Für das historische Hauptverfahren war im Vorfeld ein großes Medieninteresse erwartet worden. 44 Plätze standen der Presse in der extra zum Verhandlungssaal umgebauten ehemaligen Bibliothek des Landgerichts Magdeburg zur Verfügung, 44 weitere Sitzplatzkarten wurden per Losverfahren für einen Raum vergeben, in dem die Verhandlung per Ton für Journalist*innen übertragen wurde. Doch während die 50 Zuschauer*innenplätze an nahezu allen Verhandlungstagen ausgeschöpft waren und zahlreiche Menschen dem Aufruf der Initiative 9. Oktober Halle zur solidarischen Prozessbegleitung folgten, nahm das Medieninteresse spürbar ab. Gerade einmal zehn Journalist*innen fanden sich zeitweise zur Verhandlung ein Dabei ist die kritische, öffentliche Beobachtung eines solchen Prozesses unabdingbar: Der Grundsatz, dass eine Hauptverhandlung, mit einigen Ausnahmen, unter den Augen der Öffentlichkeit stattfinden soll, gilt als wichtige Säule des Rechtsstaats. Auch für die wissenschaftliche oder zivilgesellschaftliche Aufarbeitung sowie Bewertung eines Strafverfahrens ist die gründliche Berichterstattung wichtig, ein amtliches Wortlautprotokoll des Inhalts der Hauptverhandlung gibt es nicht. Nur an Amtsgerichten wird in Deutschland protokolliert, was die Angeklagten oder Zeug*innen zur Sache aussagen. Bei Verhandlungen in höheren Instanzen halten die Protokollierenden, anders als in vielen anderen Staaten, lediglich fest, wer gesprochen hat, nicht aber was der Inhalt der Aussage war.

Vor dem Eindruck der Veröffentlichung von Tonbändern des Frankfurter Auschwitz-Prozesses und dem Mammutverfahren gegen den NSU entschloss sich der Gesetzgeber im Frühjahr 2018 Tonaufnahmen dann zuzulassen, wenn ein Verfahren von “herausragender zeitgeschichtlicher Bedeutung für die Bundesrepublik Deutschland” sei. Von dieser Möglichkeit wurde für den Halle-Prozess erstmals Gebrauch gemacht. Genutzt werden können aber auch diese Aufzeichnungen, die vom Landesarchiv verwahrt werden, von Wissenschaftler*innen frühestens 30 Jahre nach dem Tod oder der Einwilligung der Betroffenen.

Einen beispielhaften Umgang mit der geschilderten Lage, in der wichtige Inhalte und Details eines Terror-Verfahrens verloren zu gehen drohen, zeigte in den vergangenen Jahren das Projekt NSU-Watch. Über 400 Prozesstage protokollierten die ehrenamtlichen Beteiligten und machten die (Nicht-)Aufarbeitung des NSU-Komplexes vor dem Oberlandesgericht München so für alle Interessierte*n nachvollziehbar. Die Protokolle bildeten eine wichtige Grundlage für die Arbeit von Untersuchungsausschüssen, die NSU-Watch teilweise ebenfalls beobachtete, und prägten für viele Menschen die Wahrnehmung des Verfahrens und der dort verhandelten Morde. Wer immer sich mit Verfahren wie dem NSU-Prozess oder dem Verfahren gegen den mutmaßlichen Attentäter von Halle vertiefend auseinandersetzen will, ist auf die zivilgesellschaftliche Protokollierung angewiesen: Eine andere Grundlage gibt es oftmals nicht.

Selbst wenn einzelne Medien, wie es beim Halle-Prozess etwa der MDR vorbildlich tat, die Verfahren kontinuierlich abdecken, gehen in der Berichterstattung naturgemäß Einzelheiten verloren - ist es doch die Aufgabe der Reporter*innen, das für die Leser*innen Wichtige vom Unwichtigen zu trennen. Die Namen der Briefkontakte des in Magdeburg Verurteilten dürften für den durchschnittlichen Lesenden ebenso wenig spannend sein wie die Details von dessen Online-Vernetzung, seine Usernamen, die konkreten Seiten, die er besuchte, oder die Musik, die er hörte. Was für die Aufarbeitung des Anschlags und der Netzwerke, in denen der Angeklagte sich bewegte, wichtig ist, wird in vielen Fällen erst aus der Retrospektive zu beurteilen sein und bedarf der fachkundigen Einordnung. Gerade der gesellschaftliche und ideologische Hintergrund der Tat und das On- und Offline-Milieu, in welchem der Angeklagte sich bewegte, lassen sich durch kurze Berichte zu den einzelnen Verhandlungstagen nicht erhellen. Eine entsprechende Arbeit wider ein Verständnis des Anschlags, das vor allem auf der Selbstdarstellung des Angeklagten basiert, ist aber unerlässlich. Grenzen sind der gewöhnlichen journalistischen Arbeit auch dort gesetzt, wo es darum geht, den Betroffenen des Anschlags zuzuhören und ihre Aussagen festzuhalten: Unweigerlich muss hier abseits von zivilgesellschaftlichen Projekten, die sich eigens der Prozessbeobachtung und -protokollierung widmen, gekürzt oder ausgelassen werden. Gerade im Prozess von Magdeburg, der in beispielloser Weise von den 45 Nebenkläger*innen mitgestaltet wurde , gehen so zahlreiche Stimmen der Betroffenen verloren.

Was Staat und die meisten Medien nicht leisten konnten - den Prozess in Magdeburg in einer Weise zu dokumentieren, die die wissenschaftliche, politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung damit möglich macht - erledigten Projekte wie der Blog halle-prozess-report.de, der Podcast “Halle nach dem Anschlag” von Radio CORAX, die Berichte vom VBRG und NSU-Watch sowie die Protokolle und Bericht auf Deutsch, Englisch und Hebräisch von democ. Die Prozessbeobachtung und insbesondere die -protokollierung ist dabei arbeitsintensiv: Die zumeist rund siebenstündigen Verhandlungstage bedürfen eines vielfachen der Zeit an Nachbereitung, oftmals müssen Namen oder Details, die akustisch nicht zu erfassen waren, nachrecherchiert werden. Getragen wird diese Arbeit bei den genannten Projekten fast ausschließlich von Spenden und ehrenamtlichem Engagement.

Trotz der Höchstrafe drückten mehrere Nebenkläger*innen nach dem Urteil ihre Enttäuschung aus, zwei Betroffene legten Revision ein: Sie kritisieren, dass das Gericht die Taten gegen İsmet Tekin und Aftax Ibrahim nicht als versuchte Morde würdigte. Tekin, Besitzer des „Kiez Döners“, hatte sich in unmittelbarer Nähe des Schusswechsels zwischen Polizei und dem Angeklagten befunden. Sein Anwalt Onur Özata hatte beantragt, die Schüsse in seine Richtung als versuchten Mord zu würdigen. Die Vorsitzende Richterin Ursula Mertens richtete sich in ihrer Urteilsbegründung direkt an Tekin: „Auch Sie waren im Kugelhagel, Sie waren in Lebensgefahr. Auch Sie sind ein Opfer dieses Anschlags.“ Im juristischen Sinne könne man aber keine Tötungsabsicht annehmen, da man dem Angeklagten nicht nachweisen könne, dass er von Tekins Anwesenheit gewusst habe. Auch in Hinblick auf die Tat an Aftax Ibrahim, der in Halle vom Rechtsterroristen mutmaßlich rassistisch motiviert mit dem Auto angefahren worden war, sagte Mertens, man habe nicht feststellen können, dass der Angeklagte diesen bewusst und vorsätzlich angefahren habe.

Durch das intensive Engagement der Nebenkläger*innen in Magdeburg wurde und wird aufgezeigt, an wie vielen Stellen Staat und Zivilgesellschaft vor, während und nach dem antisemitischen, rassistischen und misogynen Anschlag von Halle versagten. Ihnen gilt es nach wie vor zuzuhören und die Kritik an Polizei, Politik und Gesellschaft festzuhalten. Die Aufarbeitung des Anschlags muss auch die Auseinandersetzung mit dessen Verhandlung vor Gericht beinhalten. Die zivilgesellschaftliche Prozessbegleitung, -dokumentation und -protokollierung ist dazu unerlässlich.

von Linus Pook (democ. Zentrum Demokratischer Widerspruch e. V.)

Foto von Grischa Stanjek / democ.

Der Verein democ. Zentrum Demokratischer Widerspruch e. V. beobachtete den Halle-Prozess in Magdeburg und veröffentlichte zu allen Verhandlungstagen Berichte auf Deutsch, Englisch und Hebräisch und ausführliche Prozessprotokolle: democ.de/halle

Eine erste Fassung dieses Beitrags erschien im November 2020 in einer Broschüre der Initiative 9. November in Berlin.