Luce Irigarays Anliegen die patriarchale Struktur der Wissenschaften bloßzulegen und diese dahingehend zu öffnen, dass das, was im wissenschaftlichen Diskurs ausgeschlossen wurde, eine Stimme bekommt, zieht sich durch ihr ganzes Werk. Sie ist Psychoanalytikerin, linguistische Strukturalistin und Philosophin. Die verschiedenen Einflüsse ihres Werdegangs erlauben es ihr nicht nur, an den Grenzen und Übergängen verschiedener Fachgebiete und Denktraditionen zu arbeiten. Auch ist ihre theoretische Vorgehensweise vielschichtig, ihr lyrisch anmutender Schreibstil wendet sich performativ gegen das Paradigma eines sezierenden wissenschaftlichen Zugriffs. Irigarays abgeklärte Streifzüge durch die Landschaften humanistischer Theoriekonstruktionen prägten die Gattung der écriture féminine, die von etlichen feministischen Autorinnen, wie Cixous, Wittig, Chawaf, Kristeva und Bracha, aufgegriffen und weiterentwickelt wurde. Irigarays Texte kreisen um einen thematischen Kern, den sie immer wieder aufs Neue mit unterschiedlichen Perspektivierungen und verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. Sie versucht damit, ein ohnmächtiges Außerhalb der vereindeutigenden ›männlichen‹ Logik in Worte zu fassen und Beschreibungsmodi für etwas zu finden, was sie als abwesend vermisst. Man könnte dieses Fehlende ›das Andere der Wissensordnungen‹ nennen. Irigarays eigenwillige Lektüre von Klassikern des universitären Lehrkanons ihrer Zeit zeigt eindrücklich, was bei den großen Meistern gleichzeitig sowohl unter den Tisch fällt als auch unbemerkt zur Stabilität des mehr oder weniger subtilen frauen*feindlichen gesellschaftlichen Denkens und Handelns beiträgt.

Ähnlich wie Lacan geht Irigaray für ihre Analysen von einer Symbolischen Ordnung aus, die strukturiert, was denkbar und sagbar ist. Lacans Symbolische Ordnung und sein phallus-Konzept sind ihr allerdings zu rigide und legen scharfe Unterscheidungen dort nahe, wo eigentlich fließende Übergänge sind. Außerdem würden gesellschaftliche Realitäten bei Lacan (und anderen den wissenschaftlichen Diskurs prägenden Akteuren) entnannt, die dem Zusammenfallen männlicher Interessen und wissenschaftlicher Wahrheit und Objektivität als heterogen Anderes widersprechen würden. Irigaray hebt hervor, dass dieses Andere – sie versieht es mit dem Namen ›das Weibliche‹– eine Doppelfunktion als Ausgeschlossenes und dabei die Symbolische Ordnung Stabilisierendes habe. Dass das weibliche* Andere in diesem doppelten Ausschluss in einer Ohnmacht gefangen sei, sei unter anderem einer falschen ›männlichen‹ Herangehens- und Beschreibungsweise von (gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und ›natürlichen‹) Phänomenen geschuldet, die Irigaray zu verflüssigen beabsichtigt.

Vor diesem Hintergrund stellt das Ohnmächtige für Irigaray einen Ort dar, an dem sie das Potenzial vermutet, die bestehende Wissensordnung zu stören und ihr eine befreitere entgegenzusetzen. Interessanterweise zeigte sich sehr deutlich anhand ihrer eigenen Biographie, wie sehr sie mit ihrem Eingriff in die Stätten der Wissensproduktion gestört hatte. Der Titel ihres Hauptwerks Speculum versinnbildlicht, wie das von der ›männlichen‹ Wissenschaft entwickelte Gerät aus dem weiblichen* Geschlecht ein Loch macht und damit die Abwesenheit und den Mangel als Natur des weiblichen Geschlechts herstellt. Ohne dieses Instrument ist das weibliche* Geschlecht aber kein Loch, sondern eine Pluralität an Lüsten und uneindeutigen, dem feststellenden Auge nicht zugänglichen körperlichen Organen. Irigaray imitiert hier die psychoanalytische Argumentationsgrundlage, die das (eine, phallische) Geschlecht als Schablone für Erklärungsansätze der Verfasstheit des menschlichen Subjekts benutzt. Dementsprechend fungieren für Irigaray Lippen, die einander zärtlich berühren, als Grundsatz für feministische Erklärungszusammenhänge, die von der intimen Pluralität statt von selbstidentischer Einheit ausgehen. Die wissenschaftliche Zuwendung soll nicht gewaltvoll und zertrennend sein, sondern das heterogen Andere mit einer Berührung in sich selbst wahrnehmen. Das bestürzte Lacan und seine Anhänger so sehr, dass Speculums Publikation zu Irigarays Verweis von sowohl der Universität Vincennes als auch von der École Freudienne führte. Zeitgleich hat sie mit diesem starken Signal, das wohlgemerkt hohe Wellen schlug, vor allem die französische und italienische feministische Theorie so stark inspiriert, dass Irigaray bis heute als eine der Hauptfiguren aufgerufen wird, die prägend für einige Spielarten feministischer Epistemologien ist.

Eine Verflüssigung bestehender Kategorisierungen, die meist in dualistischen Gegenüberstellungen hierarchisiert werden, würde einer Welt gerechter werden, die weniger auf gewaltsamen Verdrängungen basieren müsse. Insofern ist Irigarays Vorgehen darauf gerichtet, die sich hartnäckig haltenden und fälschlicherweise wissenschaftlich begründeten gesellschaftlichen Unterdrückungsmechanismen ihrer Basis zu berauben. Irigarays Ansatz der Verflüssigung Symbolischer Ordnungen und Bedeutungsgebungen ist durchaus anschlussfähig an jegliche Geschlechter, sofern es nicht ›das Eine‹ hegemoniale ist, das in Irigarays Werk als ›männlich‹ auftritt. Ich möchte in diesem Artikel mit der Verwendung von ›weiblich*‹ verdeutlichen, dass Irigaray zwar von dem ›Weiblichen‹ schreibt, allerdings als logische, argumentative und symbolische Abgrenzung zu der herrschenden Logik. Im Folgenden konzentriere ich mich auf Irigarays weibliche* Wissenschaftskritik.

 

Weibliche* Wissenschaftskritik der Verselbungsstrategie im wissenschaftlichen Diskurs

Irigarays antipatriarchaler Entwurf einer plausiblen feministischen Weltdeutung richtet sich gegen die instrumentelle Rationalität einer Gesellschaftsordnung, die Holland-Cunz als eine reduktionistische Vernunft beschreibt, die »auf Nützlichkeit, manipulative Bearbeitung, maschinelle Logik, auf Fortschritt und Verwertung orientiert« ist. Innerhalb dieser instrumentellen Vernunft sind »[d]ie wissenschaftlich Handelnden [...] ausschließlich männlich. Sie transformieren lebendige Subjekte zu Versuchs-Objekten; Lebewesen werden entweder selbst zu Wissens-Produktions-Maschinen oder zumindest in solche (meist schmerzvoll) eingespannt« (Holland-Cunz 2014: 53). Irigaray spielt mit dem Paradox Frau in der Wissenschaft und versucht diesen Ort der zugewiesenen Ohnmacht und des Ausschlusses als Frau, die akademisch schreibt, einzunehmen und als Ausgangspunkt für Widerstand und emanzipatorische Praxis zu besetzen. Sie nimmt nämlich an, dass »[...] die Dominanz des philosophischen Logos [...] dadurch verfestigt [ist], daß sein teleologisches Konstruieren alles auf das Gleiche zurückführt« (Irigaray 1980: 76f.) und genau hier, in dieser »Verselbungsstrategie« (Schor 1992) liege auch seine Schwäche. Die zeitgenössische Philosophie sei Vorbild des rationalen Denkens, das sich in allen Wissenschaften wiederfinde und darüber auch gesellschaftliche Gemeinplätze forme. Es baue auf einem Einheitsprinzip auf, das strukturierend und begrenzend Kategorien anbiete, nach denen sich das gesellschaftliche Zusammenleben richte. Auch solche Aspekte, die innerhalb dieses Einheitsprinzips als heterogen Anderes begriffen werden (in dualistischen Gegensätzen wie männlich-weiblich), seien eigentlich gar nicht heterogen anders, sondern Teil des herrschenden Prinzips, und zwar als deren begrenzendes Außen. Sozusagen ein Rahmen aus Ohnmacht und Unmöglichkeit, der unbemerkt den Raum des Möglichen umgibt und strukturiert. Diese Grenzziehung versucht Irigaray porös zu machen und damit zu zeigen, dass die vorherrschenden Abspaltungen nicht nur kontingent, sondern auch falsch sind. Sie hegt deshalb eine grundlegende Skepsis gegenüber ontologischen, epistemologischen und normativen Legitimationszusammenhängen, da diese unter dem Primat des ›einen Geschlechts‹ funktionieren und alles andere unterdrücken.

Im Folgenden möchte ich nachzeichnen, wie Irigaray die Gegenüberstellung hegemonialer Diskurs versus in der Ohnmacht Ausgeschlossenes an die Gegenüberstellung ›männlich‹ beziehungsweise ›das Eine‹ statische und feste versus ›weiblich‹ beziehungsweise das Andere oder das Plurale, Flüssige, Dynamische rückbindet. Dazu lohnt sich ein Blick auf Irigarays Analysen des universellen Hylemorphismus, der die bis heute wirksame hierarchische Gegenüberstellung zwischen Form und Materie entwirft. In dieser Unterscheidung liegt für Irigaray exemplarisch die herrschende gesellschaftliche Dynamik von Dominanz und Marginalisierung begründet, die sie über eine mimetische Aneignung aus der Ohnmacht heraus aufzulösen sucht. Irigaray unterstellt den im universellen Hylemorphismus begründeten Legitimationszusammenhängen der Naturphilosophie, dass sie unter den verborgenen Prämissen einer ›Verselbungsstrategie‹ das Weibliche* in seiner problematischen Doppelfunktion als gleichzeitig Ohnmächtiges und als solches Stabilisierendes verankern (Soiland 2010: 146).

 

Spiegel des anderen Geschlechts. Die zeugungsunfähige Mutter-Materie der Philosophie im universellen Hylemorphismus

Unter anderem lässt sich Irigarays Freilegung der von ihr problematisierten Legitimationszusammenhänge anhand ihrer Platonlektüre skizzieren. Sie versucht sich dabei der Verdrängung des weiblich*-Materiellen aus der Philosophie durch eine Auseinandersetzung mit dem universell-hylemorphistischen Argument zu nähern. Danach ist jeder materielle Körper eine aus Form und Materie zusammengesetzte Entität. Das universell-hylemorphistische Argument funktioniere über die These, dass Seiendes durch ein gewisses Zusammenspiel von Form und Materie existiert. Die Regeln des Zusammenspiels sind aber nicht ›neutral‹, sondern legen fest, dass Materie von den durch sie hindurchgehenden Formen unaffiziert bleibt. Notwendigerweise könne Materie deshalb nie der Form gleichen und beuge sich dem sie formenden Begriff im Materialisierungsvorgang. Irigarays Interpretation nach ist dies eine hierarchische Gegenüberstellung der beiden eigentlich gleichermaßen am Materialisierungsvorgang beteiligten Teile (Irigaray 1980: 328ff.). Irigaray spitzt zu, dass der Materie »verboten« wird, die formgebende Gestalt anzunehmen, indem sie die Passage aus dem Timaios hervorhebt, wo Materie vergeschlechtlicht auftritt. Sie beschreibt es als besonders paradox, dass an dieser Stelle das Materielle mit dem Mütterlichen gleichgesetzt wird und dabei aber zeugungsunfähig ist (1980: 202). Die Zeugungsunfähigkeit schließe Materie und das mit ihr verbundene Weibliche im randständigen Bereich der Lebenswelt ein (1980: 212). Problematischerweise baue auf eben dieser hochgradig prekären Definition ontologischer Grundprinzipien aber das Subjekt der abendländischen Philosophie auf (1980: 97).

Irigaray verstärkt ihre Kritik am universell-hylemorphistischen Materiebegriff mit der Bezugnahme auf Lacans Spiegelmetapher, nach der das Spiegelbild wesentlich für die Subjektkonstitution ist. Die Unterdrückung des Weiblichen* in der gegenwärtigen Gesellschaft werde dadurch betont, dass das Wesen des Weiblichen* nicht an sich selbst sei, sondern an dem, der es durch sich selbst als eigenes Spiegelbild betrachtet (1979: 92f.). Das Selbstidentische sei allerdings eine absichtsvolle Verleugnung der Bedingungen, unter denen sich der Mensch herausbildet. Diese Verleugnung fuße auf der verdrängten Körperlichkeit, die mit der Gewaltsamkeit der Unterdrückung des Weiblichen* einhergehe (1980: 79). Da »[d]as Selbe im Timaios für den Bereich der Ideen, das heißt der Formen [steht], die mit sich selbst immer identisch sind, während das Andere den Bereich des Werdens kennzeichnet, in dem sich nichts immer gleich verhält,« werde damit das Bewegliche, nicht eindeutig Festlegbare, Veränderliche und Kontingente nichtexistent und ohnmächtig gemacht (1997: 89). Diese theoretische Bewegung stelle den Sockel oder Spiegel dar, in dem das transzendentale Subjekt der humanistischen Denktradition entsteht. Dieser Spiegel oder Sockel sei die zeugungsunfähige und ohnmächtige »Mutter-Materie«, die dem transzendentalen Subjekt seine Macht garantiere (1980: 212ff.). Weil die »Mutter-Materie« verleugnet und trotzdem – als verleugnete – gebraucht wird, stellt ihre Ohnmacht die Voraussetzung für Irigarays Strategie der Ermächtigung dar. Sie vermutet darin einen Angriffspunkt, mit dem die Herrschaft eines verselbenden Prinzips zumindest unterlaufen werden kann.

 

Strategien feministischen Philosophierens – Mimesis und Widerstand

Von hier aus können, so Irigarays Strategie, ontologische Verselbungs-Setzungen und Naturalisierungspraktiken erkannt, erklärt und angegriffen werden. Um das ausgeschlossene Weibliche* zu erheben, reißt Irigaray in ihren Kanon-Lektüren argumentative Zusammenhänge auf, kontextualisiert sie um, rückt Textstellen in einer Ordnung zurecht, die zeigt, was im philosophischen Lehrkanon nicht vorkommt, nicht gesagt, gar untersagt und damit gewissermaßen ohnmächtig gemacht wird. Irigaray schreibt mimetisch, wobei sie den Kanon imitiert, aber dabei an den entscheidenden Stellen Gegenentwürfe plausibel macht.

Irigrarays Gegenentwurf zum phallus bei Lacan, der zentral für Bedeutungsgebung und gesellschaftliche Organisation ist, sind die Lippen. Mehrdeutig – sowohl Münder als auch Labia – bringt das Lippenkonzept Sprache und Körper zusammen im Kontinuum des stetigen Miteinanders und der stetigen (Selbst-)Berührung. Das was ist, ist niemals eins, ist immer mehreres, das mit Anderen in einer intimen Relation steht: ein sanftes Aufeinanderliegen verschiedener Schichten, heterogen anders und doch selbst, soll das Strukturprinzip der Irigarayschen Symbolischen Ordnung sein. Entgegen Freud, nach dessen psychoanalytischem Diskurs die Frau nicht existiert und entgegen der Weiblichkeit als »Rätsel« oder als nebulöser »dunkler Kontinent« (vgl. Rohde-Dachser 2013) setzt Irigaray dieses als weiblich* Ausgeschlossene ganz schlicht ins Zentrum der von ihr entworfenen neuen Symbolischen Ordnung. Im gleichen Atemzug widerspricht Irigaray auf symbolischer und biologischer Ebene Dualismen. Das Dazwischen – zwischen den Lippen – als Kippfigur ist der Ort der Auflösung der Dualismen, die die herrschende symbolische und gesellschaftliche Ordnung strukturieren. Das Weibliche* spricht aus dem Dazwischen und der Nicht-Ort des Schweigens wird mit diesem verbotenen Sprechen belegt. Das verdeutlicht Irigaray mit dem Wortspiel »inter-dits«, was gleichzeitig das Verbot und das dazwischen Gesagte bedeutet.

Hier ist absichtlich viel Interpretationsraum offengelassen – das Verbotene wird von innen aufgespalten mit dem, was es nicht erträgt, nämlich einer »weiblichen Operation in der Sprache« (Irigaray 1979: 23). Sobald sich das Ohnmächtige aus seiner Ohnmacht heraus Ausdruck verschafft, hat es sich ermächtigen können und gleichzeitig das was dem Ohnmächtigen als Mächtiges aufsitzt infrage gestellt. Insofern ist für Irigaray die Ohnmacht sowohl Zeitdiagnose als auch ein Verweis auf einen Möglichkeitssinn. Ohnmacht ist für Irigaray das, was mit dem aus dem Diskurs Verdrängten zusammenhängt: eine verdrängte Logik, eine verdrängte Natur, Sprache, ein verdrängtes Prinzip, verbotene Sexualität oder Geschlechtlichkeit als Lustprinzip. In der verbotenen, entnaturalisierten, kastrierten, verdrängten, unerhörten und sich nicht gehörenden Lust, sieht Irigaray eine Möglichkeit, entlang derer man sich zu einer neuen Ordnung hangeln könnte. Preciado würde sagen, dieses Entlanghangeln finde über das Lernen, »mit dem Programm zur Produktion eines cis-Mannes zu sprechen« (Preciado 2016: 317) statt. Die Frau* kann auf diese Weise aus dem Schweigen heraus, aus den sie* verwerfenden Dualismen sprechen, nach Irigaray sei ihr* dies am besten über ein Zitieren und Übertreiben, über das Karikieren der herrschenden Wissensordnung möglich. Gleichzeitig eröffnet dieses Karikieren einen Platz außerhalb der verselbenden Logik, wo ein Bereich erhellt wird und ein neuer Ort erschlossen wird, der vorher nicht Teil der Diskussion war. Irigaray möchte damit ein Spiel initiieren; etwas Verbotenes, etwas Anderes, Neues muss erfunden werden.

 

Materielle Körperlichkeit als Beziehungsrundlage sozialer Organisation

Irigaray ist davon überzeugt, dass im Ausschluss eingeschlossene Lebensformen durch Mimesis den Status einer Positivität im Sinne einer freudvollen Aneignung der Attribute des Anderen im Selben erlangen können. Teile des Selbst werden über die gelungene offene Kommunikation zu Teilen des Anderen und vice versa. Das was sich zwischen Selbst und Anderem im Selbst abspielt, ist grundlegend für Irigarays Begriff des Prinzips des Weiblichen* (Schor 1992: 232). Irigaray baut darauf eine »Ethik der sexuellen Differenz« auf und bedient sich der in der Psychoanalyse angestrebten Beziehungsform, die sich zwischen Analytiker*in und Analysand*in herstellen soll. Diese ähnelt einer tragfähigen primären Bindung zur anderen Person, aus der ein tragfähiges Selbst hervorgeht, das nicht auf Zerstörung von anderen angewiesen ist, um zu bestehen. Irigaray möchte diese psychoanalytische Beziehungsform auf alle zwischenmenschlichen Beziehungen übertragen. Sie schlägt als neue Betrachtungsweise des Anderen ein Beziehungsmodell vor, das auf der Liebe zur Intersubjektivität basiert. Dies ist die Grundlegung ihrer »Philosophie der Liebkosung« (Irigaray 1997: 94), wobei das Andere trotz oder gerade wegen einer Begierde nach dem Anderen so gelassen werden soll, wie es ist, ohne es in die Gewalt des eigenen Begreifens oder die Gewalt des eigenen Begriffs zu nehmen. Dieses Begehren des anders gelassenen Anderen führe zu einem liebkosenden Wahrnehmen des Anderen. Das transzendentale Zwischen den Liebenden, ihre Differenz innerhalb der Differenz, strukturiere ihre Beziehung zueinander und zu sich selbst. Eine beziehungshafte Transzendenz des Dazwischen ist für Irigaray die Intervention in die in der klassischen Philosophie angelegte Transzendenz jenseits von einem selbst und jenseits des Anderen (1980: 217ff.).

Irigaray bedauert, dass der gegenwärtigen Gesellschaft eine »Kultur der sinnlichen Subjektivität und Intersubjektivität« fehle, die verlangen würde, dass die Menschen durch die sinnliche Wahrnehmung dem gegenseitigen Berühren treu blieben. Auch in der öffentlichen Beziehung müsse dieses intersubjektive Berühren vorhanden sein (1997: 104). Dies ist Irigarays Entwurf des weiblichen* Prinzips eines Weltzugangs, der andere und gewaltfreiere Maßstäbe für eine andere Rationalität und Logik vorgibt, die eine vom Patriarchat emanzipierte Gesellschaft strukturieren soll und sich erst aus dem ihr zugewiesenen Platz der Ohnmacht schälen muss.

 

Anastasjia Kostan

 

*.lit

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*.notes