Architektur als Mordinstrument
Für die »Aktion Reinhardt« wurden zum ersten Mal Bauten erdacht und errichtet, die eigens der massenhaften und regelmäßigen Tötung von Menschen dienten. Architektur, gemeinhin verstanden als zivilisatorische Errungenschaft zum Schutz und Nutzen des Menschen, wurde mit den Gaskammern zum Mordinstrument. Diese Feststellung stand am Anfang meiner Beschäftigung mit der Architektur der nationalsozialistischen Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka.1
Zusätzlich zu den Gaskammern bedurfte es an allen drei Standorten eines umgebenden Lagers, dessen bauliche, infrastrukturelle und organisatorische Ordnung den Massenmord erst ermöglichte. Die drei Lager wurden nacheinander errichtet, ihre bauliche Entwicklung lässt sich in Phasen einteilen, die alle drei Lager, wenn auch zeitlich versetzt, durchliefen. Die erste Phase bildeten der Aufbau und die Erprobung der Mordtechnik. Darauf folgte eine Phase des kontinuierlichen Massenmords, begleitet von einem sukzessiven Ausbau der Lager. In der dritten Phase kam es zu einer Unterbrechung des Tötens in den Gaskammern. Alle drei Standorte wurden organisatorisch und baulich umstrukturiert und erhielten neue, größere Gaskammergebäude. Erst zum Ende der darauffolgenden neuerlichen Phase des Mordens begann die SS mit der Verbrennung der Leichen. Die Exhumierung und das Verbrennen der Leichen wurden schließlich für einige Wochen die einzige Tätigkeit, die die verbliebenen jüdischen Gefangenen in den Lagern ausüben mussten.
In Sobibor und Treblinka organisierten die Gefangenen bewaffnete Aufstände, die eine kollektive Flucht und einigen wenigen das Überleben ermöglichten. Während der Standort Belzec bereits im März 1943 von der SS aufgegeben wurde, leiteten die Revolten vom 2. August in Treblinka und 14. Oktober 1943 in Sobibor die Auflösung der dortigen Lager ein, die noch bis zum November des Jahres andauerte. Ende 1943 waren somit alle drei Lager liquidiert, ihre architektonischen Strukturen abgerissen und die Gelände planiert, bepflanzt und überbaut. Diese Entscheidung hatte nichts mit der herannahenden Front zu tun, wie es später bei den übrigen Konzentrations- und Vernichtungslagern der Fall war.
Überhaupt ist es wichtig zu beachten, dass sich die Lager der »Aktion Reinhardt« vom SS-Konzentrationslagersystem grundlegend unterschieden. Ihre Funktion war ausschließlich der Mord an Juden_Jüdinnen. Ökonomische Überlegungen spielten keine Rolle. Die Lager waren nicht Teil der Wirtschaftsbetriebe der SS und nicht in die zentralistische Organisationsstruktur der Konzentrationslager eingebunden. Sie unterstanden somit nicht der Inspektion der Konzentrationslager in Berlin. Das bedeutete unter anderem, dass die Protagonisten der »Aktion Reinhardt« nicht auf die dortigen Fachleute und andere Ressourcen zurückgreifen konnten. Dadurch handelte es sich bei der Architektur der »Aktion Reinhardt«-Lager um eine Architektur ohne Architekten, die nicht (oder allenfalls in geringem Umfang) am Reißbrett geplant wurde.
Dies alles bedeutete für die Täter in Lublin und in den einzelnen Lagern einen beträchtlichen Handlungsspielraum. Die Entstehung und der Ausbau der drei Lager kann als »trial and error« Verfahren verstanden werden, das von Praktikern vor Ort entwickelt und fortlaufend angepasst und abgewandelt wurde. Die temporäre, im stetigen Wandel begriffene materielle Gestalt der Vernichtungslager wurde dabei nicht nur von Bauten bestimmt, sondern auch durch eine bestimmte Setzung von Freiflächen und Verkehrswegen, Grenzziehungen und Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen.
Zonierung
Ein grundlegendes Merkmal der Lager war die Raumorganisation mittels Zonierung. Der Massenmord in den Gaskammern fand jeweils in einem eigens abgeteilten Bereich statt. Die Lager waren zudem in verschiedene Zonen für bestimmte Personengruppen und Funktionen aufgeteilt. Im SS-Jargon gab es in Belzec und Treblinka jeweils ein »Lager I« und ein »Lager II«, wobei »Lager II« den Vernichtungsbereich bezeichnete. Sobibor bestand aus mehreren nummerierten und als Lager bezeichneten Einheiten. An allen drei Standorten nahm die Zone mit den Gaskammern einen relativ kleinen Teil der Gesamtfläche ein. Der Zugang zu diesem Bereich wurde am stärksten reguliert.
Eine Besonderheit in Belzec war der Umstand, dass die SS in Wohnungen im Dorf Quartier bezog. Auf dem etwa 6 Hektar großen Gelände des Lagers befanden sich getrennte Unterkunftsbaracken für die Wachmänner aus Trawniki sowie für die Juden_Jüdinnen, die zur Arbeit im Lager eingesetzt wurden. Weitere Funktionsbaracken wurden als Werkstätten genutzt, zwei Bauten auf dem Weg zu den Gaskammern dienten dazu, dass sich die Deportierten darin entkleiden mussten und ihnen die Haare abgeschnitten wurden.
Das Lager in Sobibor war von Beginn an bedeutend größer angelegt, im Laufe seines Bestehens wurde es sogar auf die zehnfache Größe, also circa 60 Hektar, erweitert. Die komplette SS-Mannschaft war innerhalb des Lagers untergebracht, in einem Bereich, der »Vorlager« genannt wurde. Das »Vorlager« gehörte zum Verwaltungsbereich, in dem sich außerdem das »Lager I« befand, mit Unterkunftsbaracken für die jüdischen Gefangenen und diversen Werkstätten; in »Lager II« mussten sich die Deportierten ausziehen und wurden ihrer gesamten Habe beraubt, die dort in Lagerhallen sortiert und zum Abtransport vorbereitet wurde. Hier gab es außerdem Ställe für verschiedene Nutztiere und einen Gemüsegarten. Der Vernichtungsbereich wurde in Sobibor »Lager III« genannt. Zwischen »Lager II« und »Lager III« wurde ein kleiner Flugplatz angelegt. Ab Juli 1943 wurde das sogenannte »Nordlager«, auch »Lager IV« genannt, ausgebaut, das der Sortierung von Beutemunition dienen sollte.
In Treblinka umfasste »Lager I« unter anderem das Gleis, an dem die Züge mit den Deportierten zum Halten kamen, Lagerräume, Magazine, Werkstätten, eine Schreibstube, Wohnbaracken der SS und der Wachmannschaften, Garagen, einen Gemüsegarten und die Unterkünfte der Gefangenen. Deren Bereich bestand zu Beginn des Lagers nur aus einzelnen Werkstätten, später wurde er ausgebaut, eigens eingezäunt und im Lagerjargon als »Ghetto« bezeichnet.
Grenzziehungen
Um die Zonierung der Lagergelände vorzunehmen und zu kontrollieren, waren Grenzziehungen nötig. Dabei handelte es sich in erster Linie um Zäune. Die Errichtung der äußeren Lagergrenze gehörte an allen drei Standorten zu den ersten Bauarbeiten – neben dem Ausheben von Massengräbern. Anders als in den Konzentrationslagern war der Zaun in den »Aktion Reinhardt«-Lagern nicht elektrisch geladen. Aufgestellt wurde eine zweifache, in Sobibor sogar dreifache, Umzäunung aus Stacheldraht. Allerdings waren die Stacheldrahtzäune der »Aktion Reinhardt« mit Zweigen von Nadelbäumen blickdicht durchflochten. Diese spezifische Zaungestaltung prägte die Erinnerung des Überlebenden Richard Glazar so, dass er im Titel seines Lebensberichtes Treblinka als Falle mit dem grünen Zaun bezeichnete; Grenzziehungen innerhalb des Lagers beschrieb er als »grüne Wände aus nadeligem Pelz«.2 Kürzlich neu aufgetauchte private Fotografien des deutschen SS-Mannes Johann Niemann zeigen diese Form der Außenbegrenzung am Standort Sobibor.
An allen drei Standorten war der Bereich mit den Gaskammern an den Rest des Lagers über einen wenige Meter breiten, umzäunten Gang angeschlossen, der im Lagerjargon als »Schlauch« und manchmal auch als »Himmelfahrtsstraße« bezeichnet wurde. Durch den »Schlauch« wurden die Deportierten zu den Gaskammern getrieben. Zuvor hatte die SS die Menschen bereits gezwungen, sich nackt auszuziehen. Dies geschah oftmals unter freiem Himmel – in Sobibor gab es überhaupt keine gesonderten Baracken für das Ablegen der Kleidung, sondern einen »Auskleideplatz«.
Freiflächen
Der provisorische Charakter der Lager und der permanente Um- und Ausbau brachten es mit sich, dass vieles unter freiem Himmel stattfand. Planerische Leerstellen wurden zu architektonischen Minimallösungen, die sich im Laufe der Zeit veränderten, überbaut oder überhaupt erst geschaffen wurden und auch die Nutzungen variierten. Eine Nutzung von Freiflächen, die naheliegender Weise mit einem Lager assoziiert werden kann, bedenkt man seinen militärischen Ursprung, ist der »Appellplatz«. In den Lagern der »Aktion Reinhardt« war ein solcher zunächst aber nicht vorgesehen. Gefangenen-Appelle fanden unregelmäßig und an unterschiedlichen Orten statt. In Treblinka und Sobibor wurde im Verlauf des Lagerbetriebs ein »Appellplatz« eingerichtet, in Belzec scheint es keine Appelle gegeben zu haben, zumindest keine ausgewiesene Fläche dafür.
Die Kontrolle und Ordnung einer Gruppe Gefangener, die zumindest für begrenzte Zeit am Leben gelassen wurde, erwies sich den Tätern erst im Betrieb des Lagers als nützlich. Vorher nahmen sie an, dass dies nicht notwendig sein würde: Die Deportierten sollten direkt nach der Ankunft im Lager getötet werden, wodurch Appellstehen, Unterkünfte, Verpflegung, sanitäre Einrichtungen und dergleichen überflüssig wären. In der Praxis erwies sich den Mördern aber, dass sich das von ihnen geplante Verbrechen nicht »wie am Fließband« abwickeln ließ.
Lagerbauten
Neben der Zonierung, den Grenzziehungen und den Freiflächen respektive Plätzen erfüllten Hochbauten, das heißt im engen Sinne architektonischen Elemente, zentrale Funktionen im Ablauf des Massenmords. Wie bereits deutlich geworden ist, verfügten die Vernichtungslager zusätzlich zu den Gaskammergebäuden über eine Vielzahl weiterer Bauten, die in der Regel als Baracken ausgeführt wurden. Dieser Bautypus ist kostengünstig, schnell und relativ einfach auf- und abzubauen, transportabel, multifunktional einsetzbar und variabel in der inneren Aufteilung, mithin prädestiniert für den Einsatz in Lagern.
Die Baracken waren zunächst als Unterkünfte für die Wachmänner aus Trawniki vorgesehen und für einen Teil der SS-Mannschaften. Anders als an den beiden anderen Standorten wohnte die SS in Belzec im Dorf in beschlagnahmten Wohnungen. Dort wurde auch die Lagerverwaltung abgewickelt und die geraubten Wertsachen gelagert. In Sobibor wurden bestehende Bauten ins Lagergelände integriert: ein Postgebäude, ein Forsthaus, ein hoher Aussichtsturm, der der Forstverwaltung zur Prävention von Waldbränden diente sowie in einiger Entfernung eine kleine Kapelle. Dort, wie auch in Treblinka, bezog die SS innerhalb des Lagergeländes Quartier und richtete allen administrativen und wirtschaftlichen Zwecken entsprechende Bauten ein. Die Trawniki Wachmänner, die teilweise auch schon vor Inbetriebnahme der Lager Bauarbeiten auf dem jeweiligen Gelände verrichteten, waren an allen drei Standorten in Baracken innerhalb der Umzäunung untergebracht.
Bauten für die Gefangenen
Unterkünfte für jüdische Gefangenen entstanden erst nach Inbetriebnahme der Lager. In Sobibor gab es eine feste Lagermannschaft, bestehend aus Gefangenen, ab Mitte Mai 1942. In Belzec ab Juni / Juli 1942 und in Treblinka erst nach der Versetzung des ersten Kommandanten im September 1942. Die Gefangenenunterkünfte wurden nach und nach erweitert und modifiziert.
In Sobibor und Treblinka wurde außerdem eine Vielzahl an Werkstätten eingerichtet, die den Bedürfnissen des Lagerbetriebs entsprachen oder der persönlichen Bereicherung der SS-Männer dienten. Es gab unter anderem eine Schneiderei, eine Schusterwerkstatt, eine Tischlerei, eine Schlosserei und eine Schmiedewerkstatt. In Sobibor strickten Frauen Winterstrümpfe und Pullover für die SS – die Wolle stammte aus dem Gepäck der Deportierten. Die Strickerinnen wurden von den restlichen, oftmals von Läusen geplagten Gefangenen getrennt, um das Strickzeug frei von Ungeziefer zu halten.
Die hygienischen Bedingungen für die Gefangenen waren äußerst schlecht. Insbesondere die Latrinen blieben die gesamte Zeit unzureichend. Die Schlafbaracken waren zum Teil nicht möbliert. Lebensmittel und Bekleidung standen aus der Habe der Deportierten zur Verfügung, eine medizinische Versorgung war jedoch nicht vorgesehen. Wer nicht mehr arbeiten konnte, wurde von der SS erschossen. Allein in Treblinka wurde im Februar 1943 ein provisorisches Krankenrevier für die Gefangenen eingerichtet, da eine Typhus-Epidemie zum Ausfall zu vieler Arbeitskräfte führte.
Gaskammern
Auch nach der Erweiterung der Bebauung und der Zwangsarbeit blieben alle Funktionen und Abläufe im Lager dem Massenmord in den Gaskammern nachgeordnet. Die Gaskammergebäude sind das letzte architektonische Element der Vernichtungslager, dem ich mich widmen möchte. Dabei ist zu betonen, dass die Gaskammern nicht die einzigen Orte waren, an denen die Opfer der »Aktion Reinhardt« getötet wurden. Damit meine ich nicht nur den Umstand, dass es bereits im Verlauf der Deportationen zu Morden und zum Sterbenlassen, zum Beispiel durch Dehydrierung, kam. Auch diejenigen Juden_Jüdinnen, die aus den Transporten zur Arbeit ausgewählt wurden, waren zu jeder Zeit mit dem Tod bedroht. Das deutsche Lagerpersonal konnte willkürlich Gefangene zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort des Lagers töten. Die Deutschen mordeten nicht nur, sie verübten auch unbeschreiblich grausame Gewaltexzesse.
Wurde der erste Bau mit drei Kammern im Lager in Belzec noch aus Holz errichtet, handelte es sich bei den nachfolgenden Bauten um Massivkonstruktionen. An allen drei Standorten wurden sie nach einer ersten Phase des Massenmords durch größere und technisch geeignetere Bauten ersetzt; in Treblinka wurde der zweite Bau neben dem ersten errichtet. In den ersten zwei Wochen nach Inbetriebnahme der Gaskammern in Belzec zeigte sich die Untauglichkeit der Konstruktion: Zwar waren die Türrahmen mit Gummi abgedichtet, aber die Türen selbst, die aus Holzbrettern bestanden, ließen etwas Luft durch, sodass manchmal Menschen überlebten, die direkt vor der Tür standen. Da täglich mehrere Transporte ankamen, gab es zunächst keine Zeit, die Türen auszuwechseln. Also wurden sie vor dem Einlassen des Gases von außen mit Sand zugeschüttet, um die Spalte abzudichten. Nach dem Mord wurde dieser wieder weggeschaufelt, um die Leichen entfernen zu können.3
Dies soll als Beispiel genügen, wie die baulich-technische Umsetzung des Tötungsverfahrens in der Praxis weiterentwickelt wurde. Ergänzen möchte ich an dieser Stelle nur noch, dass es auch später mit den Verbrennungsmotoren immer wieder zu technischen Problemen kam. Die Gaskammergebäude waren an den drei Standorten und in den jeweiligen Mordphasen unterschiedlich groß. Gemeinsam ist ihnen, dass der Zugang über wenige Stufen erfolgte, sodass die Innenräume leicht erhöht lagen. Die fensterlosen Kammern verfügten jeweils über zwei Türen: Eine Zugangstür im Innern des Gebäudes und eine Tür an der Außenseite, durch welche die Leichen herausgezogen wurden.
Zum Transport der Leichen zu den Massengräbern sowie zur Durchsuchung der Mundhöhlen nach Goldzähnen und der Körper nach weiteren Wertgegenständen wurden jüdische Gefangene gezwungen. In Sobibor und Treblinka waren die Juden_Jüdinnen, die im Vernichtungsbereich arbeiten mussten, separat von den anderen Gefangenen untergebracht. Dafür wurden auch in diesem Bereich Baracken aufgestellt.
Vernichtungslager ohne Krematorien
Über mehrere Monate wurden die Leichen zunächst lediglich in Massengräber geworfen. Später mussten die größtenteils bereits im Zustand der Verwesung befindlichen Körper exhumiert werden, um sie zu verbrennen. In der Zeit unmittelbar vor dem Abriss der Lager wurde dies zur einzigen Tätigkeit in diesem Bereich. Der Zweck der Lager verschob sich vom massenhaften Töten zur massenhaften Beseitigung von Leichen.
Beim Bau der Vernichtungslager hatten sich die Täter darauf fokussiert, Orte herzustellen, an denen sie große Menschengruppen unter möglichst sparsamem Einsatz von Ressourcen töten konnten. Bald nach der Einrichtung und Inbetriebnahme stellte sich jedoch heraus, dass das tatsächliche Problem von den Erbauern bis dahin nicht erkannt worden war: Die Effizienz der Mordlager hing nicht in erster Linie von der Kapazität der Gaskammern ab, sondern von der Möglichkeit, die Leichen zu entsorgen.
Dieses Problem konnte für die Deutschen nie zufriedenstellend gelöst werden und stellte sich nicht nur in den Vernichtungslagern, sondern auch an vielen anderen Stätten des Massenmords in (Mittel-)Osteuropa, etwa bei den Massenerschießungen der Einsatzgruppen. Die SS bildete für diese Aufgabe die sogenannte »Aktion 1005« unter der Leitung von Paul Blobel, der im zivilen Beruf Architekt war. Es wurden spezielle Konstruktionen entwickelt, auf denen die Leichen massenhaft verbrannt werden konnten. Dieses Verfahren wurde als erstes im Lager Sobibor implementiert.
Mörderisches Praxiswissen
Trotz gemeinsamer Merkmale wie der Zonierung, Funktionstrennung, Grenzziehungen, trotz der Beschränkung auf wenige Bautypen und Bauaufgaben, trotz einer maximal hierarchischen Organisation aller Abläufe war die bauliche Gestalt der Lager sowie die Nutzung der einzelnen Bestandteile uneinheitlich und wandelte sich ständig. Die Täter stießen immer wieder auf logistische, technische, organisatorische oder hygienische Probleme. Um ihr Ziel, so viele Juden_Jüdinnen wie möglich zu ermorden, zu erreichen, begegneten sie diesen Problemen mit einem situativ gewonnenen Praxiswissen. Die wichtigste Änderung im Mordprozess war die Etablierung ständiger Gefangenenmannschaften, die verschiedene Tätigkeiten im Lager übernehmen mussten. Als willkommenen Nebeneffekt nutzten die SS-Männer Gefangene dazu, sich individuell zu bereichern, indem sie sich beispielsweise Wertgegenstände der Ermordeten von Goldschmieden, die sie aus den Deportationszügen aussonderten, umarbeiten ließen.
Neben der persönlichen Gier und Korruptheit schildern die Überlebenden der Lager Treblinka und Sobibor, dass den SS-Männern daran gelegen war, sich den Aufenthalt in den Vernichtungslagern angenehm zu gestalten. Das Bestreben der SS, die eigenen Wohn- und Arbeitsbedingungen kontinuierlich zu verbessern, führte zu umfangreichen baulichen Aktivitäten und dies in einem Ausmaß, das wohl nur durch die besonderen Umstände des Einsatzes in den Lagern der »Aktion Reinhardt« zu erklären ist, bei dem es diesbezüglich so gut wie keine Einschränkungen oder Vorgaben von übergeordneten oder externen Stellen gab. Das Privatleben der Täter, das oftmals Zwangsarbeit, Folter und Tod für die jüdischen Gefangenen bedeutete, wird von den Überlebenden ausführlich dargestellt. Sie zeigen damit individuelle Motivationen und Beteiligungen der SS-Männer am Holocaust auf.
Weite Teile der Vernichtungslager erscheinen, wenn wir lediglich deren bauliche Gestaltung betrachten, keineswegs als menschenfeindlich-rechtwinkliges Raster, sondern als eine eigentümliche Idylle, als Mischung von unter anderem pseudomittelalterlichen sowie altdeutsch-regionalen Bauformen mit betulich-spießig wirkenden Dekorationselementen wie Blumenbeeten, Bänken und niedrige Zäunen an den Wegrändern. Ausruhen neben Blumenbeeten, während wenige Meter entfernt Frauen und Männer, Kinder und Alte zu Tausenden ermordet werden – das erscheint unvorstellbar. Dieser krassen Diskrepanz zwischen der Realität der Verbrechen und der Gestaltung weiter Teile der Lager haben die Überlebenden in ihren Zeugnissen wiederholt Ausdruck verliehen.
In den wenigen verfügbaren Quellen zur »Aktion Reinhardt« finden wir außerdem immer wieder Hinweise darauf, wie sich Juden_Jüdinnen Handlungsräume nahmen: sowohl individuell und spontan als auch kollektiv und planmäßig. Dieser Selbstermächtigung verdanken die Überlebenden ihr Davonkommen. Sie planten Fluchten oder nutzten Gelegenheiten zur Flucht, die sich ihnen unverhofft boten. Dafür war eine genaue Kenntnis der Raumorganisation vonnöten sowie ein detailliertes Wissen darüber, wann die Deutschen welche Orte im Lager wie nutzten. Diese Kenntnisse ermöglichten es den jüdischen Gefangen auch, sich kollektiv gegen ihre Mörder zur Wehr zu setzen. In Treblinka und Sobibor organisierten sie bewaffnete Aufstände, töteten SS-Männer und verholfen einer bedeutenden Anzahl an Gefangenen zur Flucht. Doch auch außerhalb des Lagers standen die Überlebenschancen für Juden_Jüdinnen schlecht; nur eine wesentlich kleinere Gruppe erlebte das Kriegsende. In Berichten, Memoiren, Aussagen und Interviews legten sie Zeugnis ab von ihrem Schmerz und ihrer Ohnmacht, aber auch von ihrer agency, ihrem Mut und ihrer Solidarität.