Wird das Grundgesetz verändert?
Am 24. Januar hat der Bundestag den von der Bundregierung unter Federführung des Ministers Höcherl vorgelegten Entwurf zu einem verfassungsändernden Notstandsgesetz (Entwurf eines Gesetzes zur Ergänzung des Grundgesetzes) zusammen mit neun weiteren Entwürfen, den sogenannten einfachen Notstandsgesetzen in der ersten Lesung beraten. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb dazu: »Der Bundestag hat die Notstandsgesetze so diskutiert. als müsse er eine ihm unbequeme Pflichtübung absolvieren.« Es habe sich kaum der Eindruck ergeben, daß hier eines der wichtigsten Gesetze behandelt wurde, über die das Parlament in der Legislaturperiode beschließen muß.
Die Notstandsdebatte war in der Tat nicht mit der Diskussion über den Gesetzesentwurf des damaligen Innenministers Schröder am 28. September 1960 zu vergleichen. Damals beteiligten sich die besten Redner der Opposition und brachten letztlich den Regierungsentwurf zu Fall. Am 24. Januar haben zwar alle im Bundestag vertretenen politischen Parteien Kritik geübt; aber alle Parteien erklärten sich bereit (die SPD nur hinsichtlich der Bestimmungen über den äußeren Notstand), auf der von der Regierung vorgelegten Grundlage über eine Veränderung unserer Verfassung zu beraten. Die Entscheidung über das Notstandsgesetz wurde damit – zumindest vorerst – den Augen der Öffentlichkeit entzogen und in die Ausschüsse verlagert. Diese Handhabung ist deshalb besonders fragwürdig, weil die wesentlichen Fragen einer Notstandsgesetzgebung in der ersten Lesung überhaupt nicht behandelt worden sind. Zu diesen Fragen gehört
- ob überhaupt eine zusätzliche verfassungsverändernde Notstandsregelung erforderlich ist
- welches Prinzip die zusätzliche Notstandsregelung bestimmen müßte, wenn nicht Geist und Substanz des Grundgesetzes entscheidend verändert werden sollen
- was für ein ›Geist‹ aus dem Regierungsentwurf spricht.
Warum zusätzliche verfassungsrechtliche Notstandsregelungen?
Über diese Frage hat man im Bundestag kaum noch diskutiert. Die ablehnende Haltung der Gewerkschaften gegenüber jeder zusätzlichen Notstandsregelung wurde entweder als psychologische Reaktion auf einige »Äußerungen« Höcherls oder als Resultat einer Notstandspsychose interpretiert. Dabei stützen sich die Gegner der Notstandsgesetzgebung auf eine verfassungsgestaltende Grundentscheidung. Denn der Parlamentarische Rat hat in der 57. Sitzung des Hauptausschusses am 5. Mai 1949 eine verhältnismäßig einschneidende Notstandsregelung – den Artikel 111 des Verfassungsentwurfes vonHerrenchiemsee – auf Antrag der Abgeordneten Dr. Zinn (SPD), Dr. Dehler (FDP) und Dr.von Mangoldt (CDU) gestrichen. Der Parlamentarische Rat hielt die in den Artikeln 91, 37 und 81 des Grundgesetzes vorgesehene Notstandsregelung für ausreichend. Er hat diese Bestimmungen ergänzt durch die Vorschriften der Artikel 9 Absatz 2, 21 Abs. 2 und 18, die vorbeugende Maßnahmen gegen verfassungsfeindliche Betätigung ermöglichen. Gerade die Möglichkeit zum Verbot politischer Parteien und Verbände hat sich als äußerst wirksam erwiesen. Mit Recht stellte deshalb Adolf Arndt fest: »An gesetzlicher und technischer Ausrüstung zum militanten Schutz ihrer Verfassung gleicht die Bundesrepublik einem mit Polarisraketen bewaffneten Atom-U-Boot, die Weimarer Republik dagegen einem Polizisten.«
Für den Verteidigungsfall hat man 1956 durch die Einfügung der sogenannten Wehrverfassung mit den Artikeln 17 a, 59 a und 65 a Vorsorge getroffen. Damals hielt man auch für diesen Fall eine Einschränkung des Grundrechts der Freizügigkeit und des Rechtes der Unverletzlichkeit der Wohnung zusammen mit dar allgemeinen Möglichkeit, die Grundrechte durch Gesetzesvorbehalt und Inhaltsbestimmung einzuschränken für ausreichend.
Angesichts dieser Rechtslage befremdet es, daß ausgerechnet der Minister, der die Verfassung schützen soll, in der Bundestagsdebatte vom »Ausfüllen einer Lücke« sprach und davon, daß ohne zusätzliche Notstandsregelung, die »verantwortlichen Organe der Staatsführung« im »Ernstfall« dem Konflikt ausgesetzt seien, sich notfalls »auf einen übergesetzlichen Notstand mit all seinen flexiblen Möglichkeiten« zu berufen. Leider hat kein Bundestagsabgeordneter dem Innenminister unmißverständlich entgegengehalten, daß die Anwendung eines »übergesetzlichen Notstandsrecht« den Prinzipien unserer Verfassung widerspricht und als Verfassungsverrat im Sinn von § 89 des Strafgesetzbuches anzusehen ist, der mit Zuchthaus bestraft wird.
Das ›Wie‹ zusätzlicher Notstandsregelungen
Der Bundestag hat auch das ›Wie‹ einer zusätzlichen verfassungsrechtlichen Notstandsregelung nicht von der grundsätzlichen Alternative her diskutiert, die in einer Demokratie entscheidend ist: bestimmt den Eintritt des Notstandsfalles ein parlamentarisches Gremium oder die Exekutive? […]
Gerade diejenigen, die auf das römische Beispiel hinweisen, verschweigen jedoch häufig, daß die Wahl des Diktators durch ein demokratisches Gremium und darüber hinaus nur für begrenzte Zeit erfolgte. Eine zeitliche Begrenzung sah auch der Artikel 111 des Herrenchiemseer Entwurfs vor. Davon ist in der jetzigen Regierungsvorlage nicht mehr die Rede. Sie ermöglicht es praktisch der Exekutive, den Notstandsfall festzustellen, Notverordnungen zu erlassen und andere Notstandsmaßnahmen zu ergreifen, ohne dazu von einem parlamentarischen Gremium legitimiert zu sein. Mit anderen Worten heißt das: Derjenige, der die Macht im Staate innehat, könnte – wenn diese seine Machtposition bedroht ist – Notstandsmaßnahmen ergreifen, nicht um ›den‹ Staat, sondern um seine Herrschaft zu bewahren. Die Diskussion über die Frage, ob eine einfache oder eine Zweidrittelmehrheit den Notstand feststellen soll, ist solange relativ unbedeutend, als der Exekutive die Möglichkeit belassen wird, bei Gefahr im Verzuge oder bei einem Angriff auf das Bundesgebiet mit Waffengewalt Maßnahmen zu ergreifen, ohne daß der Bundestag oder ein Notstandsausschuß über den Eintritt dieses Zustandes entschieden hat. Die Entgegnung auf einen Abänderungsvorschlag des Bundesrates und Höcherls Erklärung, das Notverordnungsrecht der Regierung sei »unverzichtbarer Bestandteil" seines Entwurfs, zeigen, daß die Bundesregierung mit aller Macht darum kämpft, der Exekutive die Entscheidungsgewalt zu geben. Die gegen den Spiegel gerichtete Aktion hat offenbart, wie dehnbar etwa der Begriff Gefahr im Verzuge ist, an den die Bundesregierung ihre Befugnis knüpfen will. Auch die Formel Angriffmit Waffengewalt ist nicht eindeutig. Kann man nicht auch jede Grenzstreitigkeit und jede Knallerei an der Grenze darunter subsumieren? Und haben wir vergessen, daß wir einst durch den Überfall auf den Sender Gleiwitz, der von Deutschen in polnischer Uniform unternommen wurde, in den zweiten Weltkrieg hineinmanövriert worden sind?
Der ›Geist‹ des Regierungsentwurfs
Man hat im Bundestag am 24. Januar nicht nur diese Problematik nicht diskutiert , sondern auch Dinge nicht zur Sprache gebracht, die den ›Geist‹ des Höcherlschen Entwurfs beleuchten können. Es handelt sich hier um die Einstellung der Bundesregierung gegenüber den Rechtsgarantien bei Freiheitsentzug und gegenüber dem Bundesverfassungsgericht. In der Sitzung des Bundesrates am 26. Februar 1960 erklärte der hessische Ministerpräsident Dr. Zinn zu der im damaligen Notstandsentwurf vorgesehenen Außerkraftsetzung des Art. 104Abs. 2 und 3 des Grundgesetzes (die Vorschriften besagen, daß die Polizei jeden Verhafteten binnen 24 Stunden einem Richter vorführen muß):
»Der Träger der Notstandsvollmachten könnte – na sagen wir – Konzentrationslager einrichten, um politische Gegner zu beseitigen, ohne daß diese sich auf die aus den bitteren Erfahrungen der Vergangenheit geborene Freiheitsgarantie der Verfassung berufen könnten. Man wende nicht ein, daß auch nach dem Entwurf noch eine richterliche Überprüfung von Freiheitsentziehungen gewährleistet werden soll. Denn das Wissen des geltenden Freiheitsschutzes besteht ja darin, daß diese richterliche Überprüfung innerhalb bestimmter, kurzer Fristen erfolgen muß. Nach dem Entwurf können gerade diese Schutzfristen durch Notverordnungen beseitigt werden, die richterliche Überprüfung der Freiheitsrechte kann also so lange hinausgeschoben werden, daß sie mehr oder weniger wirkungslos wird. Darin liegt ein klarer Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip, das auch in Zeiten des Ausnahmezustands nicht angetastet werden darf.«
Man sollte meinen, daß dieser wesentliche Einwand von der Bundesregierung berücksichtigt worden ist. Zunächst scheint es auch so denn es heißt in Art. 115 a Abs. 2Buchstabe d: »Durch Bundesgesetz können für die Dauer des Zustandes der äußeren Gefahr für Freiheitsentziehungen abweichend von Artikel 104 Abs. 2 und 3 Fristen festgesetzt werden, die jedoch die Dauer einer Woche nicht überschreiten sollen.« Liest man die Vorschrift genauer, dann sieht man, daß im Grundsätzlichen gegenüber dem Schröderschen Entwurf nichts verändert ist. Der Jurist weiß, daß eine Sollbestimmung nicht zwingend ist. Die Bundesregierung hat einen entsprechenden Änderungsvorschlag des Bundesrates mit der Begründung abgelehnt, »eine Mußvorschrift hätte zwangsläufig zur Folge, daß festgenommene Personen nach Ablauf der Wochenfrist in jedem Fall ohne Rücksicht auf die Schwere der Tat und ihre besondere Gefährlichkeit in der gegebenen Situation – also u. U. auch Plünderer, Angehörige von Sabotagetrupps , Agenten oder Spione […] [freigelassen werden müssen]«.
[Man kann] es nur als abenteuerlich bezeichnen, daß die Bundesregierung zu der Begründung Zuflucht nimmt, in sieben Tagen sei ein Richter nicht aufzutreiben. Man wird jedenfalls das Mißtrauen nicht los, zumal Generalstaatsanwalt Dr. Fritz Bauer in diesem Zusammenhang folgende Bemerkung notierte:
»Wir wissen auch einiges von den Träumen unserer Bürokratie. Ein kleiner Angestellter des Bundesinnenministeriums Schröder fotografierte insgeheim Entwürfe für Notverordnungen , zu denen die Bundesregierung für den Fall X damals durch Grundgesetzänderung ermächtigt werden wollte. Eine nach Pressemitteilungen 94 Paragraphen lange Verordnung über Sicherheitsmaßnahmen sollte z.B. gestatten, eine Person in ›polizeilichen Gewahrsam‹ zu nehmen, wen sie aufgrund ihres früheren Verhaltens dringend verdächtig wäre, in Zukunft Handlungen zu begehen, zu fördern oder zu veranlassen, die als Hochverrat, Staatsgefährdung, Landesverrat, oder als Straftat gegen die Landesverteidigung strafbar sind. Führungskräfte der Schlüsselindustrie sollten nach der gleichen Verordnung abgelöst werden, wenn ihre staatsbürgerliche oder persönliche Unzulässigkeit zu befürchten stünde.«
Offenbar denkt die Bundesregierung noch immer daran, »mißliebige Personen« im »Ernstfall« in ein Lager zu stecken, das man vielleicht vornehm ›Quarantänelager‹ nennen wird, das aber letztlich mit einem Konzentrationslager identisch ist. Ein anderer ›wunder Punkt‹ des Regierungsentwurfes ist die Stellung des Bundesverfassungsgerichts. Die SPD hat in ihren Sieben Punkten zur Notstandsgesetzgebung gefordert, die Funktionsfähigkeit dieses Gerichts müsse gesichert sein und jede Maßnahme müsse vor es gebracht werden können. Auch der heutige Bundesjustizminister Dr. Sucher hatte am 26. September 1960 von einer »Negativliste« gesprochen , die bestimmen sollte , daß »etwa das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht im Notstandsfall nicht angetastet werden darf«.
Jeder Demokrat, der die rechtsstaatliche Struktur der Bundesrepublik auch bei einem Notstand gewährleistet wissen will , durfte erwarten, daß die Bundesregierung einer solchen begrenzten Forderung ohne weiteres nachkommen konnte. Der neue Entwurf hätte den Passus enthalten sollen: »Während des Zustandes der äußeren und inneren Gefahr, sowie im Fall des Katastrophenzustandes kann das Bundesverfassungsgerichtsgesetz nicht geändert werden.«
In der von der Regierung vorgeschlagenen Formulierung heißt es jedoch lediglich, daß dieses Gesetz durch Notstandsgesetz oder Notverordnung nur unter bestimmten Umständen (Zustimmung des Gerichts usw.) verändert werden kann und daß die »verfassungsmäßige Stellung und die Erfüllung der verfassungsmäßigen Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts und seiner Richter« nicht beeinträchtigt werden darf (Art. 115 e Abs. 1 und 2). Überprüft man die Möglichkeiten, die bei einer derartigen Regelung bleiben, dann ergibt sich folgendes: Die Regierungsmehrheit , die im Zweifelsfall entweder über die Feststellung oder aber zumindest über die Aufrechterhaltung des äußeren Notstandes und damit zugleich über die Verlängerung ihrer Wahlperiode entscheidet, kann durch ein vom Bundestag beschlossenes Gesetz das Bundesverfassungsgerichtsgesetz ändern. Dadurch könnte das Recht des Staatsbürgers zur Verfassungsbeschwerde gegen einen Eingriff in Grundrechte abgeschafft werden. Ferner könnten neue Senate, neue Zuständigkeiten der Senate und neue Vorschriften über die Wahl der Bundesverfassungsrichter geschaffen werden. Mit anderen Worten: die Parlamentsmehrheit könnte einen neuen Senat mit ›ihren‹ Leuten besetzen und diesen Senat für alle ›Notstandsfragen‹ für zuständig erklären. Ein Eingreifen des Bundesverfassungsgerichts gegen Notstandsmaßnahmen wäre damit praktisch unmöglich gemacht, ohne daß die »verfassungsmäßige Stellung des Bundesverfassungsgerichts und seiner Richter« formell angetastet würde.
Die Bundesregierung ist also auf die Forderung, eine Schutzbestimmung für das Verfassungsgericht aufzunehmen, nur dem Scheine nach eingegangen. Die Begründung, es sei notwendig. eine Möglichkeit zur »Änderung des gesetzlich festgelegten Sitzes des Gerichtes« und zum »Erlaß von der besonderen Situation angepaßten prozeßrechtlichen Vorschriften« zu schaffen, ist nicht einsichtig, denn derartige Sonderregelungen könnten bereits in ruhigen Zeiten in das Gesetz aufgenommen werden. Wer den HöcherlschenEntwurf bedenkt, kann den Verdacht nicht loswerden, daß ein Bundesverfassungsgericht, das im Ausnahmezustand wirklich ›Hüter der Verfassung‹ und der rechtsstaatlichen Struktur der Bundesrepublik ist, nicht mehr in die Regierungskonzeption paßt. Warum aber fürchtet die Bundesregierung ein Gericht, das letztlich doch nicht mehr tun kann, als darüber zu wachen, daß auf dem Wege der Notstandsmaßnahmen das Grundgesetz nicht in der Weise außer Kraft gesetzt wird wie einst die Weimarer Verfassung durch den berühmten Artikel 48?
Der Verdacht. den unsere Beispiele aufkommen lassen wird bestärkt, wenn man in der offiziellen Begründung des Entwurfs folgendes liest:
»[…] Kommt es unter normalen Verhältnissen darauf an, die Freiheit des Einzelnen vor einem Zuviel an Staatsgewalt zu schützen und die Mannigfaltigkeit der Stämme und Landschaften vor einem Übermaß an Vereinheitlichung zu bewahren, so kann es in außergewöhnlichen Lagen gerade umgekehrt zwingend geboten sein, die Staatsgewalt zu stärken und zusammenzufassen.«
Hier ist einmal dem Sprachgebrauch des Grundgesetzes völlig fremd im Sinne einer ›völkischen‹ Terminologie von »Stämmen« die Rede. Hier werden auch die Grundrechte und die bundesstaatliche Ordnung dem Grundgesetz zuwider nicht mehr als Rechte, sondern als ein »Weniger« an Staatsgewalt bestimmt. Und erinnert man sich nicht an die verhängnisvolle Formel: »Du bist nichts, dein Volk ist alles«, wenn die Urheber des Entwurfs eine »Umkehrung« der grundgesetzlichen Entscheidung für den Menschen und seine unantastbare Würde zugunsten eines Übergewichtes der Staatsgewalt als »zwingend« fordern für die Zeit , die nicht »normal« ist. Dabei hat man doch im Parlamentarischen Rat die Grundrechte gerade für die Zeiten geschaffen, in denen die Freiheit des Einzelnen und die Würde des Menschen gefährdet ist.
Wir weisen auf das in der Europäischen Verlagsanstalt erschienene Buch von Jürgen Seifert Gefahr im Verzuge hin, in dem er die Problematik der Notstandsgesetzgebung ausführlich behandelt. Die Redaktion