Der Todestag Franz Kafkas jährte sich 2024 zum einhundertsten Mal. Obwohl unzählige Abhandlungen über Werk und Autor dem Versuch erlegen sind, den Werkskern aufzubrechen, und gerade, weil die Versuche, Licht durch das Dickicht zu werfen, mitunter mehr verdunkelt als erhellt haben, gibt Kafka den Leser:innen bis heute sein Rätsel auf. Ein Essay über Kafka und die Kritik an der verwalteten Welt.

 

Kafkas Tagebücher, Erzählungen und die wegen ihrer verstörenden Betörung großartigen Romane sind Gegenstand einer inzwischen einhundertjährigen Deutungsgeschichte. Zuletzt wurde in der diskus in Anlehnung an Habermas‘ Vermittlungsversuche zwischen kantischer Moralphilosophie und hegelschem Sittlichkeitsbegriff die Frage nach dem untergründigen Fortschritt der Vernunft in der Geschichte gestellt. In kritischer Analogie zu Habermas, persiflierte Kafkas Maulwurfsparabel die Paradoxien von Fortschritt und moderner Vergesellschaftung und gemahnte dabei der Bedeutung der frühen kritischen Theorie. Daran anschließend, erscheint es nicht nur mit Rückblick auf das Autorenjubiläum, zu welchem über Kafka vieles geschrieben u gesagt; gefolgert und gedeutet wurde1, nur angemessen, dem in Auseinandersetzung mit Werk und Autor turmhoch zusammengeschobenen Schriftenberg auch die dazugehörigen Notizen Theodor W. Adornos und Walter Benjamins aufzustapeln. Denn wie so häufig, werden ältere Interpretationen durch Neuanläufe verdrängt. Aber die Motive von verwalteter Welt, rationaler Herrschaft oder beschädigter Subjektivität reichen sich nur in wenigen Fällen so eng die Hand wie zwischen Kritischer Theorie und der Prosa Franz Kafkas.

In Adornos Fall steht die Auseinandersetzung mit Kafka unter zögerlichem Unmut vor den Tücken des Rätsels sowie einer Gewalt der deuterischen Prätention, in Kafkas Verschlungenheit der aufgeworfenen Problem- und Fragestellungen gleichsam dazugehörige Antworten finden zu wollen. Die Invektive richtet sich zuvorderst gegen die lange Reihe existenzialistischer Austobungen, die Kafka in einem »Behagen am Unbehaglichen«2 in den Dienst pathetisch platter Sinnstiftung zwingen. Man tue Kafka nach Adorno nämlich reichlich unrecht, wenn sich die Deutung eines Werkes, das es darauf anlegt, zu erschüttern, ins Affirmative stürzt.3 Kafkas Werk schockiert, es belehrt nicht. Seine zumeist erst morbide verzagt und späterhin indolenten Romanfiguren sind schon den zahlreichen Büroräumen ausgeliefert. Daher scheint es ungehörig, ihren schon zu Lebzeiten unter der Tristesse der rationalisierten Verwaltungsbürokratie leidenden Schöpfer zum »Auskunftsbüro über die Lage der erniedrigten Menschen« zu machen und damit die Fratze eines Werkes umzumodeln, das Fluchtwege nur kennt, um auf ihre räumliche Enge hinzuweisen. Wenn sich bei Kafka Türen öffnen, streckt der Arm einen Revolver hinein.4 Anstelle von Auswegen hat das Werk nur Raumängste und statt Schlupfwinkeln die Unentrinnbarkeit der gesellschaftlichen Totalität zum Thema. Wovon man nicht sprechen kann, lässt sich aber ja vielleicht erzählen.

 

Kafkas Prosa vor dem Hintergrund der verwalteten Welt

Kafkas Schriften transponieren das stahlharte Gehäuse der gesellschaftlichen Wirklichkeit - bürokratische Herrschaft, die sich in jeden Winkel erstreckt - in die innere Erfahrung. Auch Bucephalus wirft den traditionellen Herrscher ab und fügt sich in den rationalen Herrschaftsapparat ein.5 Im Panorama der verwalteten Welt treten Kafkas Figuren bezeichnenderweise als Anwälte, Prokuristen, Kaufleute oder Verwaltungsbeamte auf, meistens namenlos. Er (…) kodifiziert am Abhub der verwalteten Welt getreuer und mächtiger, was den Menschen unterm totalen gesellschaftlichen Bann widerfährt (…)«6, wie es in Adornos Ästhetischer Theorie heißt. Die Welt entspricht dem Querschnitt von Horkheimers Wolkenkratzer, in den die Menschen hierarchisch eingeordnet werden. In der Dämmerung schreibt Horkheimer:

 

»Wer ein einziges Mal das »Wesen« des Wolkenkratzers »erschaut« hat, in dessen höchsten Etagen unsere Philosophen philosophieren dürfen, der wundert sich nicht mehr, daß sie (…) immer nur über eine eingebildete Höhe reden; er weiß, und sie selbst mögen ahnen, daß es ihnen sonst schwindlig werden könnte.«7

 

Ebenjener Schwindel, erregt von der Schonungslosigkeit der Erzählung, wird in Kafkas Prosa zur Regel. Das Zentrum der Macht weiß sich zwar jeder Einsehbarkeit zu entziehen, offenbart aber zugleich umso schonungsloser sein unverstelltes Wesen. Es verzichtet auf gezierte Fassaden und Verkleidung in herrschaftliches Gepränge. Die Gerichtssäle sind ranzig, die Amtsstuben für den aufrechten Gang zu tief. »Trist und ramponiert ist die gesamte Bilderwelt Kafkas, auch dort, wo sie hoch hinaus will«8, befindet Adorno. Er hängt sich nicht an der hochglänzenden Politur der kapitalistischen Spätphase auf, sondern dringt zu ihrer Rückseite, dem Kehricht der verdrängten Realität durch. Auch den Vollstreckern des gesellschaftlichen Apparates bleibt ihre Unterwürfigkeit noch äußerlich. Auf die Frage, warum Josef K. verhaftet werde, erwidert ein niederer Angestellter: »Wir sind nicht dazu bestellt, ihnen das zu sagen (…) Ich gehe über meinen Auftrag hinaus, wenn ich ihnen so freundschaftlich zurede.« 9Oder an anderer Stelle: »Was du sagst, klingt ja glaubwürdig, aber ich lasse mich nicht bestechen. Ich bin zum Prügeln angestellt, also prügle ich.«10 Sollte Kafkas Werk neben der bestürzenden Wirkung eine gezielte Kritik enthalten, gilt diese nicht der rationalen Planung, sondern der Rationalisierung des Irrationalen. Frau Grubers Notiz zu K.’s Verhaftung bringt mustergültig Max Webers Sentenz der rationalen Note des vergesellschafteten Menschen zum Ausdruck:11 »Es kommt mir wie etwas Gelehrtes vor, das ich zwar nicht verstehe, das man aber auch nicht verstehen muss.«12

Zur Beschreibung der antagonistischen Sozialverhältnisse verweist Adorno auf Benjamins Begriff der parasitären Macht, die von dem Leben zehrt, auf dem sie wächst. Die Schuld an der Vermachtung aller Sozialverhältnisse wird in Kafkas Werk aber kurzerhand in ihr Gegenteil verkehrt. Nicht die grundsätzliche Asymmetrie der Herrschaft, sondern die unangepasste Ohnmacht der Beherrschten wird zum Problem. Die anonyme Macht weiß sich zu begründen. Die Romanfiguren werden hingegen schlechthin überflüssig. In der verwalteten Welt ist es dem Herrschaftsapparat »doppelt wichtig, sich als ein Nützliches, um der Konsumenten willen Ablaufendes zu präsentieren. Darum wird in der Ideologie die Demarkationslinie von Nützlichem und Unnützem so streng gezogen.«13 Und in der Dialektik der Aufklärung heißt es: »während der Einzelne vor dem Apparat verschwindet, den er bedient, wird er von diesem besser als je versorgt«14 Aber was ist, wenn Nützlichkeit nicht mehr penibel vom Unnützen geschieden wird, wenn nicht die fürsorgliche Einspannung in den Apparat, sondern die sättigende Versorgung versagt? Dann sind wir bei Kafka. In der nach Weber ohnehin schon entzauberten Welt holt dessen jüngerer Zeitgenosse zum zweiten Entzauberungsschlag aus. Glaubte Weber noch auf die Autonomie der Einzelnen vertrauen zu können, die ihre letzten Werte selbstständig setzen, legen Kafkas Erzählungen Zeugnis vom vollkommen desillusionierten und entmutigten Subjekt ab, das »im äußersten Bewusstsein seiner selbst - seiner Nichtigkeit - sich auf den Schrotthaufen wirft«,15 so Adorno. Kafka stellt sich der bürgerlichen Existenz. Er blickt durch den Verblendungszusammenhang hindurch auf die Wertlosigkeit des Eigentums und gewahrt den Grund der bürgerlichen Identität: »Und diesen Grund brauche ich nur eine Viertelstunde ununterbrochen zu spüren und die giftige Welt wird mir in den Mund fließen wie das Wasser den Ertrinkenden”16, wie er in einer frühen Tagebuchaufzeichnung notiert hatte und damit vorwegnahm, was Horkheimer 1942 in Vernunft und Selbsterhaltung herausarbeiten sollte. Dass die Einzelnen durch ihren Zwang zur Selbsterhaltung die Herrschaft der bürgerlichen Gesellschaft perpetuieren, die sie dann zum bedeutungslosen Anhängsel jenes gewaltigen Apparates stempelt, dessen Abdruck immerhin Kafkas Motive liefert. In der Kritik der instrumentellen Vernunft schreibt Horkheimer darüber: »Die Zelle der Gesellschaft ist nicht mehr das Individuum, sondern das soziale Atom, das Individuum allein. Der Kampf ums Dasein besteht in der Entschlossenheit des einzelnen, in der Welt von Apparaturen, Maschinen, Handgriffen nicht jeden Moment physisch vernichtet zu werden«.17 In dieser Welt sind Kafkas Vollstreckte die Protagonisten der erbarmungslos durchschauten Ohnmacht. Nicht grundlos laufen die Menschen, wie Benjamin anmerkt, stellenweise in gebückter Haltung, das Kinn auf die Brust gedrückt. Er deutet sie als Nachkommen der Atlanten, die ein Gewicht in ihrem Nacken tragen, das nicht mehr der Welt, sondern dem Alltäglichem entspricht, befallen von der Phantasie der Angst — wie es bei Nietzsche heißt — jenem äffischen Kobold, der dem Menschen gerade dann auf den Rücken springt, wenn er schon am schwersten zu tragen hat.18 In Auseinandersetzung mit dieser äußeren Welt haben Kafkas Figuren ihre Angst nicht nur verinnerlicht, sie ist zum Organ geworden.19

Adorno sieht in Kafka einen zweiten Marquis de Sade. Beide folgen dem Rufe der Aufklärung. Die Figuren geraten in gleicher Weise von einer verzweifelten Situation in die nächste. Wie es schon Justine erging, wird jede Station der Erzählung zur zynischen Leidensgeschichte eines vergönnten Abenteuers. Sades Justine entkommt den Gräueln des ärztlichen Menschenversuchs nur, um sich einem Bund von Geistlichen anzuvertrauen, die das Vergehen schon im Sinn haben. Josef K. wandelt von Zimmer zu Zimmer, um sich Auskunft über seinen Prozess einzuholen und gibt sich seinem Todesurteil letztlich freimütig hin. Karl Roßmann entkommt der Fabrikhalle seines Onkels, in der die Arbeiter buchstäblich in die Maschinen geschraubt sind. Er vertraut sich einer jungen Dame an, die ihn daraufhin in zärtlicher Pose auf den Boden schleudert.20 Bei Kafka und Sade ist Vernunft am Werk. Im aufklärerischen Wahn kompromittiert die theoretische Vernunft ihren praktischen Widerpart. Auch für Kafka resultiert daraus die notwendige Beziehungslosigkeit. Aber anders als Sade, der sich keiner gleichwertigen Sozialbeziehung hingeben kann, weil diese sein grenzenloses Verlangen nach Autonomie durchkreuzt, findet Kafka keine Beziehung, weil sie ihm schlichtweg nicht vergönnt ist. Seine Leiden zeugen von der Einsicht der Niederlage der Einzelnen gegen die durchrationalisierte Welt. Und so lässt sich auch der zweite in der Dialektik der Aufklärung formulierte Einwand gegen die theoretische Vernunft in Kafkas Werk wiederfinden. Dass die jeder Einbindung in die vermittelte Vorfindlichkeit bare Abstraktion nicht existiert. Josef K. erlebt die Welt nicht in abstrakter Anschauung. Ihre Qualität, eine Ordnung von Gewalt auf der einen, von Ohnmacht auf der anderen Seite wird ihm erbarmungslos ins Bewusstsein zurückgeschleudert.

 

Der Mythos bei Kafka

Mythologischen Erzählungen brennt Kafka seine Umdeutungen ein. Über Poseidon erzählt er nicht mehr als antiken Gott der Weltmeere, sondern als deren bediensteten Verwalter, denn für alte Götter hat die verwaltete Welt nur noch als Angestellte Platz. Der Enthebung von seinem lästigen Posten entgeht er nur durch die Autorität der urzeitigen Gewohnheit, mit der sich der klassische Mythos spiegelbildlich gegen sich selber richtet. Der Meeresgott wird selbst zum Geplagten. Gesehen hat er die Weltmeere noch nie. Er rechnet sie nur durch und durchschreitet sie nicht. Kafka treibt gleichzeitig Mythologisierung und ihre Auflösung voran und bemüht das Format des klassischen Mythos, um ihm die Merkmale der verwalteten Welt einzuritzen. Die gewaltige Apparatur des Bürokratismus kuscht nicht vor Göttern.21 Immerhin dürfte Poseidon Odysseus — jenes Urbild des Bürgers — nicht mehr durch die Weltmeere verfolgen. Er ist ihm inzwischen gleichgeworden und unterliegt ihm dennoch, als angestellte Mimikry jenes Großbürgers, dem immerhin die Herrschaft über das Inselreich gewiss ist.

Odysseus Irrfahrt, der Homerische Epos der Odyssee, gilt Adorno und Horkheimer als Zeugnis der in der Zivilisation seit jeher angelegten Verschlungenheit von Mythos und Aufklärung. Der Grundzug des Buches ist bekannt: Schon der Mythos ist Aufklärung, und: «Aufklärung schlägt in Mythologie zurück22 Im ersten Exkurs wird die List an den Sirenen, der Widerstand gegen ihre tödliche Verlockung als Versinnbildlichung der bürgerlichen Subjektivierung aufgeführt. Die Sirenen verkörpern indessen, was das Individuum seit jeher ausgrenzen und verdrängen musste damit es, getrieben vom Zwang der Selbsterhaltung, sein kann, was es sein will. »Ihre Lockung ist die des sich Verlierens im Vergangenen. Der Held aber, an den sie ergeht, ist im Leiden mündig geworden.«23 Es ist nicht das physische Leben, das sich dem bedrohlichen Gesang ausgeliefert sieht, sondern die psychische Disposition des Subjekts. Die Flucht ins Archaische, die der Vernunft schon immer verhasst war, gilt dem ersten Bürger, der sein Selbst nicht durch Hingabe, sondern die rationale Bemächtigung jedes Wilden und Lebendigen erst gewinnt, als Regression. Die vernünftige List der Selbstfesselung konstituiert das Selbst in vermeintlich emanzipierender Auseinandersetzung mit den Naturgewalten, indem es sich diesen gleichmacht. Odysseus ist nicht das selbstherrliche Individuum, die Selbstfesselung vielmehr Zeichen seiner Ohnmacht. Ihm bleibt die Wahl zwischen verstümmelnder Selbstbehauptung und drohendem Selbstverlust. Für Horkheimer und Adorno stellt die um den Preis der Triebunterdrückung gewonnene Subjektstruktur des abstrakten, funktionalen Selbst die prototypische Unvernunft der kapitalistischen Moderne dar. Instrumentelle Vernunft betrügt die Naturgewalt und das Schicksalsgefüge des Mythos mit der Folge, dass Aufklärung in mythologische Verblendung zurückschlägt. Denn Herrschaft, Ausbeutung und Unterwerfung ist beiden gemein. Die Odyssee wird zur Heimkehr auf einem Sklavenschiff. Als gefesselter Grundherr und Bild des findigen Fabrikbesitzers, verrichtet Odysseus die geistige Arbeit und durchbricht die Gewalt der Natur. Er übersteht das Abenteuer aber nur, weil seine Ruderer, ihrerseits unterworfene Verkörperung der industriellen Fertigung, die uniformierte, körperliche Arbeit verrichten und mit ihrer kraftvollen Hingabe ans schleunige Rudern zugleich jene Ordnung reproduzieren, der sie eigentlich entfliehen sollten.

Bei Kafka ist der Inhalt der Geschichte hingegen verschieden gelagert. Die Überlistung der Sirenen gelingt nicht mehr durch Triebunterdrückung, sondern Selbsttäuschung. Odysseus lässt sich an den Mast binden und versiegelt seine Ohren mit Wachs. Eingenommen von dieser Vorkehrung ist er nicht mehr für den Gesang empfänglich. In sinnlicher Abschirmung der Außenwelt, gibt es nichts, das seine Vorstellung von der Realität konfrontieren könnte. Durch die Fehlannahmen über die Außenwelt verkehrt sich die vermeintlich widerspruchslose Selbstvergewisserung in eine affirmative Selbsttäuschung. Es gibt keine allmächtigen Naturgewalten mehr, aber die Allmacht falscher Vorstellungen. Kafka fährt fort: »Nun haben aber die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe als ihren Gesang, nämlich ihr Schweigen.« Ihre Bedrohung ist die einer Stille, einer Leere, dem Nichts. Und er fügt dieser eine zweite Gefahr hinzu: »Dem Gefühl aus eigener Kraft sie besiegt zu haben, der daraus folgenden alles fortreißenden Überhebung kann nichts Irdisches widerstehen.«24 Von einem Zeichen des Triumphes wird die Überlegenheit zum Siegel des Unterganges. Überlegenheit schützt hier nicht, sie vernichtet. Kafkas Erzählung stellt aber eine Verkettung von Täuschungen dar. Wäre Odysseus aus dem Vertrauen in seine eigene Vorstellung ausgebrochen, hätte er die Sirenen um den Preis seiner Vernichtung schweigen hören. Die Selbsttäuschung wird ihm zur Rettung. Das Motiv der Geschichte wechselt nun vom Gesang auf den Blick. »Flüchtig sah er zuerst die Wendungen ihrer Hälse, das tiefe Atmen, die tränenvollen Augen, den halb geöffneten Mund, glaubte aber, dies gehöre zu den Arien, die ungehört um ihn verklangen.« Im flüchtigen Blick widersteht Odysseus der Versuchung, sich den Sirenen zu nähern, weil er die Distanz zwischen seiner instrumentell vernünftigen Wirklichkeit und der Imagination akzeptiert. Weil er sich dieser bewusst ist, flüchtet sich der Blick gleich wieder in die Ferne und übersieht das Schweigen der Sirenen, die ihm trotz räumlicher Nähe entglitten sind. Er entgeht somit der möglichen Erfahrung, für Dinge außerhalb des instrumentellen Verstandes empfänglich zu sein. Gerade darin liegt aber zugleich seine Rettung. Die Verdichtung der Illusion und Verdrängung der realen Außenwelt retten Kafkas Odysseus auf Kosten seiner Aufgeschlossenheit gegenüber dem restlos abgeschirmten Anderen. Die Überwindung des mythischen Gesetzes, des schicksalhaften Zwangs der Naturgewalten hätte zugleich die Sirenen vertreiben müssen, ihr Bann wäre gebrochen. Weil Odysseus aber nicht gesehen hat, dass sie schweigen, sichert er sich und den Fortbestand der mythologischen Macht samt des unbezeugt gebliebenen Beweises ihrer Entmachtung. Im Unterschied zur Angst des Selbstverlusts aus der Dialektik der Aufklärung geht es in Kafkas Erzählung nicht mehr um die mühselige Konstitution des Subjekts, sondern dessen Auflösung an den Rändern. Es ist »zernagt von den Anstrengungen, lebendige Kräfte zu unterdrücken«,25 wie es schon in den Tagebüchern heißt. Nicht die Beherrschung der Außen- und Unterdrückung der Innenwelt sind zentral, sondern die Verkennung der natürlichen Außenwelt durch die Täuschung über das eigene Selbst. Das Subjekt verweigert sich dem Blick in die Leere: »Ein Bann liegt über Kafkas Raum; das in sich verschlossene Subjekt hält den Atem an, als dürfe es nichts anfassen, was nicht ist wie es«.26 Unter diesem Bann schlägt Subjektivität aber ebenfalls in Mythologie um. Das Subjekt verweigert sich der Kraft zur Unterscheidung. Die absolute Subjektivität verliert ihr Subjekt, wenn es kein Äußeres mehr gibt, an dem es sich formen und gegen das es sich formieren kann. Je mehr sich das Selbst in sich zurückzieht wird es zum »blinden Rest der Welt«,27 es kennt nur noch sich selbst und ähnelt der ausgeschlossenen Dingwelt sich an.

*.notes

  • 1

    Anlässlich des Autorenjubiläums wurde in München («Kafka 1924«)  eine Ausstellung zu Kafkas Kunstverhältnis organisiert. Das Goethe Institut in Prag reagierte auf das Jubiläum mit einer Veranstaltungsreihe (Being Kafka). Wie für Kulturbetrieb und Kulturbericht nicht unüblich, blieb die Bedeutung der Gesellschaftskritik innerhalb des Werkes dabei tendenziell unterbelichtet. 

  • 2

    Adorno W., Theodor : GS 10.1, S. 254. 

  • 3

    Einen existenzialistischen Deutungsansatz mit Nachdruck auf die Überwindung von Angst und Beklemmung liefert beispielsweise Albert Camus in der Mythos des Sysiphos. Entgegen Adornos Position sieht Camus Kafkas Prosa zum Anlass, dem Absurden die Treue zu halten. Vgl. Camus, Albert: Der Mythos des Sisyphos. Für jüngere existenzialistischen Interpretationsansatz vgl. Brockmeier, J.: Identity and Transformation in Kafka’s The Metamorphosis: An existentialist interpretation. In: Philosophy and Literature, 48(3), 2020, S. 134-146. oder Ionescu, C.: Kafka’s existential insects: Identity, absurdity, and death in TheMetamorphosis. Modern Humanities Review, 17(3), 2020, S. 88–102.

  • 4

    Kafka, Franz: Tagebücher, S. 261. 

  • 5

    Kafka, Franz, Die Erzählungen, Frankfurt a.M.: Fischer, 2002, S. 285f. 

  • 6

    Adorno, GS 7, S. 342. 

  • 7

    Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften Bd. 2, Frankfurt a.M: Fischer, S. 380f. 

  • 8

    Adorno, GS 10.1, S. 267. 

  • 9

    Kafka, Franz: Der Proceß, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2005 S. 9

  • 10

    Ebd. S. 25

  • 11

    Vgl. Weber, Max (1922): Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, S. 449. 

  • 12

    Kafka, Der Proceß, S. 92. 

  • 13

    Adorno W., Theodor: GS 8.1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp S. 129. 

  • 14

    Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften Bd. 5, Frankfurt a.M.: Fischer,  S. 20. 

  • 15

    Adorno, Gesammelte Schriften Bd. 10.1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 280.

  • 16

    Kafka, Tagebücher, S. 17. 

  • 17

    Horkheimer, Gesammelte Schriften Bd. 3, S. 337. 

  • 18

    Nietzsche, Friedrich: Werke in Drei Bänden, Bd. 1, München: 1960, S. 700.  

  • 19

    Benjamin, Walter: Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages, in: Hermann Schweppenhäuser (Hg.): Benjamin über Kafka, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S. 44. 

  • 20

    Kafka, Franz: Der Verschollene, Frankfurt a.M.: Fischer, 1993, S. 71f. 

  • 21

    Kafka, Erzählungen, S. S. 371ff.

  • 22

    Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften 5, S. 21

  • 23

    Ebd. S. 55

  • 24

    Kafka, Erzählungen, S. 351ff. 

  • 25

    Kafka, Tagebücher: S. 356. 

  • 26

    Adorno GS 10.1, S. 275. 

  • 27

    Ebd.