Die Zweite Marxistische Arbeitswoche – Pessimismus gestern und heute
1923-2023
Für kritische Intellektuelle ist das Jahr 2023 ein Jubiläumsjahr: Wichtige Ereignisse in der Geschichte der Kritischen Theorie im Besonderen und dem westlichen Marxismus im Allgemeinen jähren sich zum hundertsten Mal und bieten somit zahlreiche Möglichkeiten für akademische Feierlichkeiten. Passend dazu hat der Dietz Verlag dieses Jahr das erstmals 1976 veröffentlichte Buch „Über den westlichen Marxismus“ von Perry Anderson neu aufgelegt für das Stephan Lessenich, Direktor des Instituts für Sozialforschung, ein neues Nachwort geschrieben hat.[1] Anderson, der den Sammelbegriff „westlicher Marxismus“ zwar nicht erfunden, aber populär gemacht hat[2], übt darin eine scharfe Kritik an der Entwicklung des Marxismus in den westeuropäischen Ländern. Angefangen bei Theoretikern wie Karl Korsch oder Georg Lukács, habe sich dann insbesondere bei den Vertretern der sogenannten Frankfurter Schule eine Entkopplung der Theorie von der Praxis bemerkbar gemacht.[3] Wären frühere Theoretiker*innen, wie Marx, Kautsky, Lenin oder Luxemburg noch mehr den kommunistischen Bewegungen ihrer Zeit verpflichtet gewesen, hätten sich Figuren wie Max Horkheimer oder Theodor W. Adorno in die Universitäten als „Bereiche des Rückzugs und der Verbannung von den politischen Kämpfen in der Welt da draußen“ zurückgezogen. In dieser Selbstisolierung habe sich der westliche Marxismus zunehmend mit Fragen der „bürgerlichen Wissenschaft“ beschäftigt: Standen früher ökonomische Analysen im Vordergrund, so dominierten nun Auseinandersetzungen zu erkenntnistheoretischen Fragen, dem „kulturellen Überbau“ sowie ein grundlegender Pessimismus.[4]
Folgt man Andersons Analyse, so könnte man behaupten, dass der ganze Schlamassel im Jahre 1923 in Geraberg (Thüringen) seinen Anfang genommen hat. Über Pfingsten wurde dort das erste Theorieseminar des gerade erst neu gegründeten Frankfurter Instituts für Sozialforschung (IfS) abgehalten. Neben Lukács und Korsch nahmen unter anderem auch spätere Institutsmitglieder, wie etwa Friedrich Pollock teil. Obwohl außer den inhaltlichen Eckpunkten wenig von dem dort Diskutierten übermittelt ist, umgibt die Tagung bis heute einen ungebrochenen Gründungsmythos, teilweise wird sogar von der „Geburtsstunde“ der Kritischen Theorie gesprochen. Anlässlich des hundertjährigen Jubiläums der Tagung veranstalteten das IfS, der AStA und einige weitere Organisationen deswegen nun die „Zweite Marxistische Arbeitswoche“. Unter dem Stichwort „Unhaltbare Zustände“ wurde im Frankfurter Studierendenhaus vom 26. bis zum 29. Mai über die Aktualität der marxistischen Theorie diskutiert. Mehr als 900 Teilnehmende meldeten sich für das umfangreiche Programm an, um an Vorträgen, Podiumsdiskussionen und Workshops zu Themenschwerpunkten wie etwa den ökologischen und kolonialen Dimensionen der kapitalistischen Vergesellschaftung, der regressiven Verarbeitungsformen, der Antisemitismuskritik, dem materialistischen Feminismus und zur Frage nach dem emanzipatorischen Subjekt teilzunehmen.
Marxismus oder materialistische Kritik?
Dass sich vor allem bei der Bandbreite an Schwerpunkten keine einheitliche Position finden ließe, war offensichtlich und auch kein erwartbares (oder wünschenswertes) Ziel der Konferenz. Nur die Tatsache, dass sich hundert Jahre nach der ersten Arbeitswoche die radikale Kritik der Gesellschaft immer noch nicht erledigt hat, schien eine traurige, wenn auch eine der wenigen Gewissheiten zu sein, auf die sich die Teilnehmenden einigen konnten. Die Frage jedoch, ob und wie der Marxismus überhaupt ungebrochen weitergeführt werden könne, stellte bereits einen Streitpunkt in der ersten Diskussion zum Thema „Was bedeutet der Marxismus heute?“, dar. So wandte etwa Matthias Spekker ein, dass eine an Marx orientierte Gesellschaftskritik nicht ohne weiteres an den Marxismus anknüpfen könne ohne sein Scheitern in die Theorie miteinzubeziehen. Ähnlich versuchte Christian Voller in seinem Vortrag zum historischen Hintergrund der ersten Marxistischen Arbeitswoche zu betonen, dass es nicht ohne Grund einen inhaltlichen Bruch zwischen der Marxistischen Arbeitswoche und den späteren Arbeiten des IfS gegeben hätte. Die Unterscheidung zwischen Marxismus als historisch gescheiterter Weltanschauung und einer materialistischen Kritik, die dieses Scheitern theoretisch aufgreift, sorgte auf der Konferenz für eine Reihe von Konfusionen und Konflikten. So wurden in den Diskussionen nicht nur das Fehlen eines gemeinsamen Verständnisses von Marxismus deutlich, sondern es blieb auch unklar, wie man sich überhaupt auf den Marxismus beziehen soll. Versuchten einige die Position starkzumachen, der Marxismus müsse in seiner Analyseausrichtung erweitert und auf den aktuellen Stand der Zeit gebracht werden, so betonten andere stets die Trennlinie zwischen Marxismus und materialistischer beziehungsweise Kritischer Theorie. Letztere sei eben nur vor dem Hintergrund einer grundlegenden Erfahrung des Scheiterns zu verstehen: Die Erfahrung von der Niederlage der kommunistischen Revolution und die Integration der proletarischen Klasse in die deutsche Volksgemeinschaft.
Theorie und Praxis
Anderson, dessen Kritik in der einen oder anderen Form regelmäßig gegen die Kritische Theorie in Stellung gebracht wird, fällt in seinem nun neu herausgegebenen Aufsatz immer wieder hinter eine Reflektion dieses Scheiterns – in der sich die Frankfurter Schule versuchte – zurück. In seinem Aufsatz, so Lessenich im neuen Vorwort, zeige sich Anderson „(…) interpretatorisch völlig unbeeindruckt (…) von der umfassenden, tiefgreifenden, ja schlechthin existentiellen Bedeutung, die dem Sieg des Nationalsozialismus in Deutschland zukam (…)“[5]. Andersons Kritik scheint dennoch Anklang zu finden, auch heute noch und auch auf der zweiten Marxistischen Arbeitswoche wird der klassischen Kritischen Theorie regelmäßig vorgeworfen sie sei realitätsfern und praxislos. An dieser Stelle kann man nur immer wieder Leo Löwenthal zitieren (ein leider etwas weniger beachteter Denker der Kritischen Theorie): „Wir haben nicht die Praxis verlassen, sondern die Praxis hat uns verlassen. (…) Unser Hauptinteresse galt (…) dem hoffentlich geglückten Versuch, einsichtig-kritisch, diejenigen intellektuellen und politischen Tendenzen und Bewegungen zu analysieren, die der Neubelebung einer möglichen Einheit von Politik und Theorie im Wege standen“. Die Reflexion des Verhältnisses von Theorie und Praxis, so Löwenthal in dem autobiographischen Interview, sei also das „innerste Moment“ der Kritischen Theorie.[6]
Trotz oder gerade wegen der kritisch-reflexiven Haltung zu politischen Bewegungen, waren die Berührungsängste der institutionalisierten Kritischen Theorie mit der studentischen Revolte von 68 noch recht hoch. Liest man die von Stephan Lessenich kürzlich veröffentlichte Denkschrift zur zukünftigen Ausrichtung des IfS so bekommt man den Eindruck, dass sich diese Berührungsängste deutlich abgebaut haben. Dort heißt es, man wolle sich zukünftig „[o]ffen für Studierende und für die Stadtgesellschaft, für Kulturproduzent:innen und Bewegungsakteure, für Gesellschaftskritik ‚von unten‘ und aus allen Winkeln der Welt“ zeigen.[7] Dieser Anspruch war auch auf der zweiten Marxistischen Arbeitswoche spürbar. So waren zahlreiche politische Initiativen präsent, beteiligten sich an der Organisierung von Workshops und Vorträgen und am Sonntagabend blockierten einige Konferenz-Teilnehmer*innen eine Kreuzung, um Solidarität mit den Klimaktivist*innen der „Letzten Generation“ zu zeigen. Thomas Ebermann, der nach der Blockade seinen Vortrag zur „Kritik der Bedürfnisse“ hielt, quittierte die Aktion nur trocken als „Befriedigung des schlechten Gewissens der Intellektuellen“. (Auch Anderson würde einen solchen Aktivismus keineswegs zufrieden stellen – schließlich versteht unter Praxis in orthodox-marxistischer Manier die Organisierung des Proletariats durch eine kommunistische Massenpartei). Auf der Konferenz allgegenwärtig – und doch viel zu wenig diskutiert – war also nicht nur die Frage nach dem allgemeinen Verhältnis zwischen Theorie und politischer Praxis, sondern auch die Frage nach der spezifischen Form letzterer. Stimmt man Löwenthals Aussage vom Schwinden der Praxis zu, so stellt sich unvermeidlich die Frage, unter welchen Bedingungen eine „richtige Praxis“ wieder möglich wäre. Ist eine solche „richtige Praxis“ heute überhaupt existent, sodass eine Gesellschaftstheorie in kritischer, aber begleitender Absicht an sie anknüpfen könnte? Gerade letztere Frage wollten die Konferenzteilnehmer*innen äußert unterschiedlich beantwortet wissen. Auf dem Abschlusspodium etwa diskutierten Lena Reichardt und Julian Bierwirth über die Frage, ob eine Kritische Theorie der Gegenwart an die Kategorie der Klasse als emanzipatorisches Subjekt weiterhin anknüpfen sollte. Auch hier konnte man keinen gemeinsamen Nenner finden. Im Gegensatz zu anderen Podien wurden aber zumindest die theoretischen Prämissen transparent, auf denen die Konfliktlinien fußten.
Historischer- und theoretischer Pessimismus
Der Drang zur politischen Tat gerät nicht erst seit der zweiten Marxistischen Arbeitswoche mit dem pessimistischen und daher skeptischen Blick der Kritischen Theorie in Konflikt. Will man den Pessimismus nicht einfach voluntaristisch links liegen lassen, so reicht es nicht aus, bloß die historische Erfahrung der Kritischen Theorie zu betonen. Ihr Pessimismus ist vielmehr auch ein theoretischer Pessimismus, der durch die Rückbesinnung und Reinterpretation von Marx (und Freud) zu verstehen ist. In der Einsicht, dass die Arbeit nicht mehr als Standpunkt der Kritik herhalten könne (als der sie dem traditionellen Marxismus galt), sondern vielmehr als Ursache der Unfreiheit zu deuten wäre, liegt die an Marx geschulte Kritik von Pollock, Horkheimer und Co. Wenn es also darum gehen soll, die Kritische Theorie für Emanzipationsmöglichkeiten zu öffnen, dann reicht es nicht aus, ihren historischen (durchaus begründeten) Pessimismus geschichtlich zu situieren. Vielmehr müssen die Prämissen des theoretischen Pessimismus rekonstruiert und gegebenenfalls kritisiert werden. Das aber ist eine theoretische, keine praktische Aufgabe im Sinne des politischen Aktivismus. Will man also an der (klassischen) Kritischen Theorie politisch ansetzen, so reicht es nicht, sie bloß auf ihren Zeitkern zu verweisen und ihr dann guten Gewissens eine wie auch immer geartete Praxis anzuheften. Vielmehr muss die Theorie so weitergetrieben werden, dass sie die gesellschaftlich-immanenten Möglichkeiten für Emanzipationsbestrebungen aufzeigen kann. Ein Beispiel für einen solchen Versuch lässt sich bei Moishe Postone finden, der in seinem Hauptwerk „Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft“ auf Grundlage einer Relektüre der Marxschen „Grundrisse“ den „Kritischen Pessimismus“ der Frankfurter Schule überwinden wollte.[8] Postones Kritik bezieht sich dabei ausdrücklich auf den theoretischen Pessimismus, das heißt auf die Frage, weshalb die Theorie zur Ausweglosigkeit tendiere.[9] Demnach habe das von der Frankfurter Schule postulierte „Primat des Politischen“ in eine Gesellschaftskonzeption ohne inneren Widerspruch geführt. Da Widerspruch in einer eindimensional gedachten Gesellschaft nur noch durch exogene Einflüsse möglich sei, werde die Theorie schlussendlich pessimistisch. Die Ursache für diese theoretische Ausrichtung sieht Postone in Pollocks politökonomischer Konzeption des Staatskapitalismus. Darin zeige sich ein verkürztes, letztlich dem traditionellen Marxismus verhaftetes, Verständnis von Warenproduktion, das auch noch spätere Arbeiten der Frankfurter Schule (vor allem von Horkheimer) durchziehe. Indem Postone darauf aufbauend versucht, zu einem tiefergehenden Verständnis des Widerspruchs kapitalistischer Vergesellschaftung zu gelangen, kann er eine immanente Kritik der Gesellschaft formulieren, welche die Möglichkeit ihrer Überwindung aus ihr selbst heraus erklärt. Ob es Postone gelungen ist, den theoretischen Pessimismus der Kritischen Theorie so zu überwinden, bleibt an dieser Stelle offen. Sein Ansatz macht aber deutlich, dass eine Kritische Theorie, die sich dem Aufzeigen von Emanzipationsmöglichkeiten verpflichtet fühlt auf eine theoretische Rekonstruktion und Kritik der eigenen Theorietradition angewiesen ist.[10]
Die zweite Marxistische Arbeitswoche hat vor allem zwei Dinge deutlich gemacht: Wie hoch das Interesse an einer materialistischen Kritik der Gesellschaft nach wie vor zu sein scheint, wie wenig allerdings ein gemeinsames Verständnis von dieser Kritik vorherrscht. Eine solche Verständigung müsste das Ziel kommender Auseinandersetzungen sein. In hundert Jahren wird sich zeigen, ob es gelungen ist, die Theorie mitsamt der Wirklichkeit aufzuheben oder man sich zu einer dritten Arbeitswoche treffen muss.
notes:
[1] Anderson, Perry (2023). Über den westlichen Marxismus. Karl Dietz Verlag, Berlin.
[2] Erstmals gebraucht hat der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty den Begriff.
[3] Anderson fasst unter dem Begriff „Westlicher Marxismus“ einige, durchaus gegensätzliche Theoretiker zusammen: Lukács, Korsch, Gramsci, Benjamin, Horkheimer, Della Volpe, Marcuse, Lefebvre, Adorno, Sartre, Goldmann, Althusser, Colletti.
[4] Damit einhergehend problematisiert Anderson auch die Hinwendung des westlichen Marxismus zur Philosophie. Dabei hatte Korsch – den Anderson mit seiner Kritik ausdrücklich adressiert – bereits den Vulgärmarxismus für seine Abkehr von der Philosophie kritisiert und darauf Wert gelegt „(…) alle Ideologien und also auch die Philosophie als reale Wirklichkeiten und durchaus nicht als leere Hirngespenste zu behandeln.“. Marx zitierend schreibt Korsch weiter: „Wenn also die theoretische Partei glaube, ‚die Philosophie (praktisch) verwirklichen zu können, ohne sie (theoretisch) aufzuheben‘, so wolle, mit gleichem Unrecht, die praktische Partei die Philosophie (praktisch) aufheben, ohne sie (theoretisch) zu verwirklichen (d.h. ohne sie als Wirklichkeit zu begreifen)“. Vgl.: Korsch, Karl (1966). Marxismus und Philosophie. (S. 132-133). Anderson vermittelt stellenweise den Eindruck, er gehöre der zweiteren, also der praktischen Partei an.
[5] Nachwort von Stephan Lessenich in: Anderson, Perry (2023). Über den westlichen Marxismus. Karl Dietz Verlag, Berlin. (S. 132)
[6] Leo Löwenthal (1980): Mitmachen wollte ich nie. Ein autobiographisches Gespräch mit Helmut Dubiel. Edition Suhrkamp, Frankfurt a.M., S. 79.
[7] Lessenich, Stephan (2022). Petite Auberge Aufbruch. Zu den Möglichkeitsräumen kritischer Sozialforschung heute. Soziologie, 51. Jg., Heft 2. (S. 123)
[8]Postone, Moishe (2003). Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Ca-Ira Verlag, Freiburg.
[9] Postone betont allerdings, dass die beiden Ebenen, also die historische Erfahrung und die kategoriale Analyse nicht zusammenhangslos betrachtet werden können.
[10] Die Einzige, die sich im Hauptprogramm der Konferenz offen auf Postone bezog, war Christine Achinger, auf dem Podium zu Thema „Antisemitismus der Gegenwart“.