Vom Opfer zum Täter
Rund 5000 »fremdvölkische« Männer, darunter viele Rotarmisten, wurden zum Werkzeug der Deutschen bei der Umsetzung des Holocaust. Für viele war die Wahl: sterben oder mitmachen. Bis heute werden sie oft als »brutaler als die SS« bezeichnet, ihnen wird Freiwilligkeit unterstellt. Kontext und Handlungsoptionen bleiben meist unbeachtet. Dabei gibt es kaum eine andere Gruppe von Mittätern, die so heterogen ist.
Der Angriffs- und Vernichtungskrieg des Deutschen Reiches gegen Polen 1939 und die Sowjetunion 1941 ging mit einem zuvor unbekannten Ausmaß an Gewalt und Terror einher. Von Beginn an nutzte die deutsche Okkupationsmacht ein System aus Zwang, Drohung und Gewalt einerseits, Bonifikationen und Vergünstigungen andererseits. Der Krieg gegen die Sowjetunion war mehr noch als der Krieg gegen Polen von rassistischen Motiven geprägt. Während die Pol_innen, ihrer Bildungs- und Eliteschicht beraubt, als Volk von Sklaven für die Deutschen arbeiten oder »umgesiedelt« werden sollten, war das Ziel in der Sowjetunion noch radikaler: Die slawische Bevölkerung sollte verhungern und vertrieben werden, das Land restlos ausgebeutet und für deutsche Siedler_innen nutzbar gemacht werden.
Hitler formulierte noch im Juli 1941 in einer internen Besprechung: »Nur der Deutsche darf Waffen tragen, nicht der Slawe, nicht der Tscheche, nicht der Kosak oder der Ukrainer!«1. Doch im Widerspruch zu diesem Wunsch wurden von Anfang an Hilfsformationen aus Einheimischen der besetzten Gebiete gebildet. Dabei nutzte Hitler zunächst die antibolschewistische und teilweise antisemitische Einstellung der Regierungen in Rumänien, Ungarn, Italien und der Slowakei, die ihre Armeen aus eigenen, territorialen Interessen an die Seite des Deutschen Reiches beorderten.2 So marschierte die deutsche Wehrmacht »nicht allein auf sich gestellt in der Sowjetunion ein, beim Angriff kam vielmehr jeder sechste Soldat aus dem Ausland«.3
Der schnelle Vormarsch brachte riesige Gebiete im Osten unter deutsche Herrschaft. Für eine flächendeckende Besatzungs- und Verwaltungsmacht fehlte es jedoch an Personal, sodass SS und Polizei bald versuchten, Einheimische in ihre Dienste zu stellen.4 Während die Verwaltungsapparate auf Leitungsebene von Deutschen kontrolliert waren, wurden sie vor Ort mit Einheimischen besetzt, die mehr oder weniger freiwillig mit den Deutschen kooperierten. Zum einen wurden also Landesbewohner_innen eingebunden, wie im Falle der Ordnungspolizei in Polen, die auf polnische Polizisten zurückgriff,5 oder des volksdeutschen Selbstschutzes, mit dem aus einer deutschen Minderheit eine der Ordnungspolizei unterstellte Miliz gebildet wurde.6 Gleichzeitig wurden die eigenen Reihen mit »Fremdvölkischen« aufgefüllt. Die ursprünglichen Elitefantasien von SS und Waffen-SS, in der Attribute wie Freiwilligkeit und besondere Eignung (insbesondere aus rasseideologischer Sicht) ausschlaggebend waren, lösten sich im weiteren Kriegsverlauf auf.7 Während die Aufstockung anfangs noch ideologisch konform schien, erfolgten ab 1943/44 zunehmend Ergänzungspraktiken, die den rasseideologischen Kriterien widersprachen.8 So scheuten sich die deutschen »Werber« nicht, muslimische und slawische Einheiten aufzustellen.9 Gegen Ende des Krieges machten die – größtenteils in Kampfverbände eingegliederten – »fremdvölkischen Helfer« fast eine Million Mann aus.10
Wie sehr Theorie und Praxis oftmals auseinanderklafften und wie dynamisch sich das Besatzungs- und Herrschaftsregime der Deutschen entwickelte, zeigt sich besonders eindrücklich bei der Bewachung der Kriegsgefangenenlager. Auch hier stießen die Deutschen an personelle Grenzen. Für die Bewachung von Zehntausenden Gefangenen standen mancherorts weniger als einhundert deutsche Soldaten zur Verfügung.11 Das hatte zum einen eine extreme Brutalität der Bewacher zur Folge, zum anderen griffen die Deutschen auch hier auf eigentlich ungewolltes und unerwünschtes Personal zurück: die Insassen der Lager selbst.12 Auf beiden Seiten waren die Motive »pragmatisch« zu nennen. Die Deutschen entledigten sich auf diese Weise ihrer Personalprobleme, die Gefangenen sahen darin eine Chance zu überleben. Denn die Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen folgte den Maximen der radikalen Vernichtungspolitik, die Soldaten der Roten Armee galten als bolschewistische Todfeinde. »Niemals in der Geschichte starben so viele Kriegsgefangene in so kurzer Zeit wie die Rotarmisten in deutscher Hand.«13 Bei einer Lagerstärke von jeweils rund 20 000 bis 30 000 Mann brachen aufgrund fehlender Möglichkeiten zur Hygiene und sich infolgedessen ausbreitenden Ungeziefers schnell Ruhr- und Fleckfieberepidemien aus. Die Vernichtung der sowjetischen Kriegsgefangenen, die zu einem beträchtlichen Teil Ukrainer waren, erfolgte hier nicht durch direkten Mord. Man ließ sie vielmehr einfach erfrieren und verhungern. Mit dem stetig drängender werdenden Personalmangel ließ sich dieses Prinzip jedoch nicht mehr für alle aufrechterhalten.
Die gleiche Konstellation von Interessen war ursächlich dafür, dass aus der Gruppe der Kriegsgefangenen eine der außergewöhnlichsten Truppen nichtdeutscher Nationalität gebildet wurde, die im Dienste der Deutschen standen: die sogenannten Trawniki-Männer. Sie setzten sich neben sowjetischen Kriegsgefangenen auch aus einigen ukrainischen Zivilisten und Freiwilligen sowie zwangsverpflichteten Einheimischen des Generalgouvernements zusammen.
»Trawniki« als Gehilfen der Deutschen
Als Arbeitssklaven der Deutschen entwickelten sich die Trawniki-Männer zu einem wesentlichen Faktor bei der Umsetzung der »Aktion Reinhardt«, in deren Verlauf sie maßgeblich an der Ermordung von 1,75 Millionen Juden und Jüdinnen in den Vernichtungslagern Belzec, Sobibor und Treblinka beteiligt waren. Nachdem frühere Pläne zur »Lösung der Judenfrage« wirtschaftlichen und rasseideologischen Überlegungen gewichen waren, die die Plünderung des Vermögens der Ermordeten und die totale Ausbeutung ihrer Arbeitskraft einschlossen, und der Krieg gegen die Sowjetunion neue Möglichkeiten für die Durchsetzung dieser Ziele eröffnet hatte, erreichte die Radikalisierung ihren Höhepunkt.
Auf dem Gelände einer ehemaligen Zuckerfabrik in dem Dorf Trawniki 35 km südwestlich von Lublin richteten die deutschen Besatzer im Sommer 1941 ein Lager ein. Im Zuge der Ernennung des SS-Brigadeführers Odilo Globocnik zum »Beauftragten des Reichsführers SS und Chef der Deutschen Polizei für die Errichtung der SS- und Polizeistützpunkte im neuen Ostraum« änderten sich Funktion und Bezeichnung des bis dahin als Sammelstelle für sowjetische Kriegsgefangene genutzten Lagers. Es wurde zum Ausbildungsort für »fremdvölkische Hilfstruppen«, die als verlängerter Arm der SS helfen sollten, die neuen Ostgebiete zu beherrschen.
Unter dem Befehl des Lagerkommandanten SS-Sturmbannführer Karl Streibel wurden dafür »Hilfswillige« unter den sowjetischen Kriegsgefangenen rekrutiert. Zu diesem Zweck fuhren Streibels Anwerber in die Kriegsgefangenenlager und wählten Deutschstämmige, Deutschsprachige und Soldaten nichtrussischer Nationalität aus, von denen man eine antibolschewistische Einstellung erwartete. Deutschsprachige Soldaten, von denen viele aus der Ukraine, der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen und aus entlegenen Gegenden in Ostrussland, einschließlich Sibiriens, kamen oder die der polnischen Armee angehört hatten, dienten als Dolmetscher. Den Gefangenen versicherte man, dass sie nicht gegen die Sowjetunion eingesetzt oder an die Front geschickt, sondern lediglich Wachaufgaben übernehmen würden.
Die ausersehenen kriegsgefangenen Rotarmisten wurden im SS-Ausbildungslager Trawniki trainiert, dann unter Befehl des deutschen Kaderpersonals neben Objektschutz, Erntehilfe und Aufbauarbeiten für den exekutiven Teil des Holocaust eingesetzt. Sie dienten als Teil der Wachmannschaften zur Bewachung der Zwangsarbeitslager, in denen das Prinzip der »Vernichtung durch Arbeit« in Form von schwerer Arbeit ohne ausreichende Verpflegung und unter katastrophalen Bedingungen für die Häftlinge umgesetzt wurde. Weiterhin waren sie am Zusammentreiben der jüdischen Opfer, der Bewachung und Durchführung von Massenerschießungen sowie an Ghettoliquidierungen beteiligt. Schließlich waren sie in den drei Vernichtungslagern der »Aktion Reinhardt« an der Bewachung, Misshandlung und Ermordung der Juden und Jüdinnen beteiligt. Auch zur Partisan_innenbekämpfung wurden sie herangezogen.
Insgesamt wurden ca. 4000 bis 5000 Trawniki-Männer ausgebildet. Die Bevölkerung bezeichnete sie als Ukrainer, Askaris (eine Anspielung auf einheimische Truppen, die vor dem Ersten Weltkrieg von der Kolonialverwaltung in Deutsch-Ostafrika aufgestellt wurden) oder »Trawnikis«, die Deutschen hingegen als Hiwis oder Hilfswillige. Offiziell hießen sie Wachmänner. Die »Trawnikis« unterstanden einem harten Regiment, sie wurden als Menschen zweiter Klasse behandelt, nicht selten geprügelt oder bei Missfallen auch getötet. Einige waren privilegiert, konnten Urlaub oder sogar Hilfen für ihre Familien erhalten, manche wurden von ihren deutschen Vorgesetzten protegiert. Doch der überwiegende Teil der »Trawnikis« galt den Deutschen als nützliches Werkzeug, das aber jederzeit ersetzt werden konnte.
Brutalität und Zwang
Viele der Trawniki-Männer gingen mit großer Brutalität vor. Da es sich um traumatisierte junge Männer handelte, die knapp dem Tod entronnen waren, lassen ihre Handlungen allerdings kaum Rückschlüsse auf ihre Gesinnung zu. Auch dass sie durch besonders brutales Vorgehen gegen Juden und Jüdinnen zu Ansehen und Bonifikationen seitens ihrer Vorgesetzten gelangen konnten, spielte eine große Rolle.
Die rechtliche Stellung der Trawniki-Männer lag zwischen der von Gefangenen, Hilfspolizisten, Angehörigen einer Schutztruppe oder der Waffen-SS. Sie waren zu keinem Zeitpunkt – zumindest als Gruppe – freie und gleichberechtigte Mitarbeiter des deutschen Macht- und Terrorsystems. Während die »Volksdeutschen« auch unter rassistischen Gesichtspunkten eher als Partner behandelt wurden, weil sie auf die Seite der freiwilligen, sich mit dem nationalsozialistischen System identifizierenden Täter gezogen werden sollten, wurden andere geschunden, misshandelt und teilweise wegen Nichtigkeiten getötet.
Die großen Unterschiede in der Behandlung zeigen, dass die Trawniki-Männer von den Deutschen nicht als einheitliches Kollektiv wahrgenommen wurden. Gegenüber den sogenannten »Arbeitsjuden«, die in den Vernichtungslagern nur für eine begrenzte Zeit am Leben gelassen wurden, hatten sie fast unbegrenzte Macht, im Verhältnis zur SS hingegen hatten sie jedoch kaum Rechte. Die Trawniki-Männer unterlagen einem strengen Regiment und wurden bei Verstößen weit härter bestraft als ihre deutschen Aufseher. Schon bei geringen Vergehen erhielten sie 25 Peitschen- oder Stockhiebe. Ihren deutschen Vorgesetzten waren sie schutzlos ausgeliefert. Andererseits waren einige, wie etwa die »Volksdeutschen«, bessergestellt. Sie kamen in den Genuss von Urlaub und sonstigen Vergünstigungen, erhielten Beförderungen, Auszeichnungen und im Todesfall ein Begräbnis auf dem deutschen Soldatenfriedhof. Für ihre Familien wurde gesorgt, etwa durch Gewährung von Hinterbliebenenrenten.
Das Verhalten der Trawniki-Männer und ihre Interaktion mit den deutschen Vorgesetzten spiegeln diese Bandbreite wider. Vom genehmigten Ausgang bis zu Trinkgelagen mit ihren deutschen Vorgesetzten auf der einen Seite und der Fluchthilfe für Juden und Jüdinnen auf der anderen findet sich ein großes Spektrum an Handlungsmöglichkeiten. Viele Überlebende der Ghettoliquidierungen und Vernichtungslager sowie polnische Dorfbewohner_innen und sogar einige deutsche SS-Männer beschreiben die Trawniki-Männer als sehr grausam und besonders brutal, andere dagegen erinnern sich an Hilfestellungen und daran, dass die »Trawnikis« ihrerseits sehr schlecht von der SS behandelt worden waren. Die hohe Zahl derer, die desertierten – rund ein Drittel der insgesamt 4000–5000 »Trawnikis« – zeigt die keineswegs einhellige Loyalität. Die flüchtigen »Trawnikis« schlossen sich zum Teil den Partisan_innen an, zum Teil flohen sie nach Hause oder versuchten unterzutauchen. Im Falle des Wiederaufgreifens drohte ihnen die Todesstrafe.
Trotz der großen Heterogenität der Trawniki-Männer und ihrer unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten und tatsächlich gezeigten Verhaltensweisen werden sie bis heute wie kaum eine andere Gruppe als homogene Einheit betrachtet. Und auch die dynamische Entwicklung vom Opfer zum Täter wird in ihrer Bedeutung kaum wahrgenommen, obwohl sie für eine Bewertung ihres Verhaltens überaus wichtig ist. Denn ebenso wenig wie die Nationalsozialisten ursprünglich geplant hatten, etwa bei der Eroberung von »Lebensraum im Osten« , beim Mord an Juden und Jüdinnen, bei der Bewachung von Lagern und Ghettos, auf »Fremdvölkische«, Insassen von Lagern oder Ghettos zurückzugreifen, genauso wenig kann davon ausgegangen werden, dass diejenigen, die sich in den Dienst der Deutschen stellten, von Beginn an voraussahen oder absehen konnten, wie sich dieser gestalten würde und wie sie sich bei der Ausführung ihrer Aufgaben verhalten würden.
Bereits der Weg der Rekrutierung ist von großer Bedeutung. Ein erster Unterschied ist der zwischen Freiwilligen und Unfreiwilligen, der jedoch bei genauerem Hinsehen schnell verschwimmt. Denn ob z. B. alle »Trawnikis« »freiwillig« ihre Verpflichtung zum Dienst bei den Deutschen unterschrieben, ist ungewiss. Die sowjetischen Kriegsgefangenen waren als »Untermenschen« aus rassistischen und ideologischen Gründen zunächst ausnahmslos zur Vernichtung bestimmt. Vielen ließen sich »freiwillig« rekrutieren, um diesem Schicksal zu entkommen. Andere versprachen sich persönlichen Nutzen von einer Kooperation mit den Deutschen und wollten ihre Position aufwerten. Während einige speziell aufgrund ihrer deutschen Namen und Sprachfähigkeit ausgesucht wurden, gelangten andere aufgrund ihres im Vergleich zu den Mitgefangenen guten Gesundheitszustandes in deutsche Dienste. Die Bevorzugung von »Volksdeutschen« und Ukrainern bot diesen Rekruten die Chance, zum Beispiel am Unterführerlehrgang teilzunehmen oder später selbst Ausbilder zu werden. Auch hier gab es extreme individuelle Unterschiede. Entscheidend waren Herkunft, Sprachkenntnisse und nicht zuletzt die Bereitschaft, mit den Deutschen zu kooperieren und die neu erlangte Machtstellung gegenüber einer schwächeren Gruppe auszukosten und mit brutaler Gewalt durchzusetzen.
Die weitverbreitete Meinung, die »Trawnikis« seien »brutaler als die SS« gewesen, lässt sich nicht halten. Zweifellos gab es brutale Schläger und Sadisten unter ihnen, doch diese Charakterisierung pauschal der ganzen Gruppe zuzuschreiben, verkennt die Situation in einem hierarchisch strukturierten, von Zwang und Unterordnung beherrschten Lager: Es sollte differenziert werden zwischen der tatsächlich ausgeführten Tat und dem jeweiligen Grund dafür. Bei aller Vorsicht muss das Maß an Gewalt berücksichtigt werden, das die Männer ausübten, um bei den deutschen Vorgesetzten nicht negativ aufzufallen. Das »Mehr an Gewalt«, das eigeninitiativ angewendet wurde, ist den Trawniki-Männern dagegen eindeutig anzulasten.
Nicht zu unterschätzen ist an dieser Stelle auch der Zahlenschlüssel, nach dem höchstens 30 deutschen SS-Männern vor Ort in den Vernichtungslagern rund 120 »Trawnikis« gegenüberstanden. Die Berührungspunkte der Opfer waren also mit den Trawniki-Männern größer. Beispielsweise nahmen die Deportierten bei der Ankunft eines Transportes zuerst die »Trawnikis« wahr, die auf Befehl und unter Beobachtung ihrer Vorgesetzten die Juden und Jüdinnen brutal zur Eile antrieben. Die Bestrafung eines Trawniki-Mannes seitens der SS, wenn dieser nicht »energisch genug« eingriff, entzog sich meist der Wahrnehmung der jüdischen Opfer.
Die Kollaboration mit den Deutschen bedeutete zumindest für einen Teil der »Trawnikis« einen Identitätsverlust, der sich ebenfalls auf die Gewaltbereitschaft ausgewirkt haben dürfte. Die Trawniki-Männer nutzten die extreme Gewalt auch als Abgrenzung zu der zu vernichtenden Gruppe und rückversicherten sich so permanent ihrer Macht. Das gilt freilich nicht generell für alle. Für die »Volksdeutschen«, denen eine bessere Behandlung zuteilwurde und die sich auch bewusst darüber waren, dass sie in der deutschen Rassenideologie als »wertvolles Material« gehandelt wurden, stellte sich die Situation anders dar. Ihnen kann ein höheres Maß an Freiwilligkeit unterstellt werden. Auffällig ist dabei, dass es sich bei den besonders brutalen »Trawnikis«, an die sich ehemalige Häftlinge erinnern, nur um einige wenige handelt. Für Treblinka beispielsweise war dies Iwan Marchenko, der bei den Gaskammern eingesetzt war und dort Häftlinge quälte. Diese These ist insofern mit Zurückhaltung zu bewerten, da es nur wenige Überlebende der Lager gibt und somit kein umfassender Einblick möglich ist. Trotzdem ist auffällig, dass – analog zu den SS-Männern – scheinbar nur eine kleinere Zahl Exzesstaten beging. Der Identitätsverlust darf bei der Berücksichtigung der Motive nicht außer Acht gelassen werden. Den Rotarmisten war bewusst, dass sie sich des Vaterlandsverrats schuldig machten, sobald sie sich in Kriegsgefangenschaft begaben. In diesem Moment entschieden sie sich für ihr Überleben und verloren gleichzeitig die Zugehörigkeit zu ihrer Heimat. Dies ist auch im Demjanjuk-Prozess in München zum Tragen gekommen. Demjanjuk hat nach dem Krieg eine Lebenslüge aufgebaut, wissend, dass er weder in seine Heimat zurückkehren noch legal auswandern konnte. Er ist damit einer von vielen »Trawnikis«, die mehrfach Opfer der Geschichte geworden sind.
Ein Fazit
Während in der Zeugnisliteratur von Überlebenden und bis heute – beispielhaft sei hier die Berichterstattung über den Münchener Prozess gegen John (Iwan) Demjanjuk, einen Trawniki-Mann, genannt – das Stereotyp des »brutalen Trawniki« fortlebt, der sich bereitwillig zum Werkzeug der Deutschen beim Mord an den Juden und Jüdinnen machte, tut sich die Wissenschaft mit eindeutigen oder gar pauschalen Urteilen schwerer.
Im Münchner Prozess resümierte die Staatsanwaltschaft, der Angeklagte habe sich als Teil des Kollektivs der zum Tatzeitpunkt in Sobibor stationierten Wachmannschaft schuldig gemacht. Sie sah niedrige Beweggründe als erwiesen an, denn Demjanjuk habe nicht versucht zu fliehen. Dadurch habe er sich der nationalsozialistischen Ideologie unterworfen. Das Urteil stellte eindeutig fest, es habe kein Notstand für Demjanjuk geherrscht, auch kein vermeintlicher.
Doch weder der als Sachverständige geladene Historiker Dieter Pohl hatte Aussagen gemacht, die diese Thesen untermauern würden, noch hätten sie einer geschichtswissenschaftlichen Expertise standgehalten. Grauzonen und Schattierungen wollten weder das Gericht noch breite Teile der Öffentlichkeit und der Medien anerkennen. Die pauschale Stigmatisierung »der Ukrainer« als Gehilfen der Nationalsozialisten hatte Konjunktur. Von den einen hochstilisiert zum Mörder, zum »letzten Schergen Hitlers«, der skrupellos Tausende von Juden und Jüdinnen ermordet habe, wurde Demjanjuk von anderen als »kleines Rädchen« im Getriebe der Mordmaschinerie, manchmal als Kriegsgefangener, der Opfer der Umstände gewesen sei, beschrieben.
Beides wird der Situation der »Trawniki« in Sobibor und an anderen Tatorten des Holocaust nicht gerecht, und beides verdrängt die Frage nach individuellen Motiven und Handlungsweisen. Im Fall von Demjanjuk (wie bei fast allen Trawniki-Männern) blieb all dies bis zum Schluss weitgehend im Dunklen. Noch immer ist fast nichts über Demjanjuks Verhalten, seine Motive oder Handlungsspielräume in Sobibor bekannt. Dabei wäre der von einem großen öffentlichen Interesse begleitete Prozess gegen den einstigen »Trawniki« die vielleicht letzte Chance gewesen, an seinem Beispiel die Rolle der kriegsgefangenen Rotarmisten zu klären. Um eine Antwort auf die nicht nur juristisch bedeutende Frage zu finden, wie sich die Schuld im konkreten Fall bewerten und bestrafen lässt, die ein »Trawniki« wie Demjanjuk auf sich geladen hat, wäre es zunächst nötig gewesen zuzugestehen, dass die historischen Umstände vielschichtig und kompliziert waren. Dass nicht allein das nationalsozialistische Besatzungs- und Terrorregime Dynamiken unterlag, sondern auch das Verhalten Einzelner Entwicklungen durchlaufen kann, die im Extremfall unschuldige Opfer zu Massenmördern machen. Beides ist nicht erfolgt, weder seitens des Gerichts, noch seitens der Öffentlichkeit.
Demjanjuk verstarb noch vor der Entscheidung der höchsten Berufungsinstanz. Und mit ihm das kurz aufgeflammte Interesse an den Trawniki-Männern, den »fremdvölkischen Hilfswilligen« und an der Tatsache, dass das perfide System der nationalsozialistischen Mordmaschinerie maßgeblich mithilfe von Nicht-Deutschen funktionierte. Es bleibt der Eindruck, dass eine große Chance vertan wurde. Und es bleibt das pauschale Urteil, »Trawniki« hätten brutaler als die SS agiert.