Das Schweigen der Kritik
In seiner Neuausrichtung zeigt sich das Frankfurter Institut für Sozialforschung betont politisch und bewegungsnah. Zu einer öffentlichen Stellungnahme zu den Geschehnissen des 7. Oktobers konnte sich das Institut bisher trotzdem nicht durchringen.
Als die Hamas auf unvorstellbar brutale Weise am Samstag, dem 7. Oktober das tödlichste Massaker an Juden seit dem Holocaust verübte, war am Frankfurter Institut für Sozialforschung wenige Wochen zuvor die Konferenz „Futuring Critical Theory“ zu Ende gegangen. In der Ankündigung zur dreitägigen Konferenz hieß es, die Tagung ziele „auf eine Standortbestimmung und Neuausrichtung kritischer Theoriebildung im Lichte der existenziellen Herausforderungen der Gegenwart“1 . Nun konnte man zum Zeitpunkt der Konferenz weder von dem Massaker der Hamas noch von dem folgenden Krieg zwischen Hamas und Israel sowie der massiven globalen Explosion antisemitischer Angriffe wissen. Dass es aber dem Institut für Sozialforschung und seinem Leiter Stephan Lessenich auch in Folge des 7. Oktobers monatelang weder gelungen ist, sich zu dem Massenmord in Israel, noch zu den antisemitischen Attacken in Deutschland wie weltweit in irgendeiner Form zu äußern, befremdet dann doch. Erst am 6. Dezember widmete sich ein Podcast der Reihe „IfS-Aufzeichnungen“ dem Thema. Dort zeigte sich beispielsweise die stellvertretende Direktorin des Instituts Sarah Speck durchaus schockiert von antisemitischen Äußerungen linker Aktivist_innen und Intellektuellen, aber auch Stephan Lessenich fiel zu den Ereignissen seit Oktober nur ein, dass „die Komplexität der politischen Situation schwer, wenn überhaupt zu durchdringen“ sei.2 Wie die einschneidenden Ereignisse des 7. Oktober und ihr globaler antisemitischer Widerhall in der Arbeit des Instituts reflektiert werden sollen, wurde nicht thematisiert. Dies verwundert dann doch. Zu sehr drängt sich in einem solchen historischen Moment auf, dass es das Institut unter Leitung Horkheimers war, dass einst den Antisemitismus als zentrales Moment der Gegenwart ausmachte und deshalb darauf bestand, seine Reflexion und Kritik jeder gesellschaftlichen Emanzipationsbestrebung zugrunde zu legen.
Dass sich die Institutsleitung so schwertut, im Angesicht des Ernstes der Lage an ein Kernthema Kritischer Theorie anzuknüpfen, scheint unmittelbar mit der zur Neuausrichtung des Instituts abgehaltenen Konferenz „Futuring Critical Theory“ aus dem September zusammenzuhängen. Diese Konferenz, in der für eine Beschäftigung mit dem Thema Antisemitismus kein Raum vorgesehen war, hatte sich explizit zum Ziel gesetzt, den Kritische-Theorie-Standort Frankfurt international anschlussfähig zu machen – oder genauer – anschlussfähig an amerikanische Theorieproduktion, die als „Critical Theory“ firmiert. Bereits in seinem Antrittsessay „Petite Auberge Aufbruch“ aus dem Jahr 2022 spricht Lessenich von der Notwendigkeit „den Kanon der Bezugstheorien um queerfeministische und posthumanistische Ansätze, antirassistische und dekoloniale Perspektiven zu erweitern“.3 Auch die Konferenz sollte anhand jener dekolonialen und queerfeministischen Denkfiguren „vermeintliche Gewissheiten der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule“4 (gemeint ist hier die erste Generation) überprüfen um endlich anschlussfähig zu werden.
Praxisnahe Neuausrichtung der Kritischen Theorie?
In der Eröffnungsrede zur Konferenz pochte Lessenich auf die Notwendigkeit, die Kritische Theorie an die Praxis heranzuführen. Adornos und Horkheimers Erbe sei gerade in dieser Hinsicht auch eine Last. Ihr praxisfernes Genörgel aus dem Elfenbeinturm, so der Tenor, stehe der großen Erneuerung (oder im Corporate-Jargon dem „Futuring“) zur Annäherung an Praxis im Wege. Diesem Schema folgten dann auch die Beiträge. Auf einem von Lessenich geleiteten Panel adelte Robin Celikates, Philosoph und Sozialwissenschaftler an der FU Berlin und Permanent Fellow am IfS Greta Thunberg als Kritische Theoretikerin, um dann die Kritische Theorie vor allem als unterstützendes Vehikel für soziale Bewegungen zu verstehen. In eine ähnliche Richtung ging es auch bei Poulomi Saha. Die Professorin aus Berkeley und Co-Direktorin des dortigen „Program in Critical Theory“ hob in ihrem Vortrag ebenfalls die Notwendigkeit hervor, als Kritische Theoretiker_in den „Elfenbeinturm“ zu verlassen und Anschluss an popkulturelle Formen des Widerstandes zu suchen (bei ihr war das konkret auf Anschlüsse an den Spiritualismus-Boom gemünzt). Ein solches Anbiedern an einen (bewegungslinken) Aktionismus komplettiert sich bei einem Blick auf Sahas Profil bei X (vormals Twitter). Wie einige andere Konferenzteilnehmerinnen (z.B. Anna Clot-Garrell, Veronica Gago) wirft sie dort Israel vor, einen Genozid in Gaza zu begehen und teilt Propagandavideos der islamistischen Hamas, verliert aber kein Wort über das von der Terrorgruppe begangene antisemitische Massaker vom 7. Oktober. Die globale antiisraelische Bewegung scheint für sie eine weitere an Kritische Theorie anzuschließende Praxis der Widerständigkeit zu sein.
Auch Robin Celikates hat zusammen mit anderen Konferenzredner_innen (Frieder Vogelmann, Henrike Kohpeiß, Daniel James, Katharina Hoppe) einen offenen „Brief aus Berlin – kritische Wissenschaftler*innen an die deutsche Politik und Öffentlichkeit“ zu Israel erstunterzeichnet, in dem zwar die Massaker vom 7. Oktober verurteilt werden, Israel aber im gleichen Atemzug Genozid in Gaza vorgeworfen wird. In dem Brief findet man Sätze, die Kritischer Theorie schlicht unwürdig sind. Betont staatstragend wird etwa gefordert: „Vorbehaltlose und kritiklose Unterstützung dürfen sich Nationalstaaten aus demokratischer Perspektive nie gegenseitig gewähren, das betrifft auch das Verhältnis zwischen Deutschland und Israel“.5 Die antisemitische Eskalation auf deutschen Straßen erklären sich die Unterzeichner mit etwas, das einer Bankrotterklärung kritischer Theorie gleichkommt: „Gewalt [Polizeigewalt] erzeugt Gegengewalt [antisemitische Gewalt] und erschwert das solidarische Zusammenleben“.6 Eine solch offenbare Verarmung Kritischer Theorie, die einst angetreten war, „der rätselhaften Bereitschaft der technologisch erzogenen Massen, in den Bann eines jeglichen Despotismus zu geraten“7 etwas entgegenzusetzen, zeigt sich dann selbstverständlich völlig unfähig, die globale Obsession mit dem jüdischen Staat als das zu benennen, was sie ist: eine pathische Projektion, die den Juden den Genozid vorwirft, den sie ihnen selbst nur zu gerne antun will. Stattdessen zeugt der Brief auch seiner Form nach davon, dass Kritische Theorie heute für manche bedeutet, möglichst viele Theorieversatzstücke in einem Text zu vermischen, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, diese miteinander zu vermitteln, um eine kohärente Kritik vor dem Hintergrund historischer Erfahrung zu formulieren.
Theoretische Beliebigkeit oder Kritische Theorie?
Nun könnte man einwenden, dass diese Äußerungen zwar bedauerlich sind, aber nichts mit dem Institut für Sozialforschung zu tun hätten. Und tatsächlich hat Stephan Lessenich weder den Brief aus Berlin unterschrieben noch von einem Genozid in Gaza gesprochen. Jedoch zielt Lessenichs neue Institutsprogrammatik einer „Gesellschaftskritik »von unten« und aus allen Winkeln der Welt“ unter anderem auf „Kulturproduzent:innen und Bewegungsakteure“8 ab, von denen sich seit dem 7. Oktober so einige antisemitisch geäußert haben. Denn gerade eine solche Gesellschaftskritik läuft bei ausbleibender Selbstreflexion immer Gefahr, dem Antisemitismus zu verfallen und so als konformistische Rebellion selbst Teil einer gewaltvollen Moderne zu werden, die sie zu beseitigen sucht. Antisemitische Tendenzen in queerfeministischen, dekolonial-antirassistischen und klimapolitischen Bewegungen sind leider keine Seltenheit. Die „Kritische Theoretikerin“ Greta Thunberg hat den Kampf gegen Israel samt Kraken-Kuscheltier ins klimapolitische Zentrum von „Fridays for Future“ gerückt und Demoslogans wie „No climate justice on colonized land“ ausgerufen. In den Post-Colonial-Studies scheinen Ansichten zum 7. Oktober wie die von Najma Sharif (“What did y’all think decolonization meant? vibes? papers? essays?“9 ) weit verbreitet zu sein. Selbst Slavoj Zizek, nicht unbedingt für seine prozionistischen Positionen bekannt, bekundete in einem Interview besorgt, dass Antisemitismus mehr und mehr zum Kernelement antikolonialer Kämpfe wird.
Das Institut für Sozialforschung hätte nicht nur wegen einer ominösen historischen Verpflichtung gegenüber der ersten Generation, sondern auch aufgrund der Gegenwärtigkeit des Antisemitismus die Möglichkeit, die historische Bedeutung des 7. Oktober zum Anlass zu nehmen, ein Forschungsprogramm zu entwickeln, das den Antisemitismus als zentrales Hindernis für eine befreite Gesellschaft berücksichtigt. Dabei könnte es die von Lessenich zurecht betonte Lücke füllen, die die Kritische Theorie erster Generation in Bezug auf eine Untersuchung global-postkolonialer Verhältnisse offengelassen hat. Anstatt der eigenen Bedeutungslosigkeit Vorschub zu leisten, indem man versucht, den „Critical Theory“-Wissenschaftsbetrieb amerikanischer Provenienz nachzuahmen, ließe sich Allgemeines und Besonderes auf produktive Weise verbinden, indem das Institut für Sozialforschung die globale postkoloniale Situation in Rückbesinnung und Weiterentwicklung von Adornos und Horkheimers Antisemitismus- und Zivilisationskritik untersucht. Nicht etwa, um Konservativen das Wort zu reden, deren Kritik am postkolonialen, muslimischen und linken Antisemitismus bloß auf die Affirmation der Verhältnisse gerichtet ist, sondern um die Idee einer befreiten Gesellschaft zu retten, der nicht nur die verdinglichte warenförmige postkoloniale Vergesellschaftung im Wege steht, sondern auch und gerade eine wahnhaft-reaktionäre Rebellion gegen diese, die sich an das alte Sinnbild der Zivilisierung – die Juden – heftet. Auch am Institut selbst gibt es viele, die eingedenk dessen Forschung betreiben. Es bleibt zu hoffen, dass sie mehr Gehör finden. Nicht zuletzt, weil es um mehr geht als „nur“ ein partikular-jüdisches Thema. Der 7. Oktober und die erschreckende globale Reaktion auf ihn verweisen auf ein allgemeines Problem: Wie im Angesicht dessen Befreiung noch gedacht werden kann.