Wie kaum eine andere Debatte prägt die Frage nach dem normativen Maßstab einer gelungenen Gesellschaftskritik die neuere Kritische Theorie. Zwischen den eher kantischen und hegelschen Varianten scheiden sich die Geister. Jürgen Habermas versucht dabei stets, eine vermittelnde Position zu finden – was er dabei jedoch unterschlägt, ist die radikale Unvernunft des Subjektes, der Franz Kafka ein literarisches Denkmal gesetzt hat.

»Der Maulwurf der Vernunft ist nur in dem Sinne blind, dass er den Widerstand eines ungelösten Problems erkennt, ohne zu wissen, ob es eine Lösung geben wird. Dabei ist er hartnäckig genug, um sich trotzdem in seinen Gängen weiter voranzubuddeln«.1 Mit diesen Worten endete der legendäre Vortrag Noch einmal: Zum Verhältnis von Moralität und Sittlichkeit von Jürgen Habermas an der Goethe Universität in Frankfurt im Juni 2019. Der Vortrag markiert – von einem Feueralarm vorübergehend unterbrochen – seinen letzten öffentlichen Auftritt in einer seiner wichtigsten Wirkstätten. Wenig überraschend versucht Habermas darin noch einmal das Verhältnis zwischen dem kantischen Moral- und dem hegelschen Sittlichkeitsbegriff auszuloten. Während es Kants Konzeption der Autonomie erlaube, die Freiheit des Subjekts in Form einer »vernünftigen Selbstbindung« mit dem moralischen Gesetz zusammenzudenken, stelle Hegel das damit einhergehende ideale »Ich« vom Kopf auf die Füße: Er verstehe das Individuum zuvorderst als Teilnehmerin einer Gesellschaft, die aufgrund der polarisierenden Dynamiken moderner Gesellschaft zu destabilisieren drohe. Hegel ging es Habermas zufolge daher weniger um die Reinheit des moralischen Gewissens des Einzelnen, als um die soziale Integration des Ganzen, die er durch die wirklichen Erscheinungsformen des objektiven Geistes in Familie, Gesellschaft und Staat sichern wolle. Ob Habermas mit dieser Interpretation richtigliegt, kann angezweifelt werden. Außer Frage steht hingegen, dass die neuere Kritische Theorie im Zeichen dieser Debatte zwischen Kant und Hegel steht.2

Während sich die verschiedenen Ansätze der Kritischen Theorie zwar darin einig sind, dass es nicht so bleiben kann, wie es ist, sind sie sich doch fundamental uneinig, wie der normative Maßstab einer solchen Kritik zu begründen ist. Dabei lässt sich analog zu Habermas‘ Vortrag zwischen kantischen und hegelschen Positionen unterscheiden, die mit jeweils eigenen Vorzügen und Problemen verbunden sind. Geht man in Anlehnung an Hegel davon aus, dass Anteile der Vernunft bereits in den Institutionen und Praktiken der bestehenden Gesellschaft realisiert sind und rational rekonstruiert werden können, ist man in der Lage, auf bereits verfügbare motivationale Ressourcen zurückzugreifen, um den geforderten gesellschaftlichen Wandel einzuleiten. Doch damit einher geht zugleich der Nachteil, nicht hinreichend rechtfertigen zu können, welche dieser Institutionen und Praktiken den anderen aus guten Gründen vorzuziehen sind. Versucht man umgekehrt nach kantischer Manier den Maßstab aus der praktischen Vernunft herzuleiten, die jedem Subjekt unabhängig von ihrer konkreten sozialen Eingebundenheit zukommt, ist man zwar in der Lage, wünschenswerte und weniger wünschenswerte Praktiken eindeutig zu qualifizieren. Allerdings kann man sich in diesem Fall nicht sicher sein, ob die Kritik hinreichend viele Anknüpfungspunkte in der bestehenden Gesellschaft vorfindet, um die erforderliche Durchschlagskraft zu mobilisieren – oder ob sie folgenlos an ihr abgleitet.3 Die Ohnmacht des abstrakten Sollens und des konkreten Seins der kantischen und der hegelschen Position halten sich die Waage. 

 

Zwischen Moralität und Sittlichkeit

Habermas versucht nun, zwischen den Vor- und Nachteilen Kants und Hegels zu vermitteln und liefert dabei gleichzeitig eine Antwort auf die Maßstabsproblematik der Gesellschaftskritik. Kant erkaufe sich den fixen, universellen Maßstab des moralischen Gesetzes nur um den Preis der Annahme eines transzendentalen Ichs, demgegenüber die wirkliche Rechtsordnung nur "das blasse Spiegelbild der Moralität bleiben musste – bloß ein Schattenriss des intelligiblen Reichs der Zwecke in der Welt der Erscheinungen«.4 Damit verliere er den Blick für die sich in den konkreten Praktiken der Subjekte widerspiegelnden Verhältnisse, der bei Hegel schon den Boden für die marx’sche Ideologiekritik bereite. Hegel scheitere Habermas zufolge jedoch daran, dass er, um die fragliche soziale Bindungskraft herzustellen, eine Unterordnung des Einzelnen fordert, die er nur rechtfertigen kann, indem er davon ausgeht, dass sich die Vernunft als Geist »hinter dem Rücken der Subjekte« in der sozialen Ordnung objektiviert. Der blinde Maulwurf, der bei Kant noch das Gegenteil der Vernunft ausmachte, wird bei Hegel (und später bei Marx) entsprechend zu dessen Manifestation, »denn der Geist gräbt unter der Erde fort und vollendet sein Werk«.5

Um solch »naiven« Maulwurfsvorstellungen zu entgehen, bringt Habermas seine Theorie der kommunikativen Vernunft in Stellung. Darin wird der innere, moralische Monolog auf den öffentlichen Dialog zwischen Subjekten einer realen Gesellschaftsform ausgeweitet. Der normative Maßstab einer Gesellschaftskritik ergibt sich auf diese Weise aus dieser selbst heraus – aus dem Konsens, auf den die Subjekte in ihrer Rolle als Teilnehmer eines Diskurses notwendig abzielen, in dem sie bestimmte Geltungsansprüche (wie etwa der normativen Richtigkeit) voraussetzen müssen, die sie mit guten Gründen einlösen können. Genau diese Form des Diskurses verbindet die kantische Anforderung der moralischen Autonomie jedes Gesellschaftsmitgliedes, die in den demokratischen Verfassungsstaaten institutionell verwirklicht ist, mit der hegelschen Anforderung der sozialen Integration dieser Mitglieder in einer bestehenden Lebensform. Damit können die Ressourcen der Kritik auf faktische Praktiken und Institutionen zurückgreifen, anstatt wirkungslos daran abzuprallen und dennoch die Stimme des Gewissens des Einzelnen ausreichend zur Geltung bringen. Das ist zwar alles andere als einfach, doch der Vortrag endet auf dem optimistischen Ton des Eingangszitates. Die Vernunft der Gesellschaftsmitglieder kann zwar nicht aus sich heraus die gerechte Gesellschaft konstruieren und die passende Lösung für jede Herausforderung liefern – in diesem Sinne ist der Maulwurf weiterhin blind – wohl aber kann die Vernunft allerhand »ungelöste Probleme« ausbuddeln, in der Hoffnung, dass sich die Gesellschaft daran kommunikativ abarbeitet. Der Appell ist klar: Grab, kleiner Maulwurf, grab!

Allerdings lässt sich fragen, mit welchem Recht Habermas hier Maulwurf und Vernunft miteinander identifiziert. Die Vernunft ist ein Maulwurf, da sie blind und trotzdem produktiv ist. Aber ist umgekehrt der Maulwurf, der sich zu den sozialen Problemlagen durchgraben soll, überhaupt vernünftig? Diese Fragen machen auf eine Leerstelle auch in der zwischen Kant und Hegel vermittelnden Position von Habermas aufmerksam, die alle drei teilen: Ein Vernunftoptimismus, der der ersten Generation der Kritischen Theorie so fremd war. Es ist daher kein Zufall, dass sich die Autoren dieser Generation wie Walter Benjamin, Theodor W. Adorno und Siegfried Kracauer so intensiv mit dem Werk Franz Kafkas auseinandergesetzt haben. Denn wie kein zweiter hat Kafka dem Vernunftpessimismus dieser Denker literarisch Ausdruck verliehen. Passenderweise findet sich in einer von Kafkas vielen Fabeln mit dem Titel Der Bau ebenfalls ein kleiner Maulwurf – dieser schaufelt sich jedoch immer tiefer in seine eigenen Probleme.

 

Kafkas Bau

Der Maulwurf dieser Geschichte verhält sich auf den ersten Blick sehr vernünftig, gar wie das rationale Subjekt schlechthin. Ganz vorausschauend und umsichtig hat er sich einen gewaltigen Bau angelegt, der ihn gegen Wind, Wetter und Feinde aller Art schützt. Doch die Kehrseite dieser behaglichen Sicherheit, die der Maulwurf durch die Kalkulation verschiedener Zukunftsszenarien und entsprechender Handlungsfolgen zustande brachte, ist das schleichende Gefühl eines drohenden Kontrollverlustes. Jeder unvorhergesehene Luftzug, jedes plötzliche Rascheln und Knacken wecken seine Angst. Muss er einmal zum Jagen aus dem Bau kriechen, benötigt er eine Ewigkeit – zuerst, um sich dem unsicheren Außen anzunähern und dann, um von Draußen mit der Beute wieder in den sicheren Bau zu gelangen. Das liegt daran, dass er sich die Perspektive eines möglichen Feindes zu eigen macht, der seinen Bau ausspionieren und darin eindringen könnte, um seine Beute zu stehlen. Das rationale Kalkül wird hier zu einem irrationalen Zwang. Hat der Maulwurf seinen einmal Bau verlassen, kann er sich ihm nur langsam wieder nähern. Er muss sich zunächst in unmittelbarer Umgebung verkriechen, um dann möglichst rasch in sein Heim zu huschen. Ist er endlich angekommen, kann er sich auf seiner Beute ausruhen – allerdings nur, bis der Bau wieder nach ihm ruft, sich ihm zahlreiche, noch auszubessernde Unsicherheiten aufdrängen. Dann heißt es wieder: Grab, kleiner Maulwurf, grab!

Doch plötzlich rüttelt ihn ein unbekanntes Geräusch aus dem gewohnten Rhythmus. Ein Zischen, das immer näher zu kommen scheint. Er stellt sich einen Feind vor, ausgestattet mit einem großen Rüssel, den das unbekannte Tier immer wieder in den Boden rammt, um nach jedem Schlag zischend einzuatmen. Auf diese Weise haut sich der Feind bis zum stabilen Bau und Beutelager des Maulwurfs durch. Diese Vorstellung paralysiert das umsichtige Subjekt. Jedes Handlungsszenario erfüllt ihn mit einer schleppenden Angst. Anstatt aus dieser Paralyse aufzuschrecken, den Grund des Geräusches kritisch zu befragen und seine Ängste vernünftig zu reflektieren, verzweifelt er an der einmal verpassten Chance, sich gegen diese Bedrohung im Vorhinein abzusichern – und das bis zum Schluss.

 

Der Maulwurfshügel der Moderne

In Kafkas Fabel drückt sich eine Dimension der Ohnmacht aus, mit denen die hegelsche Rekonstruktion und die kantische Deduktion, aber auch Habermas‘ Vermittlungsversuch konfrontiert sind. Diese Dimensionen waren den Kafka-Lesern der frühen Kritischen Theorie hingegen genauestens bekannt. Es ist die Ohnmacht gegenüber verselbständigten sozialen Funktionssystemen, die Horkheimer und Adorno aus der Lektüre von Max Weber übernehmen und die bei Kafka allegorisch vorliegt. In der Moderne haben sich soziale Systeme ausdifferenziert, die einseitig bestimmte Funktionen erfüllen, etwa der Staatsapparat in der Regulierung der Gesellschaft durch administrative Macht und die Wirtschaft in der Reproduktion der Gesellschaft über die kapitalistische Form des Warentauschs. Diese Systeme, so die These bereits von Weber, reproduzieren sich »hinter dem Rücken der Subjekte«, geben ihnen fixe Zwecke vor, nach denen sie ihre Handlungen »rational« auszurichten haben. Dabei handelt es sich jedoch um eine reduzierte, instrumentelle Vernunft, die auf die fixen Zwecke der Systeme selbst nicht zu reflektieren vermag. Das hat mit dem geronnen Geist Hegels wenig gemein.

In Kafkas Geschichte ist es der Bau selbst, der diese Form des Kontrollverlustes symbolisiert. Im Angesicht des eigenen Schweißes aus freien Stücken errichtet, dreht sich das Verhältnis im Verlauf der Geschichte: der Bau fängt an, den Maulwurf zu beherrschen. Dieser identifiziert die eigene Selbsterhaltung vollständig mit den von ihm produzierten Strukturen und stattet sie mit einem Eigenleben aus. Jede Stärke und Schwäche dieser Struktur ist eine Stärke und Schwäche des Maulwurfs selbst. Wirkt auch nur ein kleiner Teil des Baus anfällig, muss M schon wieder tätig werden, ohne eine Reflexion auf den Zweck dieser Tätigkeit. Es ist gar vorstellbar, dass das Zischen am Ende der Geschichte ein Zischen der Struktur selber ist, ein Luftzug, ein Leck, das die Macht des Baus über den Maulwurf zementiert.

Diese Herrschaft autonomer Strukturen, die den Subjekten einen Modus der Vernunft aufzwingt, der die Strukturen selbst unangetastet lässt, stellt für die drei Spielarten der neueren Kritischen Theorie bloß eine geringe Hürde da. Selbst wenn sie, wie Habermas, explizit auf den Problemkomplex verselbstständigter Funktionssysteme zu sprechen kommt, erscheint der Bau als mindestens indirekt kontrollierbar. Das liegt an einem nie aufgehenden Rest an Vernunftoptimismus: Die neuere Kritische Theorie propagiert, dass der instrumentellen Ratio jeweils eine andere Vernunft kritisch entgegenzutreten vermag – sei es die universelle praktische Vernunft der Subjekte, ein aus den bereits bestehenden Institutionen und Lebensformen rekonstruierbarer Vernunftkern oder die intersubjektive Vernunft kommunikativen Handelns. Der Maulwurf der Vernunft von Habermas und Co. buddelt sich also, halbblind wie er ist, immer weiter und widersteht mal besser mal schlechter seinen Hindernissen. Kafkas unvernünftiger Maulwurf hingegen, der Maulwurf der frühen Kritischen Theorie, gräbt, blind wie er ist, zwar ein Stückchen weiter. Allerdings gräbt er kreisförmig, folgt fremden Stimmen und bleibt schließlich mutlos liegen. Der Widerstand des ungelösten Problems, den das Tier – so die Ironie der Geschichte – selbst erzeugt hat, ist zu hartnäckig. Am Ende kann der Appell daher nur lauten: Hör auf zu graben, kleiner Maulwurf, es lohnt sich nicht!