Deutscher Bundestag – 4. Wahlperiode – 190. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Juni 1965, vormittags. Bundesminister Höcherl beendet seine Notstandsrede – an die SPD gewandt – mit den Worten: »Und wenn gezögert wird, eer trägt die Verantwortung? – Nur Sie allein.« Das Protokoll vermerkt über das folgende:

»(Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien. – Auf der Zuschauertribüne ertönt eine Trillerpfeife. – Unruhe – Abg. Dr. Wuermeling: Die Hilfstruppen der SPD! – Bewegung bei der SPD – Gegenruf des Abg. Wehner: Wollen sie 88 zurücknehmen? Abg. Schmitt-Vockenhausen [zur Mitte gehend]: Wollen Sie das zurücknehmen? – Weitere Zurufe von der SPD. – Abg. Wehner: Sie Strolch! – Fortgesetzte lebhafte Zurufe von links: Wollen Sie das zurücknehmen! – Stehen Sie auf! – Nehmen Sie das zurück! Große Unruhe – Glocke des Präsidenten.)«

Dieser Zwischenfall kennzeichnet die Notstandsdebatte am Ende der Legislaturperiode des 4. Deutschen Bundestages: Die Regierungsparteien machen die Notstandsfrage zum Wahlkampfthema. Für sie ist jedes Mittel erlaubt. Die SPD verhält sich »verantwortungsbewußt«. Sie grenzt sich – um ihre Lauterkeit zu beweisen – von den Gewerkschaften, Professoren und politischen Studentenverbänden ab und reagiert letztlich – weil alles nichts hilft – emotional.

Das Erschreckende aber ist: die Auseinandersetzung um die Gewährleistung der Prinzipien des Grundgesetzes, der Kampf um die Verfassung wurde überhaupt nicht geführt. Es war nicht die Rede davon , daß es um eine grundlegende Änderung des Grundgesetzes, um eine einschneidende Verfassungsumwandlung ging . Selbst das, was in zähem Ringen im Rechtsausschuß im Sinne eines Kampfes um die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit geleistet worden ist (auch die Gegner jeder zusätzlichen Notstandsregelung müssen das zugeben), wurde vom Verteidigungsminister von Hassel abgetan als »verwaschene, papierne und für den Notstandsfall unpraktikable Lösungen«, als »Kompromisse«, die das »Alleräußerste« seien, »was aus militärischer Sicht zugestanden, was gerade noch hingenommen werden kann«. So sind wir – wie Karl-Hermann Flach in einem Kommentar bemerkte – »in die perverse Frontstellung hineingeraten, daß sich die Opposition dafür rechtfertigen muß, wenn sie die Rechte des Volkes (noch) verteidigt, ... in der die Regierenden nicht darum werben und um Verständnis bitten müssen, wenn sie eine Freiheitseinschränkung für unumgänglich halten, sondern wo die Regierenden auf die einschlagen, die das Grundgesetz wenigstens nicht überhastet ändern wollen«.

Wo waren die Verteidiger des Rechtsstaates als Rainer Barzel und der Verteidigungsminister, der geschworen hatte das Grundgesetz zu wahren und zu verteidigen, bei der Verfassungsänderung davon sprachen, diese Einschränkung der Verfassung diene der »Glaubhaftigkeit der Abschreckung«? Wer wandte sich gegen die demagogische Diffamierung der Gegner einer Notstandsgesetzgebung durch den Bundeskanzler, der »in aller Offenheit« seine »Sorge« betonte, »daß demokratische Kräfte unseres Staates – gewiß ohne ihren Willen – äußerlich in einer Phalanx mit den Propagandisten in Pankow und Moskau zu stehen scheinen«? Wo waren die Verteidiger der Rechte der Arbeitnehmer als Bundesminister Höcherl – im sicheren Vertrauen auf die Unkenntnis seiner Gegner – die vorgesehene Einschränkung der Rechte der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften pries als »eine Lösung , die in ihrer Liberalität überhaupt nicht überboten werden kann«? Wer erinnerte daran, daß Höcherl die Streichung des Begriffs Notstand als einen »kleinen psychologischen Trick« bezeichnete hatte, den er angewandt habe »um die Nerven zu schonen« und wer deckte an Hand dieses Zitates auf, daß das Verschwinden der Begriffe Notstand und Zustand der inneren Gefahr keineswegs die Streichung der unter diesen Titeln vorgesehenen Einschränkungen bedeutet? Wer trat für die Kritiker der Gesetzesentwürfe ein die (durch die unnötige Geheimhaltung dazu gezwungen) ihrer Kritik die von der Regierung eingebrachten Entwürfe zugrunde legten?

Die Opposition blieb in der Defensive. Sie war die Gefangene ihrer eigenen Taktik. Sie hatte den Geheimberatungen zugestimmt – und wurde nun von der Regierungsseite dafür beschuldigt. Sie hatte das Argument, bei der Notstandsgesetzgebung gehe es nicht um eine Verfassungsumwandlung , sondern um eine Einschränkung alliierter Vorbehaltsrechte erst populär gemacht, – und wurde nun von der Regierungsseite beschuldigt, sie verhindere die Ablösung. Sie hatte sich über die Sacheinwände der Gewerkschaften – beispielsweise in der Frage der Dienstverpflichtung hinweggesetzt – und wurde nun beschuldigt, dem Druck der Gewerkschaften nachgegeben zu haben. Sie hatte »Kompromissen« zugestimmt – und wurde (als sie beispielsweise, vorsichtig für ein Zitat des ehemaligen CDU-Abgeordneten Hoogen verpackt, die Frage stellte, ob eine rechtsstaatlichen Gesichtspunkten Rechnung tragende Notstandsregelung nicht zeitlich befristet sein müsse) beschuldigt, »neue Gründe nachzuschieben«.

Die zweite Lesung eines Gesetzes soll nach der Geschäftsordnung eine Sachberatung sein. Doch es wurde nicht beraten . Es wurde agitiert. In der Agitation waren sich sogar die CDU, die FDP und die SPD in einer Frage einig: In der Ablehnung derjenigen, die (nicht aus einer Gegnerschaft gegen ›den‹ Staat oder gegen ,›die‹ Bundesrepublik) die Verfassungsumwandlung grundsätzlich ablehnen oder die die bisher vorgelegten Entwürfe deshalb bekämpfen, weil sie die im Grundgesetze bisher gezogenen Grenzlinien verschieben. Wer heute um die Aufrechterhaltung der Prinzipien des Grundgesetzes kämpft, muß es in Kauf nehmen, diffamiert zu werden. Wer aber den Verfassungsbruch unter dem Tarnwort »übergesetzlicher Notstand« offen propagiert oder für »legitim« erklärt, findet – wie der Autor der am 15. Juni eingeschobenen Sendung des Deutschen Fernsehens zur Notstandsfrage – alle Unterstützung.

Der Pfiff von der Tribüne des Bundestages am 16. Juni ist keine adäquate Form des »Kampfes um die Verfassung«. Er ist ein Zeichen jenes Ohnmachtsgefühles, das auch am Ende der Weimarer Republik viele Demokrat en bestimmte und das wesentlich zur Niederlage der republikanischen Kräfte beitrug. Die Vertagung der Verfassungsänderung schafft nun die Möglichkeit, den Kampf um die Verfassung, die Auseinandersetzung um die Gewährleistung der Prinzipien des Grundgesetzes auch im Notstandsfall mit noch besseren Argumenten zu führen. Wissenschaftliche Kritik kann die Leichtfertigkeit der Behauptung entlarven, die der Sprecher einer ›liberalen‹ Partei, Wolfram Dorn im Bundestag aufstellte: die letzte Vorlage verkörpere »ein Höchstmaß an Freiheit an Recht und Souveränität für unseren Staat«.

Jürgen Seifert