Das »Unsichtbare« sichtbar machen
Nachdem die deutschen Täter bis Herbst 1943 nacheinander den Betrieb in den drei Vernichtungslagern der »Aktion Reinhardt« eingestellt hatten, versuchten sie alle Spuren zu beseitigen. An den drei Orten blieben, mit Ausnahme einiger Funktionsgebäude, kaum materielle Spuren erhalten. Nachdem das Gebiet im heutigen Osten Polens von der sowjetischen Armee im Sommer 1944 befreit wurde, entstanden keine Bilder von Gefangenenbaracken, Lagerzäunen oder Eingangstoren, die die visuelle Repräsentation dieser Mordstätten prägen konnten. Das Fehlen visueller Darstellungen war einer der Gründe dafür, dass die »Aktion Reinhardt« trotz ihrer großen Bedeutung innerhalb der Geschichte des Holocausts kaum Eingang in das öffentliche Bewusstsein und das kulturelle Gedächtnis fand. Eine neue Bildquelle ermöglicht seit ein paar Jahren neue Einblicke in das Innere des Mordlagers Sobibor.
Die Niemann-Sammlung
Die gesamte Fotosammlung des stellvertretenden Kommandanten von Sobibor, Johann Niemann, der während des Aufstands der jüdischen Gefangenen am 14. Oktober 1943 als erstes Mitglied der Lagermannschaft getötet wurde, umfasst insgesamt über 360 Fotos.1 Niemann kam im Herbst 1941 zunächst nach Bełżec, wo er Teil der ersten Gruppe deutscher Täter war, die das Lager bis zum Frühjahr 1942 aufbauten und in Betrieb nahmen. Im Spätsommer 1942 folgte seine Versetzung nach Sobibor, verbunden mit der Beförderung zum stellvertretenden Lagerkommandanten. 62 Bilder aus der Fotosammlung zeigen Szenen aus dem Inneren des Vernichtungslagers Sobibor.2 Sie spiegeln den Wunsch eines Täters wider, sich ein privates Andenken zu schaffen und die verschiedenen Stationen seiner Karriere fotografisch festzuhalten. Ein Großteil der Fotos zeigt das sogenannte »Vorlager«, den Wohnbereich der deutschen Lagerbesatzung, und soll den Betrachter_innen einen Eindruck von entspannten Freizeitaktivitäten während des Einsatzes »im Osten« vermitteln.
Die Bilder zeigen den Ort des Verbrechens also durch »die Linse der SS«, wie es treffend bereits für das Fotoalbum des Adjutanten des Lagerkommandanten von Auschwitz formuliert wurde.3 Diese Täterperspektive erfordert einen sensiblen Umgang mit den Bildquellen, die eben nicht ein Abbild der Lagerrealität liefern, sondern einen inszenierten Alltag dokumentieren. Daher müssen für die Dekonstruktion der Täterperspektive zusätzliche Quellen herangezogen werden. Im vorliegenden Beispiel sind dies die Aussagen der Überlebenden von Sobibor. Sie können dem Narrativ der Täter gegenübergestellt werden und, wie im folgenden Beitrag an ausgewählten Beispielen gezeigt werden soll, dadurch auf gewisse Weise das eigentlich Unsichtbare in den Bildern sichtbar machen: Sobibor als Tatort des Holocaust.
Entschlüsseln der Fotos mit Hilfe der Zeugnisse Überlebender
In der Geschichtswissenschaft wurde viel über den Umgang mit Zeugnissen der Überlebenden diskutiert. Es ist wichtig zu reflektieren, dass Erinnerungen an traumatische Erlebnisse selektiv sind. Zum Teil wurden sie im Laufe der Zeit von Informationen überlagert, die die Überlebenden auf anderem Wege erhalten haben. Dennoch sind ihre Berichte für die Rekonstruktion der Ereignisse des Holocaust von unschätzbarem Wert.4 In den vielen Jahrzehnten nach dem Krieg waren es vor allem die Erinnerungen und Berichte der wenigen Überlebenden der Lager der »Aktion Reinhardt«, die den nachfolgenden Generationen eine Vorstellung davon vermitteln konnten, wie diese Orte des eigentlich Unvorstellbaren ausgesehen haben. Zeugnisse, Aussagen vor Gericht und die nach den Beschreibungen der Überlebenden erstellten Karten waren die einzigen Quellen, die uns Informationen über die Lagertopographie liefern konnten. Überlebende waren die Einzigen, die beschreiben konnten, welchen Eindruck das Lager auf die Deportierten machte, die an der Rampe ankamen.
Auf diese Beschreibungen griffen Mitte der 1980er Jahre auch die Produzenten des Films »Flucht aus Sobibor« zurück. Er basiert auf dem gleichnamigen Buch des Journalisten Richard Rashke und hatte einen großen Einfluss auf die visuelle Repräsentation von Sobibor. Mehrere Überlebende waren aktiv an der Entstehung des Films beteiligt und entlang ihrer Schilderungen wurde das Filmset entwickelt. Wer sich durch den Film mit Sobibor befasste, entwickelte unweigerlich eine gewisse Vorstellung vom Erscheinungsbild des Lagers.
Auch die Suche nach möglichen Bezügen zu den auf den Bildern der Niemann-Sammlung dargestellten Orten führte zurück zum Film »Flucht aus Sobibor«. Mit einem überraschenden Ergebnis. Eine weniger als eine Minute dauernde Sequenz zeigt das aufwändige Bühnenbild im Bereich des sogenannten »Vorlagers«. Genauer gesagt handelt es sich um die erste Minute des Films, den Beginn der Geschichte.5
Wie in mehreren Überlebendenberichten beschrieben, vermittelt in dieser Eingangsszene ein Garten vor kleinen hübschen Häusern den Eindruck eines kleinen malerischen Dorfes. Es ist der Bereich der deutschen Lagermannschaft, das sogenannte »Vorlager«. Der Film nimmt dieses Element der Täuschung als Teil der deutschen Strategie im Lager auf. Die vermeintliche Idylle, die die eigentliche Funktion des Lagers verschleiern sollte, wird abrupt durch den Fluchtversuch zweier Gefangener unterbrochen, die daraufhin im Kugelhagel der Lagerwachen sterben. Im Rest des Films wird diese ›idyllische‹ Inszenierung des Lagers nicht weiter aufgegriffen. Als ob die Illusion über Funktion des Ortes nun nach der »Ankunft« der Zuschauer_innen in Sobibor zerstört worden wäre.
Eda Lichtman, Überlebende von Sobibor und eine der Hauptfiguren im Film, war am Set dabei und beschrieb der Filmcrew die Situation im »Vorlager«. Sie musste während ihrer Zeit im Lager genau an diesem Ort für die Deutschen arbeiten. Die Eröffnungsszene scheint stark auf ihren Beschreibungen zu beruhen, die für diesen Lagerteil offensichtlich genauer waren als andere.
Im Vergleich mit den Bildern der Niemann-Sammlung zeigt sich, wie nah die Darstellung im Film an der Inszenierung der Täterfotos aus Sobibor ist – und wie präzise die Aussagen der Überlebenden einen Eindruck vom Ort vermitteln können.
»Als man das Lager betrat, vermittelte es den Eindruck eines Ferienorts. Wunderschön gebaute Villen, ein Kasino, Gärten, mit Kies bedeckte Wege, Rasenflächen, Blumenbeete sowie Alleen mit Rosen und Sonnenblumen waren sorgfältig angelegt und täuschten das Auge der Fremden darüber hinweg, dass sich dort eine Todesfabrik befand.«6
Eda Lichtman, Tel Aviv 1984
Das Beispiel Eda Lichtmans erwies sich als fruchtbare Methode zur Dekonstruktion der Täterperspektive in den Fotos. Die Auswertung der Aussagen nach Hinweisen auf die Bildmotive aus Sobibor erwies sich jedoch als große Geduldsprobe. Einige Überlebende haben in der Befragung von Kommissionen und Ermittlungsbehörden mehrere Male Zeugnis abgelegt. Bei der Arbeit mit den neuen Fotos aus Sobibor zeigte sich, dass Aspekte, die für die Fotos relevant sind, oft nur in einem Zeugnis und an einer beiläufigen Stelle erwähnt wurden. Schließlich war es jedoch möglich, bei einer Reihe von weiteren Bildern durch die Erinnerungen der Überlebenden sichtbar zu machen, was auf den Bildern der Täter eigentlich unsichtbar bleiben sollte.
Mehrere Fotos in der Sammlung zeigen entspannte Freizeitszenen von SS-Männern, die auf der Terrasse des »neuen Kasinos« sitzen. Beim Betrachten der Bilder lässt nichts darauf schließen, wo sie sich befinden: Weniger als 200 Meter entfernt von den Unterkünften der jüdischen Gefangenen und mitten in einem Vernichtungslager. Im ausgewählten Beispiel sind Lager-Kommandant Franz Reichleitner (zweiter von links) und seinen Stellvertreter Johann Niemann (dritter von links), zwei zivile Frauen, die in der Küche des »Vorlagers« arbeiten sowie ein Gast von der deutschen Grenzpolizei (rechts) zu sehen.
Auch in diesem Bild kann eine alternative Erzählung mit Hilfe der zuvor genannten Kontextualisierung im Bild sichtbar gemacht werden: Mehrere Überlebende erinnerten sich daran, dass die neuen Gebäude von ihren Mitgefangenen errichtet werden mussten. Dies umfasste auch die Ausstattung mit gezimmerten Möbeln, wie sie in diesem Bild zu sehen ist. Jakub Biskubicz, ein polnischer Jude aus Hrubieszów, erinnerte sich an die Phase des Ausbaus und der Renovierung im Lager:
»Der Bau des Kasinos für die Deutschen gehört ebenfalls zu dieser Zeit. Es handelte sich um ein luxuriöses Gebäude mit Terrassen, auf einer Straßenseite war weißer Kies und auf der anderen Seite schwarze Steine, an den Seiten befanden sich Blumenbeete. […] Drei Zimmerleute (es waren 3 Brüder, deren Namen ich nicht kenne), gute Fachleute, statteten die neuen Gebäude, die für die Deutschen bestimmt waren, mit neuen Möbeln aus.«7
Beim Betrachten des Bildes fällt zudem der reich gedeckte Tisch ins Auge. Mittelbar ermöglicht uns das Motiv damit, den Blick auf die eigentliche Funktion des Ortes zu lenken: Die hochwertigen Gläser und verschiedenen Lebensmittel kamen höchstwahrscheinlich mit den Deportationen aus Westeuropa ins Lager und stammten aus den Habseligkeiten der ermordeten Juden_Jüdinnen. Die Täter bedienten sich schamlos im riesigen »Effekte-Lager«. Nicht nur für die inszenierte Zusammenkunft auf der Terrasse, sondern auch für großzügige Geschenke für ihre Heimaturlaube.
Die Gestaltung des »Vorlagers« umfasste auch einen Brunnen, der sich im Zentrum des Komplexes befand. Er war von der Terrasse des neuen Kasinos aus sichtbar. In verschiedenen Zeugnissen steht der Brunnen als Symbol dafür, dass dieser Teil des Lagers ebenfalls ein Ort schrecklicher Gewalt war. Mit den Erinnerungen von Mordechaj Goldfarb, einem polnischen Juden, der aus dem nahegelegenen Ghetto in Piaski nach Sobibor deportiert wurde, kann diese Gewalt auch auf den Fotos der Niemann-Sammlung sichtbar gemacht werden.
»Es gab zwei Brunnen in der Nähe des Kasinos. Einmal wurde ich in einen dieser Brunnen geworfen, der nicht weit vom Kasino entfernt lag. Wagner hatte mich geschlagen.« In einem weiteren Bericht fügte er hinzu: »Ich bekam fast täglich Schläge von Wagner. Einmal kam ein Transport mit einer ganzen Malerwerkstatt an. Ich sollte schnell Farbe aus dem Lager holen. Ich nutzte diese Gelegenheit, um etwas zu essen zu bekommen. Es dauerte zu lange, bis ich zurückkam. Er schrie: ›Maler, wo bist du?‹ Er rannte zum Gärtner, holte einen angespitzten Pflock und prügelte mich vom Lager bis zum Kasino. Er schlug mich bis zum Appel um 16 Uhr nachmittags und auch nach dem Appell, schließlich warf er mich in einen Brunnen. Erst im Dunkeln wurde ich herausgeholt.«8
Die Bilder aus dem »Vorlager« zeigen den oben erwähnten Gustav Wagner, der unter den Gefangenen als besonders grausamer Täter gefürchtet war. Wir sehen ihn auf der bereits bekannten Terrasse, die zum Brunnen in der Mitte des Hofes offen war.
Die Fotografien von Johann Niemann dokumentieren jene Teile des Lagers, die direkt mit dem Massenmord in Verbindung standen. Auch hier zunächst als vermeintlich harmlos erscheinende Orte. In der Mitte des sogenannten Lagers II, am Durchgang zum Weg zu den Gaskammern, befand sich ein kleiner Bauernhof namens »Erbhof«. Der Begriff stammte aus der nationalsozialistischen Siedlungspolitik, in der die Weitergabe von Land in »arischer Nachfolge« geregelt wurde.
Auf den ersten Blick weist nichts darauf hin, was sich hinter den auf der rechten Seite sichtbaren Scheunen verbarg. Tatsächlich verlief genau dort der sogenannte »Schlauch«, ein schmaler, gebogener Gang, durch den die Juden_Jüdinnen in die Gaskammern getrieben wurden. Der »Schlauch« begann auf der rechten Seite des sandigen Platzes im Vordergrund. Die Jüdin Esther Raab musste während ihrer Zeit im Lager auf dem Bauernhof arbeiten. Sie stammte aus einer jüdischen Familie in Chełm, etwa 30 km von Sobibor entfernt. In einer ihrer Aussagen erinnerte sie sich an diesen Ort. Der folgende Abschnitt macht sichtbar, was in Niemanns Fotos verborgen bleiben sollte:
»Ab etwa August 1943 arbeitete ich in der Zucht von Angorakaninchen. Die Baracke, in der die Kaninchen gehalten wurden, befand sich im Bereich des dritten Feldes des allgemeinen Lagers, direkt an der Straße, die von der Baracke (wo die Kleidung zurückgelassen wurde) zur Gaskammer führte. Ich konnte täglich beobachten, wie die SS-Männer und die ukrainischen Wachen die nackten Menschen bestialisch in die Gaskammer trieben, sie mit Karabinerpistolen schlugen und mit Bajonetten erstachen.«
Das Eingangstor zum »Erbhof« ist in der Sammlung aus zwei verschiedenen Perspektiven zu sehen. Auf dem zweiten Bild sehen wir den Holzzaun, der das Tor auf der linken Seite begrenzt. In der späteren Phase des Lagers ermöglichte das Schließen des Tores, den sandigen Platz davor abzusperren und so einen geschlossenen Hof zu schaffen. Hier mussten sich, wie bereits im Zitat von Esther Raab erwähnt, die Deportierten ausziehen und dann ihre letzten verbliebenen Wertsachen in einem kleinen Haus mit der Aufschrift »Kasse« abgeben. Viele Juden_Jüdinnen wollten verhindern, dass ihre Wertsachen in die Hände der Deutschen fielen. Sie vergruben hastig Ringe, Halsketten und Gold im Sand. Das deutsche Lagerpersonal war darauf vorbereitet und wies ein jüdisches Arbeitskommando an, nach den Gegenständen zu suchen. Die Erinnerungen von Moshe Bachir, der von Zamość nach Sobibor deportiert wurde und später unter anderem als Zeuge im Eichmann-Prozess aussagte, ermöglichen diesen Blick auf die Bilder des »Erbhofs«:
»Selten ging es ohne Schießen. Der Hund Barry wurde auch auf die Menschen gehetzt, um sie einzuschüchtern. Dann mussten die Menschen durch den Schlauch gehen. Sobald sie weg waren, mussten wir den Sand harken, um nach verstecktem Geld oder Gold zu suchen.«9
Dies sind nur einige Beispiele, die zeigen, wie die Fotos aus der Niemann-Sammlung, wenn sie mit den Aussagen der Überlebenden in Verbindung gebracht werden, zur Rekonstruktion der Topographie und Geschichte des Lagers beitragen können. Und wie die Erinnerungen der Überlebenden in den Fotos sichtbar werden und dazu beitragen können, zu verstehen, was wir auf den Bildern sehen. Auch wenn es mittlerweile keine Überlebenden mehr gibt, die von Sobibor berichten können, haben ihre Zeugnisse noch einmal eine neue Funktion erhalten: die Geschichte des Lagers entlang der Fotos der Täter zu erzählen und deren Perspektive zu durchbrechen. Durch die Kombination der verschiedenen Quellen entsteht eine neue Form der visuellen Darstellung von Sobibor. Vielleicht werden andere Teile der Aussagen der Überlebenden wieder relevant, wenn weitere Fotos aus Sobibor und anderen Orten des nationalsozialistischen Vernichtungssystems irgendwo auf deutschen Dachböden auftauchen und kritisch analysiert werden können.