Wenn wir aus sozialpsychologischer Perspektive zumindest annäherungsweise verstehen wollen, wie aus halbwegs durchschnittlichen Männern und Frauen Massenmörder im Dienste einer angeblich »guten« und »notwendigen« Sache gemacht wurden, besteht die Hauptaufgabe eines auf die unbewussten Anteile dieses Vorgangs gerichteten psychoanalytischen Zugangs weder darin, nach anthropologischen Destruktionspotenzialen im Menschen, noch nach frühkindlichen Traumatisierungen oder anderen schwerwiegenden Defiziten infantiler Bindungsmuster zu suchen. Das mag in einzelnen Täteruntersuchungen möglich und sinnvoll sein, gerät aber zu schnell in die Nähe deterministischer Verkürzungen und taugt vor allem nicht als Universalschlüssel zur pauschalen Erklärung von Tätermotivationen. Eine psychoanalytische und eine daran orientierte sozialpsychologische Herangehensweise sollte sich in erster Linie mit jenen unbewussten psychischen Mechanismen auseinandersetzen, die zur Abwehr drohender Folgen innerer und äußerer Konflikterfahrungen verwendet werden und die in spezifischen psychosozialen Verarbeitungsprozessen insbesondere auf massenpsychologisch wirksamen Wegen zur Herstellung einer kollektiven Zerstörungspraxis ausgenutzt werden können. Eine Analyse dieser Abwehrmechanismen und ihrer Bedeutung für die Täterpsychologie sollte an einer (auch klinisch) genaueren Bestimmung des Verhältnisses von Normalität und Pathologie ansetzen.

Für diese Bestimmung sind vor allem zwei psychoanalytische Erkenntnisse wichtig: Erstens weist Freud am Beispiel der Träume und Fehlleistungen auf die grundsätzliche Übereinstimmung zwischen normalen und pathologischen Mechanismen in der Arbeitsweise der psychischen Persönlichkeit hin. Diese Kongruenz entkräftet den pauschalen Vorwurf an die Psychoanalyse, sie würde Phänomene außerhalb ihres klinisch-therapeutischen Rahmens in unzulässiger Weise pathologisieren. »Man kann der Psychoanalyse nicht vorwerfen, daß sie am pathologischen Material gewonnene Einsichten auf das normale überträgt. Sie führt die Beweise hier und dort unabhängig voneinander und zeigt so, daß normale, wie sogenannte pathologische Vorgänge denselben Regeln folgen«.1 Zu diesen Mechanismen seelischer Tätigkeit gehören auch die Isolierung, die Abspaltung und die Projektion. Sie dienen der Abwehr unlustvoller oder psychisch nicht zu integrierender innerer oder äußerer Reize und gelten in der Frühzeit der lebensgeschichtlichen Entwicklung als ein »normaler« Modus im Umgang mit der Wirklichkeit, worauf noch genauer eingegangen wird. Diese archaischen Abwehrmechanismen sollten im Laufe der Persönlichkeitsentwicklung einigermaßen erfolgreich, in sozialverträgliche Wahrnehmungs- und Interaktionsmuster überführt werden. Aber das gelingt offenbar nur annäherungsweise und es besteht grundsätzlich die Gefahr regressiver Rückgriffe auf diese Abwehrmechanismen.

An dieser Stelle fügt sich die zweite Erkenntnis Freuds über die Verbindung des Pathologischen zum Normalen ein: »Das Ich […] muß ein normales Ich sein. Aber ein solches Normal-Ich ist, wie die Normalität überhaupt, eine Idealfiktion. Das abnorme, für unsere Absichten unbrauchbare Ich ist leider keine. Jeder Normale ist eben nur durchschnittlich normal, sein Ich nähert sich dem des Psychotikers in dem oder jenem Stück, in größerem oder geringerem Ausmaß […]«.2 Freud zieht daraus eine zentrale Schlussfolgerung, die inzwischen auch zum allgemeinen Standard der psychiatrischen Diagnostik gehört: Die Grenze zwischen Normalität und Pathologie ist fließend. Aus beiden, zunächst neurosenätiologischen Thesen Freuds folgt, dass pathologische Einsprengsel bis hin zu Elementen psychotischer Reaktionsbereitschaften zum (latenten) Kernbestand auch halbwegs normaler Persönlichkeiten, ihrer Wahrnehmungsorganisation und ihres Affekthaushalts gehören.

Die täterpsychologische Bedeutung dieser beiden Bestimmungen über das Verhältnis von Normalität und Pathologie lässt sich zumindest deskriptiv am Beispiel von Rudolf Höß, dem Lagerkommandanten von Auschwitz zeigen: War Höß wirklich nicht nur ein Mörder, sondern auch ein »rührender Vater und Ehemann«, was als Klischee immer wieder bemüht wird, um seine vorgebliche Normalität zu belegen? An diesem Bild des »braven Familienvaters« hat Höß selbst ordentlich mit gestrickt und wir wissen nicht einmal, ob es überhaupt zutrifft.3 Dem Gerichtspsychologen Gilbert gegenüber bekannte er am Rande des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses: »Ich bin völlig normal. Selbst als ich die Ausrottungsaufgabe durchführte, führte ich eine normales Familienleben und so weiter«.4 Gilbert, der Höß untersucht hatte, stellt diese Selbstetikettierung des Prototyps eines »kleinbürgerlich-normalen Menschen« (Broszat) in Frage und vermied einfache Erklärungen nach dem bequemen entweder-oder-Muster, das uns in der NS-Täterforschung häufig begegnet: »wenn nicht pathologisch oder sadistisch«, dann eben »normal«. Höß machte auf Gilbert »[…] den Gesamteindruck eines Mannes, der geistig normal ist, aber mit einer schizoiden Apathie, Gefühllosigkeit und einem Mangel an Einfühlungsvermögen, wie er kaum weniger extrem bei einem richtigen Schizophrenen auftritt«.5 Pathologie und Normalität stellen weder in klinischer, noch in sozialpsychologischer Hinsicht einen absoluten Gegensatz dar und wir müssen akzeptieren, dass selbst psychotische Reaktionsbereitschaften zum subjektiven Potential ganz »normaler« ­Persönlichkeitsverläufe zählen.6 Neben der Spaltung gehören vor allem früh erworbene Projektions- und Introjektionsmechanismen zu diesen quasi-psychotischen Reaktionsbereitschaften, die insbesondere in Zeiten innerer und äußerer Krisen regressiv zur Abwehr (vermeintlich) drohender Gefahren mobilisiert werden können. Was ist damit gemeint und welche Bedeutung kommt diesen unbewussten psychischen Verarbeitungsprozessen für die Genese der Täterschaft im Nationalsozialismus zu? Der archaische Abwehrmechanismus der Projektion dient letztlich der Entlastung des Ichs von sozial induzierten, unerträglich gewordenen intrapsychischen Spannungen und den mit ihnen verbundenen Unlusterfahrungen. Grundlage dieses Mechanismus ist ein allgemeiner frühkindlicher Modus im Umgang mit sich und der Außenwelt, zu dessen Kern auch eine »primitive« Hassbereitschaft gegenüber allen unlusterregenden Reizen gehört. »Das Ich haßt und verabscheut mit Zerstörungsabsicht alle Objekte, die ihm zur Quelle von Unlusterfahrungen werden«.7 Auf diesem Boden findet, so Freud, eine frühe Aufspaltung zwischen der Verinnerlichung lustvoll erlebter Quellen und Objekte (Introjektion) und der Abstoßung jener eigenen inneren Regungen, die Anlass von Unlust werden (Projektion), statt. 

Ähnlich wie Freud führt auch Melanie Klein diesen paranoid getönten Introjektions- und Projektionsvorgang als Urform und Vorbild einer aggressiven Objektbeziehung auf eine ursprünglich normale Abwehrreaktion gegen innere und äußere Bedrohungen in den frühesten Entwicklungsstadien von Subjektivität, der sogenannten »paranoid-schizoiden Position« zurück, bei der alles Gute (durch Introjektion) von innen zu kommen scheint und alles als böse empfundene (durch Projektion) nach außen abgestoßen wird.8 Der narzisstische Gewinn liegt in der irrigen Annahme, man selber sei gut und das, was anders ist, eher schlecht, minderwertig oder sogar »böse«. Im Verlauf der Sozialisation wird dieser früh erworbene (und für den angestrebten seelischen Ausgleich äußerst nützliche) Mechanismus im Umgang mit inneren und äußeren Wahrnehmungen und den dahinterstehenden archaischen Ängsten in der Regel einigermaßen humanverträglich abgemildert, aber nie vollständig überwunden. In Zeiten existenzieller Krisen können grundsätzlich alle, also auch die »Normalen« und vermeintlich »Gesunden« auf diese primitive Sicht von sich und der Welt zurückfallen, in der unbewusst der Glaube vorherrscht, durch Isolierung, Abspaltung, Veräußerlichung, Verfolgung und gegebenenfalls durch die Zerstörung des angstauslösenden Bedrohlichen in Sicherheit zu sein oder zu bleiben. In der Möglichkeit derartiger regressiver Rückgriffe liegt psychologisch gesehen das gefährlichste, weil im Normalen liegende psychische Potential, das den wichtigsten subjektiven Anknüpfungspunkt einer rassistischen Politisierung ausmacht, zu deren Prototypen zweifellos der antisemitische Massenwahn der NationalsozialistInnen gehört.

Die psychischen Wurzeln dieses paranoiden und destruktiven (kollektiven) Prozesses gehören also zur »normalen« Subjektkonstitution, aber die weiteren Wege und Mechanismen der antisemitischen Feindbildkonstruktion folgen dem Muster einer Pathologie mit deutlichen paranoiden Wahngehalten. Der Hass auf Fremde bei gleichzeitiger Selbstdefinition durch die Zugehörigkeit zu einer überlegenen Rasse, Gruppe oder Nation trägt in seiner Primitivität wahnhafte Züge. Dahinter stehen diffuse Ängste und Wahrnehmungsverzerrungen, die bis zum Realitätsverlust reichen können. Das innere Bild des Fremden, das von der Psychoanalyse als unbewusste Fremdenrepräsentanz gefasst und immer in Verbindung mit den Selbstrepräsentanzen zu sehen ist, entsteht nach dem Muster eines (verfolgenden) frühen und nun nach außen verlagerten unassimilierten Introjekts. Das im Innern abgespaltene und als fremd und bedrohlich empfundene Eigene wird, wie gesehen, auf äußere Feinde projiziert und stellvertretend an ihnen verfolgt. 

Für eine sozialpsychologische Analyse des Antisemitismus und seiner Bedeutung im Kontext sozialer und psychischer, für die Konstitution der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft elementarer Inklusions- und Exklusionsprozesse muss aber an dieser Stelle eine konzeptionelle Erweiterung des Projektions-Begriffs vorgenommen werden: Der Projektionsvorgang steht sowohl unter psychiatrischer als auch unter sozialpsychologischer Perspektive in enger Verbindung mit jenem frühen »primitiven« Abwehrmechanismus, den Melanie Klein als »projektive Identifizierung« bezeichnet. Nach diesem Konzept werden zerstörerische, als »böse« empfundene Persönlichkeitsanteile unbewusst isoliert, abgespalten, externalisiert und schließlich in geeignet erscheinende (oder geeignet gemachte) Personen oder Personengruppen nicht einfach nur durch Übertragung angeheftet, sondern gleichsam in deren Inneres eingepflanzt.9 Erst die hier zum Ausdruck kommende projektive Identifizierung der ausgesuchten Opfer mit dem eigenen Hass gibt sie schließlich (potenziell) der Vernichtung preis. 

Zum Opfer aber können nur diejenigen gemacht werden, die besonders geeignet zu sein scheinen, mit dem unbewussten Inhalt der Projektionen und damit schließlich mit dem eigenen »Bösen« des Projizierenden identifiziert zu werden. Im Kern und am Ausgangspunkt dieses Vorgangs steht also eine Identifikation zwischen Subjekt und Objekt, denn, so Freud in seinem Aufsatz Die Verneinung: »Das Schlechte, das dem Ich Fremde, das Außenbefindliche, ist ihm zunächst identisch«.10 Erst diese unbewusste Identifizierung des Objekts mit den verpönten Selbstanteilen und den dazugehörenden Affekten (Aggression und Hass) schafft eine Verbindung, die ein zerstörerisches Eindringen in die nun als absolut feindlich empfundenen Objekte als Gegenmaßnahme gegen die ihnen supponierten gefährlichen Tendenzen nicht nur erlaubt, sondern geradezu erzwingt. Denn gerade weil der ­Projizierende mit dem Objekt seiner Projektion partial und auf Dauer identifiziert bleibt, muss er umso mehr dessen unerbittliche Rache fürchten. Der konstruierte äußere Verfolger wird durch diese projektive Verschiebung zum Träger der eigenen zerstörerischen Hassregungen. Erst durch diese unbewusste Identifizierung kann das Feindobjekt zur Inkarnation des absolut Bösen erhoben werden. Als »wichtigste Folge dieses Vorgangs entstehen,« so der Psychoanalytiker Otto Kernberg, »gefährliche, vergeltungssüchtige Objekte gegen die der Projizierende wiederum sich zur Wehr setzen muß […]; er muß das Objekt beherrschen und eher selber angreifen, bevor er (wie er fürchtet) vom Objekt überwältigt und zerstört wird«11 – Die Verfolgung und Vernichtung des gefährlichen, weil übermächtigen und vergeltungssüchtigen Feindes, der nicht nur das eigene Selbst, sondern auch die Gemeinschaft der Gleichgesinnten bedroht, erscheint dann als putative Notwehrhandlung.

Hier stoßen wir auf einen engen Zusammenhang von Antisemitismus und nationalsozialistischer Volksgemeinschaft, der die Motivstruktur der TäterInnen unter der Ausnützung und kollektiven Mobilisierung der hier bisher weitgehend am Individuum festgemachten Abwehrmechanismen maßgeblich beeinflusst hat: Die entscheidende Triebfeder der (versuchten) Transformation der deutschen Gesellschaft in eine »harmonische« Volksgemeinschaft ist die manichäistische Konstruktion des »absoluten« jüdischen Feindes, von dessen Ausmerzung das eigene Seelenheil als Kollektiv abhängen sollte. Die prägende Kraft des antisemitischen Wahns und die ihm inhärente paranoid getönte Abwehr-Kampf-Bereitschaft war konstitutiv für die Etablierung der Volksgemeinschaft, wobei nicht einmal alle VolksgenossInnen überzeugte und fanatische AntisemitInnen zu sein brauchten. Dieser Standpunkt wird vor allem von Michael Wildt vertreten und mit einer profunden Analyse der alltäglichen antisemitischen Praxis in der deutschen Provinz belegt: »Was in der späteren Erinnerung der einstigen ›Volksgenossen‹ gern getrennt wurde, nämlich die Judenverfolgung und die Gemeinschaftserlebnisse im Nationalsozialismus, gehörten untrennbar zusammen […]. Darum lassen sich der Antisemitismus und die Verfolgung der Juden nicht von den inkludierenden Momenten der »Volksgemeinschaft« trennen«.12

Das Inklusionsversprechen der NationalsozialistInnen war an die Verankerung des Antisemitismus und der mit ihm verknüpften wahnähnlichen sozialen Wahrnehmungsmuster in den Alltag gebunden. Diese Pervertierung im Zeichen eines kollektiven Wahns gehörte zu den Konstitutionselementen der Volksgemeinschaft. Das bedeutet nicht, dass der Einzelne, aus psychopathologischer Sicht »gestört« sein muss, im Gegenteil: der Anschluss an die Volksgemeinschaft ermöglicht die Beteiligung und die Mitwisserschaft an Massenverbrechen im Zeichen eines kollektiven Wahnsystems, ohne dass die »Normalität« der Akteure im Sinne einer ­psychiatrisch unauffälligen »Durchschnittlichkeit« wesentliche Einbußen erfahren muss. »Der Wahn war Teil der Normalität geworden, und man könnte durchaus die Behauptung aufstellen, daß der Wahnsinn der »Gesunden« sich an den Geisteskranken und den Juden austobte«.13 Das Absinken in die Barbarei ist faktisch weder ein kollektiver Rückfall in vorzivilisierte Zeiten, noch eine pathologische Regression des Individuums auf eine vorsoziale primitive Stufe seiner Persönlichkeitsentwicklung, sondern vielmehr die Mobilisierung eines zum humanspezifisch und gesellschaftlich »Normalen« zählenden Potentials. Die »Normalpathologie« des Einzelnen verträgt sich durchaus mit der Beteiligung an Massenmorden.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Die objektiven gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse lassen sich selbstverständlich nicht aus dem Seelenleben der Individuen erklären und so lässt sich auch der Antisemitismus natürlich nicht aus den Deformationen des Einzelnen ableiten. Allerdings können wir aus einem (vorsichtigen) Vergleich der Mechanismen von (paranoider) Psychose und Massenwahn viel über das Funktionieren scheinbar vollkommen »normaler« ExekutorInnen einer staatsdoktrinären Vernichtungspolitik und damit über die Antriebskräfte der NS-TäterInnen lernen. Die gesellschaftlich und politisch erzeugte Pervertierung der Wahrnehmung nach dem Muster einer paranoiden Abwehr-Kampf-Haltung ist der erste Schritt zu einer kollektiv in die Tat umsetzbaren Unmenschlichkeit der sogenannten, zum verkürzten Leitbild der NS-Täterforschung avancierten, »ordinary men«.14