Die »Aktion Reinhardt« in der Provinz
Die »Aktion Reinhardt« war mehr als der Massenmord an den Juden_Jüdinnen in den Vernichtungslagern Belzec, Sobibor und Treblinka. Im deutsch besetzten Polen gehörten dazu zahlreiche Massenerschießungen in all jenen Orten, aus denen Juden_Jüdinnen deportiert wurden. Am Beispiel des Kreises Rzeszów1 in Südostpolen soll die »Aktion Reinhardt« in der Provinz bis zu dem Moment geschildert werden, in dem die Menschen in das Vernichtungslager Belzec verschleppt und dort ermordet wurden.
Von Anfang an war die NS-Politik im besetzten Polen darauf angelegt, Juden_Jüdinnen auf vielfältige Weise zu isolieren – sozial, ökonomisch und schließlich auch räumlich. Dies beinhaltete Maßnahmen wie die Definition, wer überhaupt als jüdisch gelten solle, die Erstellung von Verzeichnissen der jüdischen Bevölkerung sowie über ihre Betriebe und Geschäfte, die Kennzeichnung von Juden_Jüdinnen und ihrer Geschäfte, das Verbot, bestimmte Orte zu bestimmten Zeiten zu betreten und vieles andere mehr. Vor allem Letzteres gewann mit der Zeit immer mehr an Bedeutung. Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit geschah in Rzeszów etappenweise. Zunächst verbot Heinz Ehaus, der als Kreishauptmann die deutsche Besatzungsverwaltung in Rzeszów leitete, Juden_Jüdinnen im Mai 1940 das Betreten des Stadtparks, ab August 1940 durften sie ihren Wohnort nicht mehr verlassen und Ende März 1941 schließlich mussten alle Juden_Jüdinnen in ein Ghetto umziehen, das am 10. Januar 1942 vollständig abgeriegelt wurde.2 Mit dieser räumlichen Isolation gingen Maßnahmen zur Ausplünderung einher. Beides zusammen machte es vielen Juden_Jüdinnen später neben anderen Faktoren fast unmöglich zu fliehen.3
Ausplünderung im Vorfeld der Deportation
Bis die Deportationen aus dem Kreis Rzeszów im Sommer 1942 beginnen sollten, hatte sich dort längst herumgesprochen, welches Schicksal die Deportierten erwartete. Deutsche, nichtjüdische Pol_innen und Juden_Jüdinnen hatten vor allem von der kurz zuvor durchgeführten Deportation aus dem gut 80 Kilometer weiter westlich gelegenen Tarnów gehört, in deren Zuge hunderte Menschen in der Stadt ermordet worden waren.4 Eine zwischenzeitlich verhängte Transportsperre mag bei manchen in Rzeszów die Hoffnung genährt haben, man werde verschont. Doch zwischen Anfang und Mitte Juni 1942 gab es erste Anzeichen dafür, dass dies eine Illusion war. Ehaus, der bereits wusste, dass sein Kreis als nächster an der Reihe sein sollte, nutzte die Zeit, um noch möglichst viel aus der jüdischen Bevölkerung herauszupressen. Am 10. Juni versammelte er die Judenräte aus dem Kreis bei sich und forderte von ihnen hohe Kontributionszahlungen. Innerhalb von nur einer Woche sollten aus Rzeszów eine Million Złoty und aus den kleineren Gemeinden des Kreises jeweils 100.000 bis 300.000 Złoty gezahlt werden. Der Judenrat versuchte mit teilweise drakonischen Maßnahmen mit Hilfe seines sogenannten Ordnungsdienstes, einer polizeiähnlichen Formation im Ghetto, das Geld zusammen zu bekommen. Andernfalls, das wussten die Mitglieder des Judenrats, drohte ihnen der Tod, da sie persönlich für die fristgerechte Zahlung hafteten. Es gelang, die Summe einzutreiben, die Deportation konnte dadurch jedoch nicht abgewendet werden.5
Die Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung war damit nicht abgeschlossen. Am 19. Juni befahl Kreishauptmann Ehaus den Judenräten, dafür zu sorgen, dass alle Juden_Jüdinnen ihre Steuerschulden, Verbindlichkeiten bei Banken und Firmen sowie Schulden bei Privatpersonen bis spätestens zum 24. Juni begleichen. Für Juden, die nicht mehr im Kreis waren, hatten Familienmitglieder oder die jüdische Gemeinde geradezustehen. Zum Ende der gesetzten Frist, abends am 24. Juni, mussten die Judenräte erneut bei Ehaus erscheinen. Schnell machte das Gerücht die Runde, ein Teil des Judenrats sei festgenommen oder sogar schon erschossen worden. Trotz aller Bemühungen waren nicht alle Schulden beglichen worden. Ehaus behielt daher sechs Mitglieder des Judenrats aus Rzeszów und insgesamt sieben der Judenräte aus dem Umland als Geiseln. Sie wurden später alle erschossen. Ehaus forderte nun ultimativ die Begleichung der Restschuld bis zum 8. Juli.6
Arbeitsteilung
Parallel zur Ausplünderung begannen die konkreten Vorbereitungen für die Deportation der Juden_Jüdinnen. Nachdem bereits im März 1942 die Zahl der Ghettos im Kreisgebiet reduziert worden war, ordnete Ehaus im Juni 1942 die Umsiedlung der Juden_Jüdinnen aus der gesamten Umgebung in das Ghetto von Rzeszów an. Darin waren viele Stellen involviert: Die polnischen Gemeindeverwaltungen wurden vertraulich darüber informiert. Sie mussten Fuhrwerke organisieren, die Schlüssel für die Wohnungen und Häuser der Juden_Jüdinnen einsammeln und die Unterkünfte später nichtjüdischen Pol_innen zuteilen. Abschließend unterstrich Ehaus in seinem Schreiben an die polnischen Verwaltungen: »Die polnische und ukrainische Bevölkerung wird der deutschen Verwaltung Dank dafür wissen, dass die Städte und Dörfer von der jüdischen Pest gereinigt werden. […] Diese Wohltat verdankt die nichtdeutsche Bevölkerung auf dem Lande allein dem deutschen Ordnungswillen in Europa.«7 Dies hatte zur Folge, dass im Ghetto nunmehr 28.000 Menschen lebten, statt zuvor 12.000. Bereits bei diesen Umsiedlungen wurden etliche Personen erschossen.8 Am Vorabend der ersten Deportation nach Belzec drängten sich somit nahezu alle Juden_Jüdinnen aus dem Kreisgebiet auf engstem Raum, so dass die Besatzer sie kontrollieren konnten und für die Deportation leichten Zugriff auf sie hatten.
Wie überall war auch die Deportation aus Rzeszów ein Prozess, den deutsche Institutionen und Formationen arbeitsteilig erledigten. Dabei griffen sie auf die Unterstützung untergeordneter polnischer Stellen zurück. Dazu gehörte der sogenannte Baudienst, dem junge polnische und ukrainische Männer angehörten, die polnische Polizei und die Feuerwehr. Einige Tage vor der geplanten Deportation fand beim Kreishauptmann eine Einsatzbesprechung statt, auf der die Aufgaben verteilt, der Ablauf besprochen und die Kriterien für diejenigen Juden_Jüdinnen besprochen wurden, die als Arbeitskräfte zunächst von der Deportation ausgenommen werden sollten. Neben dem SS- und Polizeiführer des Distrikts Krakau, Julian Scherner, nahm dessen Stabsführer Martin Fellenz teil sowie Kreishauptmann Ehaus, die Leiter der Sicherheitspolizei, der Schutzpolizei, der Gendarmerie, des Arbeitsamts, des Baudienstes, der stellvertretende Kreishauptmann und Stadtkommissar Albert Pavlu sowie der Sachbearbeiter für Arbeitsvermittlung beim Arbeitsamt.
Der Sicherheitspolizei oblag es, mit Hilfe des Arbeitsamtes die Arbeitskarten derjenigen Juden_Jüdinnen neu zu stempeln, die von der Deportation zunächst ausgenommen werden sollten. Zu diesem Zweck sollte das Arbeitsamt eine entsprechende Namensliste vorbereiten. Der Baudienst musste im Wald bei Głogów Gruben ausheben; der Leiter des Baudienstes sollte alte Juden_Jüdinnen aussondern und auf dem Sammelplatz getrennt von den anderen festsetzen. Gendarmerie, Schutzpolizei und die polnische Polizei sollten schließlich die Absperrung des Ghettos übernehmen und die »Aussiedlungsaktion« mit der Sicherheitspolizei überwachen.9
Unmittelbare Vorbereitung
Bereits am Abend des 5. Juli 1942 umstellte die Polizei das Ghetto, um Fluchten zu verhindern. Ehaus teilte dem Judenrat die für den 7. Juli geplante »Aussiedlung« mit. Zunächst würden nicht arbeitende und hilfsbedürftige Juden_Jüdinnen ausgesiedelt. Im Ghetto sonderten die Deutschen rund 6.000 Personen aus, vor allem Handwerker und junge arbeitsfähige Juden_Jüdinnen. Sie teilten das Ghetto in vier Sektoren ein, aus denen nacheinander an vier verschiedenen Tagen deportiert werden sollte. Der Durchgang zwischen den einzelnen Sektoren wurde unter Androhung der Todesstrafe verboten. Allen zur Deportation vorgesehenen Menschen wurde befohlen, am 7. Juli auf den Sammelplatz zu kommen. Bereits bei diesen Vorbereitungen waren im Ghetto immer wieder Schüsse zu hören.
Von außen versuchten zahlreiche Menschen einen Blick in das Ghetto zu erhaschen. Die Polizisten, die das Ghetto bewachten, hinderten sie allem Anschein nach nicht daran.10 Abends wurde überall in der Stadt eine zweisprachige Bekanntmachung des Kreishauptmanns angeschlagen, die vom SS- und Polizeiführer vorformuliert war und in allen Orten des Distrikts Krakau unmittelbar vor den großen Deportationen von den Kreishauptleuten ausgehängt wurde: »Zur Durchführung der vom SS- und Polizeiführer im Distrikt Krakau angeordneten Judenaussiedlung aus Reichshof wird folgendes bekanntgemacht: 1.) Am 7.7.1942 erfolgt in Reichshof eine Judenaussiedlung. 2.) Jeder Pole, der in irgendeiner Form durch seine Handlung die Aussiedlung gefährdet oder erschwert oder bei einer solchen Handlung Mithilfe ausübt, wird erschossen. 3.) Jeder Pole, der während und nach der Aussiedlung einen Juden aufnimmt oder versteckt, wird erschossen. 4.) Jeder Pole, der unerlaubt die Wohnung eines ausgesiedelten Juden betritt, wird als Plünderer erschossen.«11
Die Deportation beginnt
Am frühen Morgen des 7. Juli begannen die Besatzer schließlich mit ihrem mörderischen Treiben. Am ersten Tag sollten sich alle Bewohner_innen des Ghetto-Sektors A, die keinen neuen Stempel in ihrer Arbeitskarte erhalten hatten, auf dem ehemaligen jüdischen Friedhof einfinden. Ihnen wurde gesagt, sie würden zu einem Arbeitseinsatz umgesiedelt. Betroffen waren in etwa 5.000 Menschen. Der jüdische Ordnungsdienst musste sie unter Beaufsichtigung der Polizei zum Sammelplatz führen. Diesen bewachten deutsche Polizisten und Gendarmen sowie einige polnische Polizisten. Auf dem Platz wurde den Juden_Jüdinnen ihr Gepäck abgenommen und durchsucht. Dies alles fand unter ständiger Gewaltanwendung statt. Der Leiter des Baudienstes sammelte Alte und Transportunfähige auf einer Seite des Platzes; sie wurden im Laufe des Tages mit Lastwagen zu den vorbereiteten Gruben im Wald gebracht und dort erschossen. Während des gesamten Tages suchten SS-Männer und Polizisten im Ghetto-Sektor A systematisch die Häuser nach versteckten Juden_Jüdinnen ab. Sie erschossen zahlreiche Juden_Jüdinnen, die sie noch in den Wohnungen antrafen oder in Verstecken entdeckten. Manche quälten ihre Opfer sadistisch zu Tode. Auch örtliche deutsche Funktionäre beteiligten sich am Morden im Ghetto. Am Nachmittag trieben schließlich junge SS-Männer die Juden_Jüdinnen mit brachialer Gewalt vom Sammelplatz zum Bahnhof; auf dem Weg dorthin kam es immer wieder zu wilden und planlosen Schießereien, denen nach Feststellungen des Landgerichts Memmingen mindestens 200 Menschen zum Opfer fielen, tatsächlich dürfte die Zahl der Opfer noch darüber gelegen haben. Später mussten Juden_Jüdinnen aus dem Ghetto die Leichen einsammeln und begraben und Feuerlöschautos säuberten die Straße vom Blut der Opfer. Dies alles spielte sich vor den Augen einer breiten Öffentlichkeit von Pol_innen, Ukrainer_innen und Deutschen ab.12
Mord als Spektakel
Für die beteiligten Deutschen schien das Morden zu einem Spektakel und perversen Spaß geworden zu sein. Auf dem Marktplatz vor dem Rathaus warteten SS-Leute auf ihren Einsatz, tranken, aßen und flirteten mit Passantinnen und machten, so der örtliche Archivar Franciszek Kotula, durchaus einen sympathischen Eindruck. Als aber schließlich die Juden_Jüdinnen zum Bahnhof begleiten sollten, änderte sich der äußere Schein schlagartig. Sie schlugen wild auf die Menschen ein und erschossen einzelne. Das artete in eine wilde Schießerei aus, so dass sich die Schaulustigen, darunter auch Deutsche, in den Hauseingängen verschanzen mussten. An anderer Stelle sahen Passant_innen, wie einer der SS-Männer auf ein vielleicht gerade mal einjähriges Kind, das von seiner Mutter auf dem Arm getragen wurde, mit einer stählernen Peitsche einschlug. Eine Deutsche fiel bei dem Anblick in Ohnmacht, andere schrien hysterisch und beschimpften ihn. Bald schon waren diese Ereignisse auch über Rzeszów hinaus in ihren Einzelheiten bekannt geworden.13
Angeführt wurde der Marsch zum Bahnhof von Kreishauptmann Ehaus und dem Leiter der Außendienststelle der Sicherheitspolizei in Rzeszów, Hans Mack. Nachdem auf dem Sammelplatz die »Aktion« abgeschlossen war, hatte Ehaus mit großer Geste das Zeichen zum Aufbruch gegeben und sich mit Mack gemeinsam in einem Dienstwagen an die Spitze der Menschenkolonne begeben.14
Am 10., 14. und 19. Juli fanden weitere Deportationen aus Rzeszów nach Belzec statt. Insgesamt wurden etwa 20.000 bis 22.000 Juden_Jüdinnen ins Vernichtungslager gebracht und dort getötet. Im Wald wurden mindestens 1.000 bis 2.000 vor allem Alte und Gebrechliche erschossen, im Ghetto selbst und auf dem Weg zum Bahnhof töteten die Deutschen mindestens 238 Menschen, sicher jedoch deutlich mehr. Kreishauptmann Ehaus veranstaltete aus Anlass der aus seiner Sicht erfolgreich verlaufenen »Aktion« eine Abschlussfeier mit den Beteiligten. Nach Ende dieser Deportationen lebten noch ungefähr 4.000 Juden_Jüdinnen in Rzeszów. Die meisten von ihnen wurden im August und November 1942 in Arbeits- oder Durchgangslager deportiert und später ermordet.15 Einzelne Juden_Jüdinnen konnten sich den Deportationen entziehen und bis zum Ende der Besatzung verstecken. Wenige weitere überlebten die Lager.
Sicherung und Aufteilung der Beute
Nach den Deportationen im Sommer 1942 galt es, die Hinterlassenschaften der Menschen zu sichern und zu verteilen. Vieles war bereits in den Jahren zuvor und während der Deportation geraubt worden. Nun ging es um die Verwertung der Immobilien und Grundstücke sowie um die bewegliche Habe – Möbel, Kleidung und weitere Gegenstände –,
die die Menschen hatten zurücklassen müssen. In Teilen bemühte sich die deutsche Verwaltung mit Unterstützung der polnischen Gemeindeverwaltungen um einen geordneten Prozess. Sie erfassten die Häuser und Grundstücke systematisch, setzten Verwalter ein oder verkauften sie, sie organisierten den Abbruch baufälliger Häuser und verkauften die noch brauchbaren Baumaterialien und ähnliches mehr.16
In Rzeszów, wie in vielen anderen Orten auch, gingen Pol_innen, Ukrainer_innen und Deutsche aber auch trotz ausdrücklichen Verbots und Androhung der Todesstrafe in das Ghetto und plünderten dort. Andere bemühten sich auf offiziellem Wege um die Zuteilung des Besitzes der deportierten Juden_Jüdinnen.17 Dies war bei vielen durch die eigene Notlage motiviert, in die sie durch die repressive deutsche Besatzungspolitik oder aus anderen Gründen geraten waren. Andere jedoch wurden von Habgier getrieben und nutzten diese und jede andere Gelegenheit, die sich ihnen bot, um sich zu bereichern. Diese Gier trieb vor allem die Deutschen an, die sich hemmungslos bereicherten und damit schon lange vor den Deportationen begonnen hatten. Das war oft gepaart mit einem tiefsitzenden Judenhass.
Täterstolz
Von seinen Vorgesetzten war der Eifer von Kreishauptmann Ehaus bemerkt und goutiert worden, dafür hatte er durch fortwährende Berichterstattung schon gesorgt. Manches wurde anderen gar als Vorbild zur Nachahmung empfohlen.18 Beredtes Zeugnis der radikalantisemitischen Einstellung des ehrgeizigen Ehaus ist eine kupferne Tafel, die er noch während der Deportationen in Auftrag gegeben hatte. Sie wurde an der Kreisburg an einem Reichsadler angebracht und trug die Inschrift: »Dieser Adler, das deutsche Zeichen der Erhebung und des Sieges, wurde anläßlich der Befreiung der Stadt Reichshof von allen Juden im Juli des Jahres 1942 hier angebracht. Die Anbringung geschah während der Amtszeit des ersten Kreishauptmannes und Kreisstandortführers der NSDAP der Kreishauptmannschaft Reichshof, des SS-Sturmbannführers Dr. Heinz Ehaus.«19 Dieser in Kupfer gegossene Täterstolz erfüllte nicht wenige der an der »Aktion Reinhardt« Beteiligten. Durch »Leistungen« bei der Ermordung der Juden_Jüdinnen profilierte man sich im NS-Apparat.