremdvölkischen« Männern, darunter viele Rotarmisten, die von den Deutschen zur Bewachung der Lager und Unterstützung des Holocaust ausgebildet und unter anderem in den Mordlagern der »Aktion Reinhardt« eingesetzt wurden. Einer breiteren Öffentlichkeit ist der Fall des Trawniki-Manns John Demjanjuk bekannt, der in Sobibor eingesetzt war und 2011 wegen Beihilfe zum Mord an 28.060 Menschen zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt wurde.
Schließlich kritisiert Rolf Pohl die Verwendung des Normalitätsbegriffs in der NS-Täterforschung und setzt sich sozialpsychologisch mit dem Zusammenhang von Volksgemeinschaft, Antisemitismus und Täterschaft auseinander. Er zeigt, dass der Wahn zum Teil der Normalität geworden war, Pathologie und Normalität nicht als absolute Gegensätze zu begreifen sind und macht deutlich, warum das Paradigma der »ordinary men« (Christopher Browning) zur Verkürzung neigt.
Deportationen
Leonie Wüst und Christopher Gomer(für die Initiative Studierender am IG-Farben Campus) beschäftigen sich mit den Deportationen der Frankfurter Juden_Jüdinnen in den Distrikt Lublin und zeigen, dass der Verbrechenskomplex der »Aktion Reinhardt« auch in dieser Hinsicht nicht losgelöst von den Geschehnissen in Deutschland betrachtet werden kann. Einem Satz des Holocaustforschers Raul Hilberg folgend, demnach jede Stadt ihre spezifische Verfolgungs- und Deportationsgeschichte hat, fragen sie nach den beteiligten Institutionen und Personen und den Abläufen und Mechanismen. Es geht aber auch um die Reaktionen der Verfolgten und ihre Versuche, sich den Deportationen zu entziehen. Schließlich schildert Markus Roth die Deportation der Juden_Jüdinnen aus dem Kreis Rzeszów im Südosten Polens. Er zeigt, dass die deutschen Besatzer von Beginn an darauf zielten, Juden_Jüdinnen auf vielfältige Weise zu isolieren und auszurauben. Die Deportationen selbst wurden von extremer Brutalität, willkürlichen Morden und Massenerschießungen durch die SS-Männer begleitet. Dies alles spielte sich in aller Öffentlichkeit vor den Augen von Deutschen, Pol_innen und Ukrainer_innen ab. Kreishauptmann Heinz Ehaus, der die Besatzungsverwaltung in dieser Gegend leitete, gab aus Stolz eine Kupfertafel in Auftrag, die an die »Befreiung der Stadt Reichshof von allen Juden« in seiner Amtszeit erinnern sollte.
Widerstand
2023 jährte sich der Aufstand im Warschauer Ghetto zum achtzigsten Mal. Weniger bekannt sind die Akte des kollektiven Widerstands in den Vernichtungslagern Sobibor und Treblinka. Der jüdische Widerstand im Holocaust fand – zumindest in seiner Breite – lange Zeit keine große Beachtung in der wissenschaftlichen Forschung. »Der Mythos von den Juden, die sich wie die Schafe zur Schlachtbank hätten führen lassen«, schrieb Arno Lustiger 1994 in Zum Kampf auf Leben und Tod, »gehört zu den letzten historischen Lügen, die alle Phasen der ›Betroffenheit‹ und der ›Aufarbeitung‹ der jüngeren deutschen Geschichte überdauert haben.« Das Klischee über die passiven Juden_Jüdinnen dient in Deutschland mitunter bis heute als Exkulpationsstrategie, bei der die vermeintliche Passivität der Opfer die Aktivität der Täter verschleiert. Die Texte in diesem Heft erzählen von wenig bekannten Dimensionen des jüdischen Widerstands. Markus Roth zeigt, dass der Aufstand im Warschauer Ghetto sich nicht auf den bewaffneten Kampf beschränkte. Er macht deutlich, dass der Kampf »mit der Waffe in der Hand« ohne die vielen anderen Aspekte des Widerstands nicht denkbar gewesen wäre. Ein eindrückliches Beispiel der vielfältigen Formen jüdischer Selbstbehauptung gegen die Entmenschlichung in den Ghettos und Lagern ist das Lied »Mir lebn ejbig«, das Lejb Rosenthal 1943 im Wilnaer Ghetto schrieb. Rosenthal engagierte sich dort unter den widrigen Bedingungen für Musik- und Theateraufführungen. Bei der Auflösung des Ghettos wurde er im Dezember 1943 ins KZ Klooga verschleppt und überlebte die Shoah nicht. Zu den weniger bekannten Aspekten des Widerstands gehört auch die Dokumentationstätigkeit der Gruppe Oneg Shabbat, mit der sich Andrea Löw beschäftigt. Unser Wissen über die Bedingungen im Ghetto beruht heute zu großen Teilen auf den in den Trümmern gefundenen Teilen des Untergrundarchivs, das die Gruppe um Emanuel Ringelblum zusammengetragen und erarbeitet hat. Dabei spielte der Wille, die Welt über die Verbrechen der NationalsozialistInnen in Kenntnis zu setzen und Zeugnis abzulegen, eine zentrale Rolle. Franziska Bruder fragt nach der Verbindung der Aufstände im Warschauer Ghetto und im Vernichtungslager Treblinka und argumentiert, dass auch die Fluchten von Juden_Jüdinnen während der Deportationen als Form des Widerstands begriffen werden können.
Erinnerung
Das letzte Kapitel dieses Hefts widmet sich der Erinnerung an die Verbrechen der »Aktion Reinhardt«. Leonie Wüst zeigt, was die Beschäftigung mit dem Holocaust in der Sowjetunion für den sowjetischen Kriegskorrespondenten Wassilij Grossman bedeutete. 1944 verfasste er einen der ersten Berichte über das NS-Vernichtungslager Treblinka. Dabei zeigen sich die Ambivalenzen sowjetisch-jüdischer Erinnerung an die Shoah. Das Werk Grossmans ist auch heute noch von Bedeutung für die Forschung zur »Aktion Reinhardt«. Einige der (Tat-)Orte, die in den vorangegangenen Artikeln thematisiert werden, fängt Laura Schilling in ihrem Foto-Essay »Dazwischen« ein. Ihr geht es um die verschiedenen Zeitschichten, die auf den Orten liegen. Dabei zeigt sich, was heute nicht mehr zu sehen ist, weil es zerstört wurde. Schließlich haben wir mit Steffen Hänschen über die Arbeit des Bildungswerks Stanisław Hantz, die »vergessenen Lager der ›Aktion Reinhardt‹« heute und Erinnerungspolitik in Polen gesprochen.
Eine interessante Lektüre wünscht Euch die
Initiative Studierender am IG Farben Campus.