»Jede Stadt hat ihre eigene Deportationsgeschichte, und jede dieser Geschichten offenbart eine Menge über die Mechanismen der Deportationen und das psychologische Klima, in dem sie stattfanden.«1 (Raul Hilberg)

Vor 1933 hatte Frankfurt gemessen an seiner Einwohnerzahl den höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil in der Weimarer Republik. Etwa 30.000 Juden_Jüdinnen lebten in der Stadt und prägten die Stadtgesellschaft auf vielfältige Weise. Nur einige Beispiele: An der Gründung der Goethe-Universität 1914 hatten jüdische Stifter_innen einen entscheidenden Anteil und 1933 waren an der als besonders progressiv geltenden Universität fast ein Drittel der Professoren Juden. Auch das 1923 gegründete Institut für Sozialforschung war von jüdischen Intellektuellen geprägt. Juden_Jüdinnen leiteten Kaufhäuser und waren in der Kulturszene der Stadt aktiv. Vier große, eindrucksvolle Synagogen prägten das Stadtbild. Während der nationalsozialistischen Herrschaft wurde all dies durch die Entrechtung, Verfolgung, Deportation und Ermordung der Juden_Jüdinnen zerstört. Frankfurt sollte von der »Stadt der Juden und Demokraten« zur »Stadt des deutschen Handwerks« umgedeutet werden. Mehr als ein Drittel der jüdischen Bewohner_innen Frankfurts wurde im Holocaust ermordet. Unmittelbar nach dem Krieg hielten sich nur noch 100 bis 200 Juden_Jüdinnen in der zerstörten Stadt auf.2

Von Oktober 1941 bis September 1942 verschleppte die Gestapo in zehn Massendeportationen mehr als 8.500 Juden_Jüdinnen aus Frankfurt in Ghettos und Konzentrations- und Vernichtungslager nach Osteuropa. Nachdem die ersten Massendeportationen im Oktober und November 1941 in die Ghettos in Lodz, Minsk und Kaunas organisiert worden waren, wurde die Gestapo am 31. Januar 1942 von Adolf Eichmann, der im Reichssicherheitshauptamt für die Deportation der Juden_Jüdinnen verantwortlich war, über die weiteren Planungen informiert. Die bürokratische Richtlinie lautete, dass alle Juden_Jüdinnen deportiert werden sollen, die nicht mit einer als »arisch« geltenden Person verheiratet und unter 65 Jahre alt waren sowie diejenigen, die nicht im kriegswichtigen Einsatz waren. In einer Besprechung im Reichssicherheitshauptamt bei Adolf Eichmann hieß es, »dass die Juden unter keinen Umständen von den Vorbereitungen Kenntnis haben dürfen und daher absolute Geheimhaltung nötig sei […]. Die Züge fassen nur 700 Personen, jedoch sind 1000 Juden darin unterzubringen. Es empfiehlt sich daher, rechtzeitig Güterwagons für das Gepäck […] zu bestellen.«3

Anfang Mai 1942 kam es zum Konflikt über die Auswahl der zu Deportierenden zwischen der Gestapo, Gauleiter Jakob Sprenger und der Stadt Frankfurt einerseits, die auf weitreichende Deportationen drängten und den Frankfurter Rüstungsbetrieben andererseits, die weiterhin von der Ausbeutung der Arbeitskraft profitieren wollten.4 Dass sich erstere insofern durchsetzten, dass Juden_Jüdinnen aus kriegswichtigen Betrieben bei den Deportationen Ende Mai und Juni 1942 nicht ausgenommen werden sollten, verweist auf den Charakter des nationalsozialistischen Antisemitismus, der sich nicht der gewöhnlichen Rationalität kriegsführender Staaten unterordnete, sondern auf Vernichtung zielte. Dabei waren es nicht nur die genuin nationalsozialistischen Institutionen, die auf Deportationen drängten. Der Leiter des Stadtgesundheitsamts Werner Fischer-Defoy (seit 1929 Mitglied der NSDAP) teilte dem Oberbürgermeister hinsichtlich der Nutzung eines großen jüdischen Krankenhauses mit: »[D]er Vertreter der Gestapo hat seine Unterstützung in Aussicht gestellt, dass die Insassen des jüdischen Krankenhauses bei der nächsten Judenaussiedlung erfasst werden.«5

In zwei Massendeportationen wurden im Mai 1942 1.896 Menschen in den Distrikt Lublin gebracht. Die arbeitsfähigen Männer zwischen 15 und 50 Jahren wurden im Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek registriert und dort zur Arbeit gezwungen. Viele der Männer starben schon nach wenigen Wochen. Die übrigen mehr als 1.500 Menschen wurden ins etwa 80 Kilometer entfernte Transitghetto Izbica und von dort weiter in die Lager der »Aktion Reinhardt« Sobibor und Belzec verschleppt, die einzig dem Zweck des Massenmordes dienten. Keiner der 1.896 Menschen, die im Mai deportiert wurden, überlebte den Holocaust. Der dritte Transport in die Region Lublin brachte am 11. Juni etwa 1.250 Menschen direkt ins Mordlager Sobibor.

Hoffnung, Gegenwehr, Verzweiflung

Nachdem bei der ersten Massendeportation 1.125 Menschen ins Ghetto Lodz verschleppt worden waren und sich die Vorbereitungen für weitere Deportationen bereits in Gang befanden, notierte die Frankfurterin Tilly Cahn am 4. November 1941 in ihrem Tagebuch, dass es sich angesichts der lebensbedrohlichen Zustände in den Ghettos um eine Deportation in den »sicheren und entsetzlichen Untergang« handle. »Und ganz viele Volksgenossen leben stillvergnügt weiter ohne die leiseste Ahnung von dem himmelschreienden Unrecht, das da geschieht.«6 Tilly Cahn war die Frau des renommierten jüdischen Anwalts Max Cahn, der als »jüdischer Konsulent« bis zum Ende des Krieges zugelassen war und als solcher Juden_Jüdinnen bei Emigrationsfragen beraten konnte. Am 2. Mai 1942 notierte sie: »Desaster: 1.100 Juden bekommen die Nachricht, dass sie sich zum Abtransport am 7. Mai bereithalten sollen, bis 65 Jahre […] Leid und Jammer lasse sich nicht schildern. Reiseziel unbekannt, nur wenig Gepäck gestattet, genaue Liste ist auszufüllen über alles, was sie zurücklassen, organisierter Raubmord.«7 Die Reaktionen auf die Bescheide waren sehr unterschiedlich, sie reichten von der Hoffnung auf die Niederlage der Deutschen und eine baldige Rückkehr über die organisierten Versuche, sich den Deportationen zu entziehen, bis hin zu Suiziden als letztem Ausweg. Sie spiegeln die Bedrohlichkeit der Situation ebenso wider wie ihre Undurchsichtigkeit.

Der zweiundzwanzigjährige Erich Mannheimer erhielt am Abend vor seiner Deportation Besuch von einer nichtjüdischen Freundin. Gemeinsam mit seiner Mutter saßen sie zu dritt im letzten verbliebenen Zimmer der einstmals großen Wohnung der Familie. Aus finanzieller Not heraus mussten sie die restlichen Zimmer untervermieten. Sie hatten bereits zwei Koffer gepackt und schenkten der Freundin Teile ihrer Bibliothek, eine Reiseschreibmaschine, eine Kette. Die Freundin erinnerte sich: »Zum Abschied ist er noch mit mir hinunter an die Haustüre gegangen. Er wirkte zuversichtlich und sagte, vielleicht auch um mich zu trösten: In Amerika werden jetzt neue Waffenfabriken gebaut, und die Amerikaner werden den Krieg bald gewinnen. In spätestens zwei Jahren bin ich wieder da. Ich habe ja deine Büronummer von der Frankfurter Zeitung.«8

Lili Hahn, deren Mutter Jüdin war, arbeitete 1942 als Achtundzwanzigjährige in der Arztpraxis ihres Vaters Bernhard Scholz im Westend. Eigentlich hatte sie Musiktheorie und -geschichte studiert und kurz vor der Machtübernahme Hitlers angefangen, als Journalistin zu arbeiten. Ab 1936 musste sie ihren Presseausweis abgeben und wurde mit einem Berufsverbot belegt. Sie hörte jedoch nicht auf, Tagebuch zu schreiben und die Geschehnisse im nationalsozialistischen Deutschland zu dokumentieren. Im Vorfeld der Verschleppungen nach Lublin erhielt die Praxis ihres Vaters Anrufe von Juden_Jüdinnen, die trotz der verordneten Geheimhaltung erfahren hatten, dass ihr Name auf den Deportationslisten steht. Die eigentlich gesunden Menschen baten um Hausbesuche, da sie darauf hofften, sich dem Zugriff der Behörden zumindest für eine gewisse Zeit entziehen zu können, wenn sie beim Eintreffen der Post im Krankenhaus lagen.

Lili Hahn war mit dem Arzt Ernst Stamm aus der HNO-Abteilung des Gagernkrankenhauses der jüdischen Gemeinde bekannt, mit dem sie folgende Vereinbarung traf: »Ich konnte ihn zu jeder Tages- und Nachtzeit anrufen. Wenn ich sagte: ›Ernst, kann ich Dich heute sehen?‹, und er antwortete ›Ja‹, so bedeutete das, dass er ein Bett frei hatte, und wen immer wir brachten, an der Pforte in Empfang nehmen und alles tun würde, um einen Gesunden krank zu machen, wobei er von Fieberspritzen sprach. […] Was kann ich noch darüber berichten, außer dass die Quelle meiner Tränen ausgetrocknet zu sein scheint? Es waren derart herzzerbrechende Situationen, in denen die Patienten uns mit einem hilflosen Ausdruck die Karten zureichten, die ihnen mitteilten, dass sie am 8. Mai die Reise in den Tod anzutreten hatten, und wir Abschied nahmen. Einige gingen mit einer sinnlosen kleinen Hoffnung, dass sie es vielleicht überleben könnten, andere in dem Bewusstsein, dass es das Ende bedeutete; eine ganz kleine Anzahl entschloss sich, ihrem Leben lieber selbst ein Ende zu bereiten, statt es den Nazis zu überlassen.«9

Die Verabreichung von Fieberspritzen spiegelt die Drastik der lebensbedrohenden Situation wider, in der sich die Frankfurter Juden_Jüdinnen befanden. Bei der zweiten Deportation häuften sich die Anrufe noch und Lili Hahn schildert in ihrem Tagebuch, wie sie und Stamm unter großen Anstrengungen und ständiger Furcht vor den Beamten der Gestapo weiterhin versuchten, den Menschen zu helfen: »Und jedesmal wenn wir am Gagernkrankenhaus ankamen, empfing uns der vor Müdigkeit erloschene Ernst Stamm, der uns wortlos den jeweiligen Patienten abnahm, um ihn krank zu machen auf dass er noch eine Woche, vielleicht einen Monat des Lebens geschenkt bekam wie das kleine Frl. Goldblatt, ein biegsames, schlankes, junges Mädchen, dessen kleines Gesicht nur aus zwei riesigen dunkel Augen zu bestehen schien. Sie war nicht krank, und sie wollte nicht sterben, bevor sie nur eben begonnen hatte zu leben.«10

In manchen Fällen gelang es durch diese Praxis tatsächlich, Einzelne vor der Verschleppung zu bewahren. Irene Block wurde als »Mischling zweiten Grades« nicht zum zweiten juristischen Staatsexamen zugelassen. Als Steuer- und Devisenberaterin betreute sie zahlreiche jüdische Frankfurter_innen und half ihnen bei der Emigration. Als ihre Klientin Maria Fulda im Oktober 1941 zum ersten Mal deportiert werden sollte, wurde sie aufgrund eines Schocks für transportunfähig erklärt. Bei der zweiten und dritten Deportationsaufforderung für die Verschleppung Richtung Lublin setzte sich Irene Block bei mehreren Ärzten für Maria Fulda ein, erwirkte die Ausstellung von Attesten, die sie für gehunfähig erklärten und brachte sie kurzzeitig im jüdischen Krankenhaus unter. Beide Male gelang es auf diese Weise, dem Zugriff der Gestapo zu entgehen. Bei der vierten Deportationsverfügung im September 1942 versteckte Irene Block Maria Fulda zunächst in einem angemieteten Zimmer auf dem Land im Bezirk Kassel und dann in verschiedenen Wohnungen bis zur Befreiung durch die Amerikaner_innen am 30. März 1945.

Ein städtisches Verbrechen

Als Sammelstelle für die Deportationen diente der Frankfurter Gestapo die zwischen Hafenbahn und Ostbahnhof verkehrstechnisch günstig gelegene Großmarkthalle, auf deren Gelände sich heute die Europäische Zentralbank befindet. Nicht weit von der Innenstadt entfernt war sie dennoch gut ans Schienennetz angebunden. Zugleich war der Keller relativ abgeschirmt von der Öffentlichkeit. Dort wurden die Menschen gedemütigt, misshandelt und ihrer Habe beraubt, bevor sie auf dem Gleisfeld vor der Halle in Züge der Deutschen Reichsbahn steigen mussten, die sie in Richtung Osten brachten. ­Währenddessen lief der Betrieb in der Markthalle ununterbrochen weiter, obgleich den dort Beschäftigten die gewaltsamen Vorgänge nicht verborgen bleiben konnten.11

Ohnehin fand ein relevanter Schritt im Vorfeld der Deportationen nicht etwa heimlich und in der Nacht statt, sondern vor aller Augen: Die Frankfurter Juden_Jüdinnen mussten mit ihrem Gepäck durch die Stadt bis zur Großmarkthalle laufen. Ein damals zehnjähriges Mädchen berichtete später, wie sie die Menschen am Geschäft ihrer Mutter vorbeigehen sah: »Die jüdischen Menschen mit dem gelben Stern auf der Brust liefen unter Bewachung in Vierer- und Fünferreihen durch die Waldschmidtstraße in Richtung Großmarkthalle. Der Zug war etwa 50 Meter lang. Es waren Familien mit Kindern, die ihre Köfferchen oder anderes Kleingepäck dabei hatten. An allen Seiten liefen bewaffnete Uniformierte.«12

An der gewaltsamen »Leibesvisitation« in der Großmarkthalle waren neben der Gestapo auch Beamte der Frankfurter Kriminalpolizei beteiligt, die die Menschen im Keller und auf dem Gleisbett misshandelten und demütigten. Um die Verpflegung des eingesetzten Personals kümmerte sich eine städtische Einrichtung, wie aus einer Notiz der Staatspolizeistelle hervorgeht. Die Banalität der Notiz steht in tiefer Diskrepanz zum Verbrechen, das sich hinter dem die grausame Realität verschleiernden nationalsozialistischen Begriff der »Judenevakuierung« verbirgt: »Nach Mitteilung der städt. Schulkinderspeisung ist anlässlich der Verpflegung bei den bisher durchgeführten Judenevakuierungen eine Anzahl Löffel nicht zurückgegeben worden. Die Beamten, die etwa irrtümlich noch einen Löffel in Besitz haben, werden gebeten, diesen bei I C 5 abzugeben. Bei der nächsten Verpflegung muss, wie mit der städtischen Schulkinderspeisung vereinbart wurde, jeder Beamte einen Löffel selbst mitbringen. Ausnahmsweise können am Büffet Löffel gegen Zahlung eines Pfandes in Empfang genommen werden.«13 An der Planung und Durchführung der Verschleppung der jüdischen Bevölkerung Frankfurts waren nicht nur die Gestapo und führende Nationalsozialisten beteiligt, sondern auch gewöhnliche Polizist_innen sowie Mitarbeiter_innen städtischer Ämter und der Reichsbahn. Viele Bürger_innen der Stadt profitierten am zurückgelassenen Eigentum und den leer stehenden Wohnungen der Jüdinnen_Juden.

Um auf die geplante Anzahl, die von den Deportationslisten vorgegeben war, zu kommen, wurden jene, die sich durch Suizid entzogen hatten, durch völlig unvorbereitete Menschen ersetzt. Tilly Cahn notierte am 8. Mai zur Abfahrt eines Zuges: »Noch heute Nacht wurden einige aus den Betten geholt, mussten à Tempo, völlig unvorbereitet, mit, zum Teil als Ersatz für solche, die sich das Leben genommen haben. Es ist eine förmliche Beruhigung, an die Toten zu denken. Beim Einsteigen in den Zug heute in aller Frühe soll die SS sich wieder was geleistet haben an Rohheit, Mißhandlungen. […] aus dem Jüdischen Krankenhaus haben sie 21 ­Schwestern geholt. Ebenso systematisch aus Altersheimen, Pensionen die jugendlichen Hilfskräfte. Noch gestern Abend um 11 Uhr völlig unvorbereitet einige Menschen aus den Betten – weil irgendwie die Zahl 1100 noch nicht voll war. Da die Leute nicht Trambahn fahren durften, mussten sie mit ihrem Gepäck zu Fuß an die Großmarkthalle. Spießrutenlaufen dazu! Und draußen blüht der Mai: Kastanien, Flieder, Glyzinien, Apfelbäume – es tut einem nur weh, diese Schönheit.«14

Inwiefern die vielen »Volksgenossen«, die ihr Leben den Tagebuchaufzeichnungen Tilly Cahns zufolge unbeirrt fortsetzten, konkret über den Massenmord an den Juden_Jüdinnen Bescheid wussten, lässt sich an dieser Stelle nicht ergründen. Allerdings verweisen die tiefe und vielfältige Verstrickung der Stadtgesellschaft in die Massendeportationen ebenso wie die Aufzeichnungen, die von der Öffentlichkeit der Vorgänge zeugen, darauf, dass die Ermordung der Juden_Jüdinnen, die auf die Verschleppung folgte, einen weitreichenden antijüdischen Konsens in der Bevölkerung zur Bedingung hatte.15

Strafverfolgung, Forschung, Erinnerung

Nur wenige derjenigen, die an der Deportation der Juden_Jüdinnen aus deutschen Städten beteiligt waren, wurden nach 1945 verurteilt. In Frankfurt eröffnete die Staatsanwaltschaft 1958 ein Ermittlungsverfahren, bei dem es allerdings wegen der schwierigen Beweisführung zu keiner Verurteilung kam. Die Gestapo hatte ihre Akten verbrannt und nur wenige der Verschleppten hatten die Shoah überlebt. Zugleich behaupteten alle Beschuldigten, nichts von der systematischen Ermordung der Juden_Jüdinnen gewusst zu haben. Die Ermittlungen wegen Mordes wurden 1969 eingestellt. Zu diesem Zeitpunkt waren einige andere Tatbestände wie Freiheitsberaubung bereits verjährt. Aus dem Kreis der beteiligten Täter_innen wurde einzig der Gestapobeamte Heinrich Baab, der vom August 1942 an als Leiter des »Judenreferats« verantwortlich für die Organisation der Massendeportationen war, bereits 1950 verurteilt. Allerdings nicht etwa wegen seiner zentralen Rolle bei den Massendeportationen, sondern wegen spezifischer Einzelverbrechen. Ihm wurden mehrfacher Mord und andere Verbrechen an antisemitisch Verfolgten nachgewiesen.16

Während seiner Haft fertigte Baab 1966 eine Skizze über die Abläufe im Keller der Großmarkthalle an. Das schematische Organigramm zeigt den Grundriss des Kellers und markiert den Weg, auf dem die Menschen durch den Keller geschleust wurden. Auf den ersten Blick vermittelt das Dokument in vorgeblicher Sachlichkeit einen geordneten Vorgang und verschleiert damit die Ungeheuerlichkeit und Brutalität des Verbrechens. Betrachtet man es im Kontext der Shoah, ist es ein »Dokument des Schreckens, das die Schicksale von Tausenden von Menschen auf ein System von Pfeilen, Kästchen, Piktogrammen und Beschriftungen reduziert; und das Ganze in der Art eines Brettspiels.«17 Baab inszenierte sich als Stadthistoriker und Zeitzeuge, und es gelang ihm, die Skizze und seine Sicht der Dinge unter dem Titel »Die Tragödie der Frankfurter Juden: Es begann vor 25 Jahren … Bericht von einem, der es wissen muss« in der Frankfurter Neuen Presse, die ihn als »Kenner der Bürokratie des Todes« vorstellte, zu veröffentlichen.18 Baab nutzte die Gelegenheit, um sich selbst als bloßen Befehlsempfänger und Opfer der Verhältnisse darzustellen, womit er bei vielen seiner Zeitgenoss_innen im postnazistischen Deutschland Anklang gefunden haben dürfte.

Dass man heute sehr viel mehr über die Deportationen aus Frankfurt wissen und sich mit der Perspektive der Verfolgten auseinandersetzen kann, ist zu einem bedeutenden Teil der Historikerin Monica Kingreen zu verdanken. Sie recherchierte seit den 1980er Jahren intensiv zur Geschichte der Juden_Jüdinnen in Hessen und widmete sich insbesondere der Geschichte der Deportationen »vor Ort«. Mit ihrer Forschung unterstützte sie die lokale zivilgesellschaftliche Spurensuche und ermöglichte regionale Erinnerungs- und Gedenkorte. Nachdem die Stadt das Gelände der Großmarkthalle 2005 an die EZB verkauft hatte, forderten Leserbriefe und verschiedene erinnerungspolitisch engagierte Initiativen, dass die besondere Funktion, die die Großmarkthalle bei der Verschleppung und Ermordung der Frankfurter Jüdinnen_Juden hatte, bei den Bebauungsplänen berücksichtigt werden müsse. Seit 2015 existiert eine Erinnerungsstätte, die vom Jüdischen Museum betrieben wird. Dort spielen die Berichte der Zeug_innen eine zentrale Rolle.