Dokumentation als Widerstand
»Falls keiner von uns überlebt, soll wenigstens das bleiben.« Diese Worte schreibt Emanuel Ringelblum Anfang 1944 über das Untergrundarchiv des Warschauer Gettos und dessen Sammlungen an seinen Freund Adolf Berman.1 Er und seine Mitstreiter_innen versuchten, Zeugnisse für diese Nachwelt zu hinterlassen, ihr Leben und ihr Leiden in einem Untergrundarchiv zu dokumentieren. Ein unbekannter Verfasser beschreibt im Dezember 1941 für dieses Archiv seine Eindrücke, als er das erste Mal das Warschauer Getto betrat: »Ich habe nicht nur die Mauer-Grenze überschritten, sondern auch die Grenze der vorstellbaren Wirklichkeit.«2 Eine jenseits aller Vorstellungskraft liegende Realität wollten diese Menschen beschreiben und dokumentieren. Sie wollten, falls sie nicht überlebten, nicht auch noch die Erinnerung an sie und ihr Leiden den TäterInnen überlassen.
Der promovierte Historiker Emanuel Ringelblum war 40 Jahre alt, als das Archiv mit dem Tarnnamen Oneg Schabbat im November 1940 in seiner Wohnung in Warschau gegründet wurde. Sowohl er selbst als auch zahlreiche weitere Mitglieder des Archivs waren im besetzten Warschau in der jüdischen Selbsthilfe tätig und hatten dadurch Kontakte in breite Gesellschaftsschichten im Getto, was eine wichtige Voraussetzung für ihren sehr umfassenden Dokumentationsanspruch war.3 Oneg Schabbat war eine Gemeinschaft von Wissenschaftler_innen und auch verschiedener sozial und politisch tätiger Aktivist_innen; etwa 50 bis 60 Menschen unterstützten die Dokumentationstätigkeit. Zentrale Persönlichkeiten waren neben Ringelblum zwei Geflüchtete aus Łódź, die als Sekretäre das Archiv organisierten und die Leitlinien der Arbeit mit Ringelblum diskutierten: Eliyahu Gutkowski und Hersh Wasser. Auch der bekannte Pädagoge Janusz Korczak unterstützte das Archiv, ebenso zählten der Rabbiner Szymon Huberband und der Dichter Izchak Kacenelson zu den Autor_innen. Neben diesen bekannten Persönlichkeiten finden sich in der Gruppe auch viele Menschen, deren Namen nur aus ihrem Wirken im Untergrundarchiv bekannt sind.
Die meisten von ihnen verstanden sich vor allem als Wissenschaftler_innen, die die Geschichte der Juden_Jüdinnen unter deutscher Besatzung dokumentieren, aber auch schreiben wollten: Sie sahen die Dokumentationstätigkeit als Grundlage eines interdisziplinären Forschungsprogramms, das alle Aspekte der Geschichte der polnischen Juden_Jüdinnen während des Zweiten Weltkriegs umfasste. Aufgrund dieses Anspruchs sammelten sie Dokumente unterschiedlichster Herkunft und archivierten alles, was mit dem Leben im Getto zu tun hatte: Plakate, Arztrezepte, Einladungen zu kulturellen Veranstaltungen, Zeitungsberichte, Lebensmittelkarten, Passierscheine, Arbeitsbestätigungen, religiöse und kulturelle Dokumente. Besonders waren sie an Dokumenten interessiert, die das individuelle Leben Einzelner verdeutlichten: Tagebücher, Berichte und Briefe, Schulaufsätze von Kindern. Sie führten Interviews durch, um auch die Probleme und das Leben derjenigen zu dokumentieren, die nicht selbst schrieben. Außerdem übergaben viele Schriftsteller_innen dem Untergrundarchiv ihre Werke, andere Menschen vertrauten der Gruppe Fotografien oder ihre Tagebücher an. Geflüchtete verfassten Arbeiten über das Schicksal der jüdischen Bevölkerung in ihren Herkunftsorten. Zugang zu Dokumenten aus anderen Orten hatte die Gruppe daneben durch die engen Verbindungen zu den im besetzten Polen tätigen Hilfsorganisationen Joint und vor allem die Jüdische Soziale Selbsthilfe (JSS).
Freilich sammelten die Aktivist_innen nicht nur, sondern sie schrieben auch selbst eindrucksvolle Studien über die Gesellschaft des Gettos, über deren Probleme und die Versuche, sie zu bewältigen. Anfang 1942 ging die Gruppe an eine erste Bestandsaufnahme, einer wissenschaftlichen Arbeit über »Zweieinhalb Jahre Krieg«. Sie begannen mit der Darstellung einer Geschichte, die im Moment des Schreibens noch andauerte. Sie schrieben über Themen wie Korruption und Demoralisierung innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, das kulturelle und gesellschaftliche Leben im Getto sowie die polnisch-jüdischen Beziehungen. Sie erforschten das Leben von Frauen und das von Kindern unter deutscher Besatzung. Doch während sie an ihrem großen Projekt arbeiteten, begannen am 22. Juli 1942 die Deportationen aus dem Warschauer Getto nach Treblinka. Nach den Deportationen fehlte für viele Themen der Forschungsgegenstand. Es konnte nicht mehr über Leben und Leiden der Kinder in den Gettos geforscht werden, da es nur noch wenige gab; ebenso wenig machte es noch Sinn, die Rolle von Frauen in der Gettogesellschaft zu analysieren, da diese Gesellschaft kaum mehr so existierte wie noch kurz zuvor. Außerdem wurde Cecilia Slepak, die Ringelblum gebeten hatte, über die jüdische Frau im Krieg zu forschen und zu schreiben, ebenfalls im Sommer 1942 nach Treblinka deportiert, genau wie viele andere, die bis dahin an der Arbeit des Archivs beteiligt gewesen waren.4
Bereits seit dem Beginn der »Aktion Reinhardt« im März 1942 hatte das Untergrundarchiv Nachrichten über die Massenmorde und die Auflösungen jüdischer Gemeinden in anderen Orten gesammelt, nun wurde das größte Getto im besetzten Polen selbst in die Mordaktionen einbezogen. Innerhalb weniger Wochen, bis zum 21. September, deportierten die deutschen BesatzerInnen mindestens 260.000 Männer, Frauen und Kinder aus dem Warschauer Getto nach Treblinka und vergasten sie dort – viele hatten sie auch bereits im Getto an Ort und Stelle erschossen. Die Mitarbeiter_innen des Untergrundarchivs, die blieben, schrieben in diesen dramatischen Tagen detaillierte Berichte. Und die, die »ausgesiedelt« wurden, formulierten in ihren letzten Aufzeichnungen für das Ringelblum-Archiv immer wieder den Wunsch, dass durch diese Texte an sie erinnert und wenigstens ihr Name überdauern werde. Sie wollten die kommenden Generationen daran erinnern, dass keine anonymen Massen ermordet worden waren, sondern Individuen mit einer eigenen Geschichte.
In diesen vor der »Aussiedlung« geschriebenen letzten Texten, fügten die Autor_innen meist noch eine kurze Biografie von sich und ihren Lieben hinzu. Israel Lichtenstein, der den ersten großen Teil des Ringelblum-Archivs kurz zuvor versteckt hatte, schrieb: »Ich möchte nur, dass man sich meiner erinnert.« Und er fügte hinzu: »Ich will, dass man sich meiner Frau erinnert, Gela Seksztejn, Malerin, die Dutzende Bilder hergestellt hätte, es aber nicht konnte, nicht im Rampenlicht stehen konnte. Während der drei Kriegsjahre arbeitete sie mit Kindern als Erzieherin und Lehrerin, fertigte Dekorationen und Kostüme für die Aufführungen der Kinder an, erhielt Auszeichnungen. Jetzt bereitet sie sich mit mir zusammen auf den Tod vor. Ich will, dass man sich meiner Tochter erinnert. Margolis ist heute 20 Monate alt. Beherrscht vollkommen die jiddische Sprache. Spricht ein einwandfreies Jiddisch. Mit neun Monaten fing sie an, deutlich Jiddisch zu sprechen. Mit ihrer Intelligenz steht sie auf der Stufe drei- oder vierjähriger Kinder. […] Ich betrauere nicht mein Leben und das meiner Frau, leid ist es mir nur um das kleine, wohlgeratene Mädchen. Auch sie ist es wert, dass ihrer gedacht wird.«5 Israel, Lichtenszejn, Gela Seksztejn und ihre Tochter Margolis überlebten die Deportationen um Sommer 1942, kamen aber kurz vor oder während des Aufstands im Warschauer Ghetto 1943 ums Leben.
Die Mitglieder von Oneg Schabbat waren genauestens darüber informiert, was der Begriff »Aussiedlung« bedeutete. Ende Juli 1942 drangen erste Informationen aus Treblinka ins Getto und Ende August informierte ein nach Warschau zurückgekehrter Geflüchteter die Gruppe detailliert über das Vernichtungslager.
Über den Massenmord an Juden_Jüdinnen in anderen Städten hatte die Gruppe Oneg Schabbat bereits vorher Informationen gesammelt. So war bereits Ende Januar 1942 bekannt, dass die Deutschen Juden_Jüdinnen aus dem Reichsgau Wartheland im Vernichtungslager Kulmhof (Chełmno) ermordeten. Briefe und Postkarten aus dem Januar 1942, die aus Ghettos im Warthegau an Verwandte in Warschau geschickt worden waren und in denen explizit von der Tötung durch Gas die Rede ist, gelangten ins Archiv. Zudem kam ein Geflüchteter, der im »Sonderkommando« in Kulmhof hatte arbeiten müssen, Anfang Februar ins Warschauer Getto und wurde dort von Hersz Wasser bei sich aufgenommen. Er zeichnete seinen detaillierten Bericht über die Vorgänge in Kulmhof auf, der in der Untergrundpresse des Gettos veröffentlicht und auch dem polnischen Untergrund mitgeteilt wurde.
Unter dem Eindruck der Nachrichten aus den Vernichtungslagern stand die Gruppe um Emanuel Ringelblum vor einer neuen, großen Aufgabe: die Informierung der Öffentlichkeit über den Massenmord. Noch im Frühjahr 1942 wurden Berichte für die polnische Exilregierung in London an das Informations- und Propagandabüro der Heimatarmee geleitet, Ende Mai 1942 hatten zwei Reporte des Untergrundarchivs Großbritannien erreicht und am 2. Juni 1942 brachte die BBC einen Bericht über die Ermordung von 700.000 polnischen Juden_Jüdinnen, dem weitere folgten. In polnischen und jüdischen Untergrundzeitungen erschienen Nachrichten über den Massenmord, denn auch innerhalb des Gettos stand jetzt die Aufklärung an allererster Stelle: Die jüdische Bevölkerung musste genauestens informiert werden, damit sie sich bei der nächsten »Aktion« der Deportation widersetzen würde. Und so wurde das vom Ringelblum-Archiv gesammelte und ausgewertete Material zu einer wichtigen Motivation für die Planung des Widerstands von Juden_Jüdinnen gegen die deutschen BesatzerInnen.6
Das Schicksal der Chronist_innen und der Archive
Die meisten der Chronist_innen überlebten den Holocaust nicht. Viele Mitarbeiter_innen starben bereits im Getto oder während der großen »Aussiedlungsaktion«. Von Ringelblums engeren Mitarbeiter_innen überlebten nur Bluma und Hersz Wasser sowie die Schriftstellerin Rachela Auerbach. Emanuel Ringelblum selbst verließ Ende Februar /
Anfang März 1943 das Getto und versteckte sich zusammen mit seiner Frau Yehudit (Józia) und seinem Sohn Uriel auf der »arischen« Seite. Er schrieb dort mehrere Essays und sammelte zusammen mit anderen Mitgliedern des Untergrundarchivs weiter Dokumente. Ringelblum kehrte mehrfach ins Getto zurück, so auch am 18. April 1943, dem Tag, bevor der Aufstand begann. Er saß in der Falle und konnte nicht aus dem kämpfenden Getto hinaus. Er wurde verhaftet und ins Arbeitslager Trawniki im Distrikt Lublin gebracht. Es gelang, ihn zu befreien und er kehrte nach Warschau zurück. Von August 1943 bis zu ihrem Tod im März 1944 waren Emanuel Ringelblum, seine Frau und sein Sohn mit knapp 40 Juden_Jüdinnen in einem Bunker versteckt. Auch hier schrieb er weiter, unter anderem seine Arbeit über polnisch-jüdische Beziehungen während des Zweiten Weltkriegs. Am 7. März 1944 entdeckte die deutsche Polizei das Versteck – und erschoss die im Bunker untergetauchten Juden_Jüdinnen sowie ihre polnischen Helfer_innen.7
Überdauert haben die Quellen. Die Dokumente des Untergrundarchivs waren im August 1942 zunächst in zehn Metallkästen, dann im Februar 1943 in zwei großen Milchkannen und im April 1943 an mehreren Orten versteckt worden. Sie wurden unter den Trümmern des Warschauer Ghettos gefunden, den ersten Teil des Archivs fand man im September 1946 nach Bemühungen von Rachela Auerbach und Hersz Wasser, den zweiten Teil im Dezember 1950 bei Erdarbeiten. Vom dritten Teil wurden nur Fragmente eines Tagebuchs gefunden. Das Ringelblum-Archiv wird heute im inzwischen nach Emanuel Ringelblum benannten Jüdischen Historischen Institut in Warschau aufbewahrt. Vor dem Zweiten Weltkrieg war hier die Judaistische Hauptbibliothek, von 1940 bis 1942 war das Gebäude einer der Treffpunkte der Gruppe Oneg Schabbat. Das Jüdische Historische Institut in Warschau hat inzwischen sämtliche Dokumente in einer polnischen Edition herausgegeben, die gerade ins Englische übersetzt wird.8
Den Aktivist_innen im Untergrundarchiv war es unter den katastrophalen Lebensbedingungen, unter denen zu leben ihnen aufgezwungen war, das Wichtigste, die Erinnerung an ihr Leben und ihre Leiden zu sichern. Sie wollten dokumentieren, was Juden_Jüdinnen unter deutscher Herrschaft erleiden mussten, wie Juden_Jüdinnen reagierten, wie sie handelten. Es war ihr wohl größtes Anliegen, die Erinnerung nicht den TäterInnen zu überlassen. Ihre Botschaft würde die Menschen in einer späteren Welt interessieren, davon waren sie überzeugt. Und ihr daraus resultierender Wille, ihre Geschichte zu erzählen, verbindet sie mit zahlreichen Menschen in anderen Gettos, die ihre Geschichte aufschrieben.9
Die vorgestellten Chronist_innen des Gettos berichteten über Leben und Sterben unter deutscher Besatzung und definierten damit auch bereits einige der Themen, über die wir heute forschen. Die Perspektive der Verfolgten kann den TäterInnendokumenten entgegengestellt werden, sie ist ein notwendiges Korrektiv dieses TäterInnenblicks, der häufig die Erinnerung an das Warschauer Getto bestimmt, etwa durch die bekannten Fotos aus dem sog. Stroop-Bericht über die Niederschlagung des Aufstands im Warschauer Getto. Für eine Geschichtsschreibung, die sich der Gettos im besetzten Osteuropa annehmen möchte, aber auch für den Einsatz etwa in der Bildungsarbeit, sind die Dokumente, über die wir dank des Untergrundarchivs im Warschauer Getto verfügen, von unschätzbarem Wert. Die NationalsozialistInnen wollten mit den europäischen Juden_Jüdinnen auch die Erinnerung an sie und die deutschen Verbrechen vernichten. Dies ist dank der Dokumentationsbemühungen der Verfolgten nicht gelungen. Damit können die Aktivitäten von Emanuel Ringelblum und allen seinen Mitstreiter_innen mit Fug und Recht als einer der, wenn nicht sogar der erfolgreichste Akt jüdischen Widerstands gegen die NationalsozialistInnen gelten.