Nationalsozialismus

Der Nationalsozialismus war eine gesellschaftliche Bewegung, die sich gegen den bürgerlichen Staatsapparat richtete, eine Bewegung von Massen ruinierten Mittelstandes. Diese von gesellschaftliche Herkunft bestimmte auch den politischen Horizont des zur Macht gekommenen politischen Faschismus. Er hatte sich gegen den bürgerlichen Staat gewandt, weil dieser wegen seiner Zersplitterung jene brutale Vereinheitlichung der antagonistischen Interessen nicht leisten konnte, die dem gesellschaftlichen Bedürfnis der Faschisten und des Großkapitals entsprach.

Aber der der ruinierte Mittelstand griff die Zentren der gesellschaftlichen Macht, die großen Konzerne nur bürokratisch, nicht terroristisch an, weil ihm mit jener Großindustrie das Führerprinzip und der Gegner gemeinsam waren. So konnte der bürokratische Angriff abgeschlagen werden.

Stattdessen äußerten die Faschisten ihren Herrschaftsanspruch in vorkapitalistischen Kategorien. Die faschistische ›Herrenrasse‹ wollte sich Macht durch Eroberung neuen ›Lebensraums‹ verschaffen. Ihre einstige gesellschaftliche Schwäche fand ihre Kompensation in der Ideologie des Stärkeren, der mit den Mitteln, die staatliche und ökonomische Institutionen bereitstellen mußten, seine Stärke durch permanente Vernichtung eines zum Schwächeren und Minderwertigen bestimmten Elements bewies.

Aus diesem fehlgelenkten Herrschaftsanspruch entstand die rastlose Vernichtungsenergie des Nationalsozialismus, die blinde Aggressivität, die nie zur Ruhe kam. Weil im eigenen Land nur die politische Macht ins Auge gefaßt wurde, die Urheber der Pauperisierung des Mittelstandes aber nie gesehen wurden, blieb die Vernichtungswut der Nazis ziellos. Der Antisemitismus ist die Weltanschauung dieser Blindheit, der fiktive allmächtige Feind, der vom wahren Feind und von den wahren Abhängigkeiten unter kapitalistischen Herrschaftsverhältnissen ablenkt.

Die ökonomisch herrschenden Klassen erwarteten vom Faschismus langfristige politische Stabilität. Aber der Faschismus war vom ersten Augenblick an auf Krieg aus.

Gegen den Krieg als Ziel der Nazis gab es unter der Großindustrie zwar keine Opposition, aber die Modi seiner Vorbereitung und Organisation stießen auf Widerspruch. Die Rüstungsfinanzierung mittels obskurer Mefo-Wechsel, die keine Rücksicht auf die vorhandenen Geldmittel, Rohstoffe und Arbeitskräfte nahm, mußte die Partei selbst in die Hand nehmen, weil Schacht und mit ihm einflußreiche industrielle Gruppen für eine Verlangsamung der Aufrüstung eintrat. Der Konflikt brach aus, als sich Hitler trotz Rohstoff und Devisenknappheit, trotz Mangel an qualifizierten Arbeitern entschloß die Rüstungsausgaben von 9 Mrd. auf 15,5 Mrd. (1938) steigen zu lassen. Die Organisation war kopflos. Bis zum Frühjahr 1942 gab es keine zentrale Wirtschaftsverwaltung sondern ein Gewirr von Kompetenzen, die sich gegenseitig widersprachen. In diesem systemlosen System gab es keine genügende Vorsorge (außer bei Nahrungsmitteln), weil Hitler einen langen Krieg nie ins Auge faßte; die Information der Regierung über Bestände und Absatz war mangelhaft. Die irrationale Willensanstrengung des Krieges war auch irrational vorbereitet.

Obwohl die Aufrüstung die vorhandenen Möglichkeiten bei weitem überstieg, obwohl das Ende des Krieges bei rationaler Kalkulation der Kräfteverhältnisse schon vorher abzusehen gewesen wäre, stürzte sich das faschistische System in einen blinden Vernichtungskrieg, durch den es auch selbst vernichtet wurde. Auch die herrschende Klasse wurde empfindlich geschwächt. Die Teilung Deutschlands und die politische ökonomische Abhängigkeit von den Siegern, insbesondere den USA, verkleinerten rigoros ihren Herrschaftsbereich. Das Experiment der herrschenden Klassen, die gesellschaftlichen Widersprüche zu befrieden, indem sie die politische Macht einer irrationalen gesellschaftlichen Bewegung überließen, war durch deren Erfolgslosigkeit (eine Funktion ihres wirtschaftsfernen Irrationalismus) diskreditiert.

Konsequenzen

Nach dem verlorenen Krieg waren die Rahmenbedingungen der Bundesrepublik wesentlich verändert.

Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, die der Faschismus mit den Mitteln des imperialistischen Angriffskrieges etablieren wollte, um sich eine unabhängige Rohstoff- und Ernährungsbasis zu verschaffen, wurde notwendig zum Ziel friedlicher Integration. Interessen an nationaler deutscher Hegemonie traten zurück hinter dem Interesse, die internationale Hegemonie des Kapitals als Ganzem gegen den Kommunismus zu behaupten. Eine weitere Folge des verlorenen Krieges war die Europäisierung der deutschen Armee. Auf Grund der gewaltigen Unterschiede der Kräfteverhältnisse zudem ist ein ›nationalistischer Alleingang‹, die Wiedervereinigung mit militärischen Mitteln zu erzwingen, aussichtslos.

Die postfaschistische Gesellschaft erklärte den Faschismus mit der Zersplitterung der bürgerlichen Gesellschaft. Die Folgerung daraus lautete: einsichtsvolles Zusammenstehen. Nicht noch einmal wollte die bürgerliche Gesellschaft aus eigener Schwäche die Bestimmung ihrer Politik aus der Hand geben. Schröders Überlegung, Hindenburg habe ja mit dem Artikel 48 auch den Aufstieg Hitlers zur Macht abwenden können, ist durchaus ernstzunehmen. Die Notstandsgesetze, die Nachfolger des Artikel 48, sollen den Staat gegen den Radikalismus von links und rechts absichern, gegen jede gesellschaftliche Unruhe. Dabei warten die etablierten Parteien nicht mehr, bis sie von einer Krise überrascht werden, vielmehr schaffen sie in vorsorgender Antizipation sich Repressions- und Lenkungsmittel.

Aber die Notstandsgesetzgebung ist nicht nur eine Lektion gegen den klassischen Faschismus, sondern auch seine verbesserte und erweiterte Neuauflage. Innerhalb dieser erzwungenen internationalen Kooperation, die erneute bewaffnete Beseitigung der Folgen der Niederlage unmöglich macht, entwickelte sich nun in der Ministerialbürokratie und den mit ihr sich beratenden Industrieverbänden ein neues Konzept kriegsmäßiger Mobilmachung das wesentliche Mängel des faschistischen Vorbildes zu vermeiden sucht.

  1. Soll die Verteidigungswirtschaft nicht in aktuellen Engpässen improvisiert, sondern im vorhinein geplant werden. Die Rechtsgrundlagen, auf die der Ausnahmezustand gestellt wird, haben vornehmlich diese Funktion; Kompetenzen zu klären und Improvisationen zu vermeiden.
  2. langfristige Planung bedeutet auch Systematisierung. Vor allem die Sicherstellungsgesetze sind wesentlich umfassender und weitgehender als die Wirtschaftslenkung des Göringschen Vierjahresplans. Besonders die Bevorratung mit lebens- und verteidigungswichtigen Gütern ist vervollständigt, auch die Methoden der bürokratischen Erhebung von Informationen über die Leistungsfähigkeit der Betriebe sind verbessert. Wie ungeniert die Ministerialbürokratien das faschistische Vorbild anknüpft, zeigt die damalige Begründung der Bundesregierung für die Zwangsverpflichtung des Zivildienstgesetzes, sie sei deswegen eine herkömmliche Dienstleistung d. h. nicht verfassungsändernd, weil schon der Nationalsozialismus eine Dienstpflichtverordnung kannte. Sie sprach weiter von einer »organischen Weiterentwicklung dieser Gesetze, die man nur »den veränderten Verhältnissen« anpassen müsse.
  3. Das Zentrum der Vorbereitung totalitärer Mobilmachung liegt heute in der bürgerlichen Staatsapparatur selbst. Die Ministerialbürokratie ist das Hirn der postfaschistischen Krisenlösung ihre Gesetzesvorschlage müssen den Interessen der Parteien, ihre eigenen und die der ökonomisch herrschenden Klasse ausdrücken (Daraus sind die langwierige Verabschiedungsprozedur und die vielen Modifikationen zu erklären.). Der Rechtsstaat und der Parlamentarismus werden nicht mehr von außen zerstört, sondern von innen ausgehöhlt Wie die bürgerliche Demokratie nur als Fassade am Leben erhalten wird, zeigt die Entmachtung des Parlaments  durch die Oligarchie des Gemeinsamen Ausschusses und zweitens der Ermächtigungscharakter der meisten Bestimmungen, die somit nur für die politisch Herrschenden kalkulierbar sind. Daß der jüngste Vorschlag zur Krisenlösung nicht unter dem Banner der Vernichtung der Formen der bürgerlichen Demokratie antritt, sondern unter dem ihrer ›Sicherung‹  gegen jeden denkbaren Fall, reflektiert, daß die Zwangsmittel des totalitären Staates jetzt aus dem Zentrum der bürgerlichen Interessen selbst entwickelt werden. Der Staat hat den Faschismus gleichsam selbst in Regie genommen. So treten auch an die Stelle faschistischer Kampforganisationen vom Staat selbst verwaltete paramilitärische Verbände wie das Zivilschutzkorps, gesellschaftliche Konflikte sollen nicht mehr mit der organisierten Brutalität faschistischer Selbsthilfe niedergeschlagen werden, sondern durch einen wesentlich verstärkten Polizeiapparat. Der bürgerliche Staat bringt die Mittel zur Lösung von Konflikten selbst unter seine Kontrolle.
  4. Die faschistische Bewegung kulminierte im Krieg nach innen und außen. Der Notstandsstaat zielt auf die Verhinderung von Krieg, überhaupt Konflikt durch totale Abschreckung. In beidem schießt Repression über das gesellschaftlich notwendige Maß hinaus und wird dadurch irrational. Die Nazis, die reale gesellschaftliche Macht besaßen, konnten ihre totale Aufrüstung auch in die Wirklichkeit umsetzen, die postfaschistische Ministerialbürokratie aber scheitert mit ihrem totalitären Konzept der totalen Abschreckung an der ökonomischen Vernunft derer, die die Politik bestimmen, weil sie keine gesellschaftliche Basis hat. So ist das wahnsinnig kostspielige Schutzbaugesetz zurückgestellt worden, aus finanziellen Gründen soll das Zivilschutzkorps jetzt nur noch 20 000 Angehörige, nicht mehr 200 000 haben. Das Selbstschutzgesetz, dessen neue bürokratische Zwangsstruktur einen riesigen Verwaltungsapparat gekostet hätte, soll auf die Basis der Freiwilligkeit gestellt werden usw. (s. Frankfurter Rundschau vom 21.10.). Das Göringsche Prinzip: »Es darf nicht kalkuliert werden, was kostet es?« entstammte der Wirtschaftsferne der Nationalsozialisten. Heute herrscht wieder die Vernunft des ökonomisch Möglichen, weil wie Hofmann richtig sagt, sich der führende Teil der Privatwirtschaft »in einem Maße wie nie zuvor in Deutschland« sich des Staates bemächtigt hat.

Irrationalität

Die Irrationalität des universalen Schutzes, die intendierte Ausdehnung der Verteidigungsbereitschaft und des Wehrwillens auf das ganze Volk sind das der brutalen Aggressivität des Nationalsozialismus entkleidete Negativ des Dritten Reiches. Auf die extreme Verunsicherung des gesellschaftlichen Lebens reagieren die überlebenden gleichfalls extrem: mit pathologischer Angst vor gesellschaftlicher Erschütterung, die den erfahrenen vergleichbar wäre.

Dieses ungeheuer sensible Krisenbewußtsein spricht zum Beispiel aus den Aussagen verschiedener Abgeordneter und Ministerialbeamter, nach denen die Kuba-Krise 1961 und die Berlin-Krise 1958 schon die Ausrufung des Kriegszustandes nach sich gezogen hätten, wenn damals die Notstandsgesetze verfügbar gewesen wären.

Indem sie über den Ausnahmezustand verfügen will, will die Staatsapparatur den »Souveränitätsdefekt« (Guttenberg) beseitigen, die Machtlosigkeit als Folge des verlorenen Krieges. Aber die Mobilmachung wird innerhalb der festgelegten internationalen Abhängigkeiten betrieben, nicht gegen sie. Sie macht bei der Mobilmachung des Parlaments in Bereitschaftsorganen und der Bevölkerung durch Luftschutzma8nahmen halt und schließt nicht die Reorganisation der Rüstungsindustrie ein, die nach wie vor international kooperiert. Die Fesseln, die der Bundesrepublik angelegt sind, sprengt der Notstandsstaat nur zum Schein.

Die Ablösung der allgemeinen Vorbehaltsrechte durch die Notstandsgesetze, die die Autonomie der Bundesrepublik suggerieren soll, ist nur eine Symbolhandlung. Erstens werden sie nur in bezug auf die Streitkräfte, nicht aber in bezug auf ganz Deutschland abgelöst und zum anderen existieren überall amerikanische Vorbehalte weiter. Allein die Marktstärke der amerikanischen Konzerne stellt einen ständigen Vorbehalt gegenüber den deutschen Konzernen dar. Der Rückzug der amerikanischen Truppen wird nicht betrieben, genauso wenig wie die Aufgabe der Viermächteverantwortung. Souveränität stellt sich mit den Notstandsgesetzen allenfalls nach innen her. Die Herrschaftsansprüche, die sich international nicht durchsetzen lassen, sichern sich im Innern doppelt und dreifach. Souveränität wird aber trotz der Unmöglichkeit eines Krieges in Europa immer noch in militärische Kategorien gefaßt. Abstrakte militärische Feinde, die kaum je zu realen werden, werden mit der Notstandsgesetzgebung gebannt. Diese Demonstration der Stärke (in Wirklichkeit ist sie geschickt maskierte Schwäche) hat einerseits innenpolitische Funktion. Durch den Verweis auf eine mögliche Katastrophe werden die antagonistischen Interessen zusammengehalten, die Parteien auf eine gemeinsame Basis gestellt. Außenpolitisch bricht sich der Notstandsstaat auf den Abwehrkampf gegen die Bedrohung des Kapitalismus überhaupt. Schröder, der die Notstandsgesetze mit dem Hinweis auf den »unerbittlichen und zu allem entschlossenen Gegner« zu rechtfertigen pflegte, konnte »die drohende Gefahr« nur als internationale Gefährdung des kapitalistisch beherrschten Weltmarkts konkretisieren. Kuba, Afrika und Südostasien konnte er als »drohende Gefahren« mühelos anführen. Man kann recht gut nachweisen, daß die Entwicklung der Sicherstellungsgesetze jeweils von internationalen Krisen wie dem Korea-Krieg, der Suez-Krise und der Kuba-Krise angestoßen wurde. Die herrschende Klasse sieht sich heute in einer »historischen Auseinandersetzung« (Hassel) mit dem Kommunismus, der die Weltherrschaft anstrebt. Hassel sieht das Problem deutlich: »Je enger der Raum der Freiheit wird auf dieser Welt, je mehr Staaten in Asien, Afrika oder Südamerika ihre Freiheit verlieren und Ecksteine werden im roten Mosaik, desto gefährdeter ist auch unsere Freiheit.« Es könnte sehr wohl sein, daß die Bundesrepublik den USA bei der internationalen Verteidigung gegen Revolution militärisch hilft, wenn das amerikanische Potential nicht mehr ausreicht. Die Notstandsgesetzgebung würde dann die militärischen Anstrengungen der Bundesrepublik innenpolitisch absichern helfen.

Die irrationale Perfektion der Notstandsgesetze hat einen wesentlichen Grund gerade in ihrem abstrakten antizipatorischen Charakter. Eben weil man nicht genau weiß, welche gesellschaftlichen Erschütterungen es im Laufe der Zeit geben wird, muß man sich nach allen Seiten perfekt absichern. »In nationaler Sammlung« könne dann die herrschenden Parteien »jeder Belastung, die auf die Bundesrepublik zukommt« entgegensehen (Barzel).

Mobilmachung ist die Antwort des Systems auf seine Krisenanfälligkeit.

Diese antizipierte Mobilmachung hat aber keinen aggressiven Charakter nach außen. Die grotesken Lernprozesse der Bürokratie z. B. aus dem unsystematischen Luftschutz im Zweiten Weltkrieg dienen nicht der Vorbereitung eines Dritten. Das Sicherheitsbedürfnis, das sich darin ausdrückt, ist nur ein völlig hilfloser, fast magischer Versuch, die Instabilität der Bundesrepublik zu überwinden.

Die Notstandsgesetzgebung bedeutet zwar innenpolitische Repression und universale autoritäre Regelung, sie läßt sich jedoch nicht einfach nur als antizipatorische Reaktion auf mögliche Konflikte mit der organisierten Arbeiterschaft begreifen.

Die verselbständigte Bürokratie und die sie stützenden Parteien wollen vielmehr ungeachtet ihrer Notwendigkeit für alle Fälle ein Netz autoritärer Regelung auf die gesellschaftliche Organisation der Bundesrepublik senken. Die Abstraktheit repressiver Militarisierung entspringt, wie skizziert, einem pathologischen Sicherheitsbedürfnis, das sich aus drei Quellen speist.

  1. dem beängstigenden Fortschritt der nichtkapitalistisch orientierten Politik.
  2. der Krisenanfälligkeit des kapitalistischen Systems selbst und
  3. der historischen Erfahrung mit dem Nationalsozialismus, überhaupt allen gesellschaftlichen Bewegungen, die die unangefochten Herrschaft des etablierten Bürgertums gefährden.

Gerade die relative Autonomie des Staatsapparates läßt ihn auf eine blinde und universalistische Weise die Interessen des Status Quo wahrnehmen, auch wo sie weder aktuell noch potentiell bedroht sind.

C. R. Roth