„Andere Verhältnisse herzustellen, heißt am Ende auch, die Kritische Theorie überflüssig zu machen“
Herr Demirović, wenn ich mit meinen Kommiliton*innen über den Stand der Kritischen Theorie an der Universität spreche, geschieht das oft unter der Annahme, dass es früher ein viel breiteres Lehrangebot für Kritische Theorie gab. Können sie das denn aus ihrer eigenen Erfahrung im Studium bestätigen?
AD: Ja, für Frankfurt gilt das auf jeden Fall, weil in Frankfurt am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften, in der Philosophie und ein bisschen in den Kulturwissenschaften, schon Leute waren, die sich der Kritischen Theorie verbunden gefühlt haben. Da konnte man schon eine Art Curriculum der Kritischen Theorie studieren. In der Philosophie in den 70er Jahren war das vor allem Alfred Schmidt. Es gab auch einige Jüngere, die bei Adorno noch promoviert hatten, wie Günther Mensching oder Frieder Schmidt. In der Soziologie lehrten Gerhard Brandt, Helmut Brede, Jürgen Ritsert oder Wilhelm Schumm. Es kamen später noch Alfred Lorenzer, Heinz Steinert, Ute Gerhardt oder Ursula Apitzsch hinzu. In den Politikwissenschaften gab es Iring Fetscher und Joachim Hirsch, Helmut Reichelt, Joseph Esser.
In der Stadtforschung, Staatstheorie, soziale Bewegungsforschung konnte man also ein Studienprogramm mit unterschiedlichsten Themen verfolgen und sich völlig im Kosmos der Kritischen Theorie bewegen. Es gab natürlich auch noch andere Ansätze. Aber Kritische Theorie konnte man schon sehr breit studieren. Dabei spielten neben den Hochschullehrer*innen und Mitarbeiter*innen, von denen viele an der Kritischen Theorie interessiert waren, Lehrbeauftragte eine große Rolle. Dazu gehörten als Mitarbeiter Roland Roth, später Christoph Görg, als Lehrbeauftragte über längere Zeit Helmut Reinicke und Hans-Georg Backhaus. Bei letzterem konnte man sich in die neuere Marx-philologischen Diskussionen einarbeiten.
Und wie war es dann, als Sie selbst an der Uni gearbeitet haben?
AD: Ab den 80er Jahren nahmen Lehraufträge etwa Hermann Kocyba, Helmut Brentel, Diethard Behrens, Andrea Maihofer, ich selbst wahr. Klar, wir haben nicht immer im engeren Sinne Kritische Theorie gemacht, sodass man Adorno und Horkheimer liest, aber das war schon der Horizont, in dem sich das bewegte. Bei den Lehraufträgen ging es um ein ergänzendes Angebot. Ich habe in den Seminaren Marx und Bourdieu, die staatstheoretischen Debatten im Kontext des Instituts für Sozialforschung, Gramsci und Poulantzas behandelt. In meinem Verständnis war das eine Öffnung für eine internationale marxistische Diskussion, um wegzukommen von den Diskussionen, die immer nur im engen Sinne Frankfurter Kritische Theorie waren. Auch Konservative habe ich in den Seminaren behandelt (etwa Schmitt oder Forsthoff).
Und das hat eigentlich so gehalten, in immer neuen Zusammensetzungen, bis Anfang der 2000er Jahre. Dann gingen einige der Hochschullehrer*innen in Rente und viele Stellen wurden umgebaut bzw. nicht nachbesetzt. 2003/04 stand ja auch zur Diskussion, dass ich eine Professur bekomme, was der damalige Universitätspräsident Steinberg verhindert hat. Es ist aber nicht so schlimm gekommen, wie wir Anfang der 2000er Jahre dachten. Allerdings spielt jetzt der explizite Bezug auf marxistische Tradition, also z.B. in der Psychoanalyse, in den Erziehungswissenschaften, in der soziologischen Forschung, in der politischen Theorie eine ganz untergeordnete Rolle, wenn er überhaupt eine Rolle spielt.
Sie haben gerade berichtet, dass die Kritische Theorie seit dem Anfang der 2000er immer weniger an der Universität vertreten war. Ziemlich genau vor 10 Jahren (2013) wurde dann die Gastprofessur für Kritische Gesellschaftstheorie an der Goethe-Uni eingerichtet und Sie haben im ersten Jahr die Lehre übernommen. Aus welcher Motivation heraus haben Sie damals die Stelle angenommen, und hat die Gastprofessur dann auch das erfüllt, was Sie sich von ihr erhofft haben?
AD: Naja, ich hatte zu dieser Zeit in Berlin an der TU gearbeitet, aber diese Stelle lief aus. Es war für mich ein guter Anschluss und ergab sich eigentlich zufällig. Damals haben parallel in Gießen und in Frankfurt Studierende den Antrag gestellt, mit QSL-Mitteln eine solche Gastprofessur einzurichten. Ich habe mich auf beide Stellen beworben und dann ein Semester die Gastprofessur in Gießen wahrgenommen und danach dann für zwei Semester in Frankfurt. Klar, ich habe das gemacht, weil ich es inhaltlich interessant fand, aber natürlich brauchte ich auch das Einkommen. In den Seminaren habe ich Themen behandelt, an denen ich gearbeitet habe. Aber nach der eher ruhigen Arbeit an der TU in Berlin und in Gießen war die Arbeitsbelastung in Frankfurt schon mörderisch.
Wie meinen Sie das?
AD: Wenn man in Frankfurt Themen der Kritischen Gesellschaftstheorie anbietet, dann kommen viele Studierende. Das ist erfreulich, aber es lässt sich kaum schaffen. Als ich die Gastprofessur hatte, dachte ich: naja, wenn ich hier wirklich die Professur bekommen hätte, ich weiß nicht, ob ich das überlebt hätte. Das waren Hunderte von Studierenden und man hat dann eben entsprechend viele Papiere da liegen, also Referate, Hausarbeiten, Betreuungen und der dazugehörige Verwaltungsaufwand. Das war wirklich viel Arbeit. Aber ich fand, es hat Spaß gemacht und passte ganz gut in meine sonstige Planung. Und die Kolleg*innen, die ich von früher her kannte oder kenne, fanden das auch gut und förderlich, weil es eben einfach einen Bedarf gab. Die stellten das fest und die Studierenden beklagen das ja auch noch heute, dass Kritische Theorie nun mal fehlt. Da war mein Angebot eine gute Ergänzung des Lehrangebots.
Trotz dieser großen Wertschätzung von Seiten der Studierenden, dass es wieder Seminare zur Kritischen Theorie gab, wurde die Gastprofessur für Kritische Gesellschaftstheorie nach sieben Jahren abgeschafft…
AD: Ich weiß vom Hören-Sagen, dass es sehr umstritten war, ob man eine solche Gastprofessur überhaupt braucht und ob man es auch gerade noch mit mir braucht. Es gibt mehrere Kolleginnen und Kollegen im Fachbereich, die die Haltung haben, dass die Theorie eigentlich überholt und erledigt sei, dass man sie nicht mehr benötige und schon gar nicht in der Version von Adorno und Horkheimer. Den Ansatz von Habermas würde man vielleicht noch hinnehmen, aber gegen diese ältere Tradition, die eben eng an Marx orientiert ist und das fortsetzt – in dieser Tradition werde ich ja gesehen und sehe mich auch selbst – gibt es Vorbehalte.
Ich würde auch sagen, die, die danach auf die Gastprofessur kamen, haben das tatsächlich nicht fortgesetzt. In Frankfurt zählen sich ja viele zur Kritischen Theorie und es wird auch international so gesehen, dass die Kritische Theorie in Frankfurt gut verankert ist mit der sogenannten zweiten und dritten Generation. Also mit Jürgen Habermas, der in den 90er Jahren irgendwann ausgeschieden ist, und dann mit Axel Honneth, Rainer Forst, Christoph Menke, Martin Seel, Martin Saar. Viele sehen sich in dieser Tradition.
Zu Unrecht?
AD: Es ist schwierig einfach zu entscheiden, wer dazu gehört und wer nicht. Es gibt viele Arten, die ältere Kritische Theorie aufzunehmen und das zu bestimmen, was ihr sog. Paradigmakern ist. Das lässt sich nicht einfach aus einem Wesen heraus bestimmen, denn es gibt auch unter dem Namen Kritische Theorie eine Reihe von Ansätzen. Deswegen gibt es auch seit vielen Jahren Diskussionen darüber. Dynastisch über Lehrstuhltraditionen sollte es jedenfalls nicht entschieden werden. Aber ich finde das eigentlich auch keine fruchtbare Diskussion. Doch es ist auch klar, dass Kritische Theorie, die sich in der Linie der älteren Kritischen Theorie mit dem relevanten Bezug zu Marx bewegt, eben 2013 kaum vertreten war. Genau das war der Punkt, der die Studierenden genervt hat und wo sie Bedarf hatten. Bei meiner Nachbesetzung hatte ich aus der Ferne den Eindruck, dass das schon ganz gute Leute waren, die sich aber eher in einer Habermasschen Tradition gesehen haben als in der Tradition der älteren Kritischen Theorie. Aber da bin ich nicht ganz sicher und weiß zu wenig.
2019/2020 ist die Gastprofessur dann ausgelaufen. In studentischen Kreisen hatte man damals den Eindruck, dass außer vereinzelten studentischen Initiativen niemand, insbesondere niemand von der Uni- bzw. Fachbereichsleitung, Interesse an der Weiterführung zeigt. Wie erklären Sie sich das?
AD: Um das richtig sagen zu können, müsste man näher dran sein. Aber ich glaube, es erklärt sich aus verschiedenen Gründen. Ich denke, trivialerweise waren die QSL-Mittel erschöpft, also die Gelder standen nicht mehr zur Verfügung bzw. nicht mehr im selben Umfang, weil die Gastprofessur ja außerhalb des normalen Budgets finanziert wurde. Wenn man eine Professur, die das kontinuierlich vertritt, stabil finanzieren will, dann müsste man dafür Geld von anderen Stellen her frei machen und das ist schwierig. Die Uni und der Fachbereich sind ja auch überschuldet…
Für andere Sachen ist aber Geld da. Das kann ja nicht der einzige Grund sein.
AD: Das mag sein. Ich würde sagen, es gab in der Fachbereichsleitung auch durchaus Personen, die das nicht wollten. Die fanden, Kritische Theorie sei nicht ernst zu nehmen, keine ernsthafte Wissenschaft. Das war ja auch die Haltung des Präsidenten damals. Er meinte, Kritische Theorie sei Ideologie und dass das ein Ende haben müsse. Kritische Theorie sei keine seriöse sozialwissenschaftliche, empirische Forschung, und fertig.
Es ist schon ein wenig durchgeklungen, dass sie ein Lehrangebot für Kritische Theorie definitiv als wichtig empfinden. Woraus begründet sich diese Notwendigkeit?
AD: In Frankfurt hat das natürlich einen eigenen Status. Ich meine, da waren bedeutende Wissenschaftler*innen an der Universität, und die Universität hat einen Adorno-Platz, die Horkheimer-Straße und es gibt das Institut für Sozialforschung. Also ist es sinnvoll diese Tradition zu pflegen – aber natürlich nicht nur museal. Über Kritische Theorie wird international diskutiert. Nicht nur in den USA, wo Kritische Theorie gut etabliert ist, sondern auch in Spanien, Brasilien, in Japan, in Südkorea. Also da kann man in viele Ecken der Welt gucken und dann ist das ein bisschen bedauerlich, wenn nicht sogar beschämend, dass diese Tradition in Frankfurt so marginalisiert wird. Dabei ist der Bezug auf Marx von großer Wichtigkeit. Adorno sagte einmal ganz richtig, dass in Deutschland das Verhältnis zu Marx neurotisch sei. An anderen Orten ist das nicht so, auch wenn es heute angesichts der autoritären Entwicklungen schwieriger geworden ist, offen über Marx und die marxistische Theorie zu diskutieren.
Es ist auch sicherlich richtig, dass die Kritische Theorie durch andere Ansätze erweitert wird. Für mich waren das die Arbeiten von Gramsci, von Foucault, Derrida, des Poststrukturalismus, der Diskursanalyse. Aber genau das ist eine der Streitfragen, nämlich: wie die anderen Theorien einzubeziehen seien. Die ältere Kritische Theorie wollte keine Norm- und Letztbegründung, sondern argumentierte für Bodenlosigkeit und Vermittlung. Grundlage ist die gesellschaftliche Wertvergesellschaftung und das ist keine Norm, sondern selbst ein vermittelter Zusammenhang. Das war immer die Kritik von Adorno: gegen jedes Erste, gegen Philosophie, die nach dem Ersten strebt. Kritische Theorie ist ihrem Anspruch nach Analyse der materiellen Bewegungsgesetze, der gesellschaftlichen Mächte.
Um was geht es bei Kritischer Theorie denn nach Ihrer Ansicht?
AD: Es geht um ein Gesamtverständnis der kapitalistischen Gesellschaft, in der wir leben und die sich weiterentwickelt. Dazu gehört die Finanzialisierung, die in den 90er Jahren mit der Globalisierung und dem Neoliberalismus eingesetzt hat, dazu die ökologische Krise, die Bedrohungen der Demokratie, die sozialen Bewegungen, die Veränderungen in den Betrieben oder den privaten Beziehungen. Das sind vielfältige Gegenstände empirischerForschung. Dazu gehört aber auch das, was Horkheimer und Adorno gemacht haben: sehr viel Meinungsforschung, um festzustellen, wie eigentlich die Haltungen der Menschen zu den Widersprüchen der Demokratie sind. Heute wird auch über Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus geforscht – das war in früheren Jahrzehnten nicht selbstverständlich. Aber ich sehe nicht, dass dies in den Zusammenhang von Familie, Geschlechterverhältnissen, Psychodynamik, veränderten Berufsorientierungen, betrieblichen Herrschaftsprozessen, Dynamiken der Kapitalverwertung gestellt wird, wie das ihrerzeit Horkheimer, Fromm, Adorno versucht haben. Vieles bleibt an der Oberfläche. Doch es geht um die Tiefendynamiken der bürgerlichen Gesellschaft, um die Tendenzen der mächtigen Kräfte. Kulturindustrieforschung wäre wichtig, die ganze Frage des gesellschaftlichen Naturverhältnisses und so weiter.
Genau, die globalen Ungleichheitsverhältnisse mitsamt der Klimakatastrophe zwingen uns ja gerade dazu, nach emanzipatorischen Antworten zu suchen.
AD: Ja, für die Kritische Theorie geht es ja immer darum zu begreifen, wie sich eigentlich der Gesamtprozess der Gesellschaft unter den Gesichtspunkten von Naturzerstörung, Ausbeutung und Herrschaft entwickelt. Und das ist etwas, was wirklich wenig vorkommt in der bundesdeutschen Diskussion.
Ich glaube genau dieser Versuch das Gesamte in den Blick zu nehmen, ist es auch, was uns Studis an der Kritischen Theorie so fasziniert. Deshalb haben sich jetzt einige zusammengetan, um erneut Mittel für eine Gastprofessur zu beantragen. Leider wurde es nur eine sogenannte „Goethe Teaching Professorship“, in deren Rahmen Birgit Sauer und Sie Seminare zur Kritischen Theorie im weiteren Sinne, aber in der Tradition zu Marx anbieten.
Das bedeutet, die Kritische Theorie ist jetzt wieder zurück an der Uni, allerdings eben nur in einem prekären und nicht-institutionalisierten Rahmen. Ist das ein Grund zur Freude oder löst das auch Besorgnis über die Zukunft der Kritischen Theorie aus?
AD: Eine Schwalbe macht noch keinen Frühling. Es ist ja immer beides. Ich finde es einerseits toll, dass die Studierenden sich jetzt dafür einsetzen und das hat ja auch seine positive Wirkung. Nach ein bisschen hin und her ist es ja jetzt gut ausgegangen. Aber es gibt dabei immer auch einen Haken: Die Stelle ist nicht dauerhaft, und sie ist nicht so, dass junge Leute, die damit ihre Karriere begründen wollen, sich bewerben können. Denn die Bezahlung ist schlecht und die Voraussetzungen sind ungünstig, weil das mit dem Wissenschaftszeitvertragsgesetzt kombiniert ist. Das bedeutet, man muss einen Professor*innentitel haben. Aber wer hat den schon? Wer kann diese Bedingungen alle erfüllen? So, wie das jetzt ausgestaltet ist, ist das eigentlich wirklich nur was für Rentner*innen, also für die Leute, die schon Professor*innentitel haben, die auf das Entgelt nicht unmittelbar angewiesen sind und die sozusagen ein paar Bedingungen mitbringen, die Jüngere am Beginn ihrer Karriere gar nicht mitbringen können. In diesem Sinne ist es keine Qualifikationsstelle. Das war mit der alten Gastprofessur anders. Die habe ich bekommen, klar, aber die haben danach dann vor allem Jüngere bekommen, die wirklich noch in einem Qualifikationsprozess waren. Sie konnten damit zeigen, dass sie Lehre machen können und dass sie in der Forschung aktiv sind.
Sie sind also besorgt?
AD: Also „besorgt“ ist nicht das richtige Wort, aber natürlich denke ich, es wäre schöner, es könnte verstetigt werden, und es könnte dann wiederum attraktiv für Jüngere werden. Klar, freue ich mich, dass ich das jetzt machen kann, aber letztlich muss es ja auch in Zukunft weitergehen. Und das heißt dann eben tatsächlich, dass sich Jüngere auch mit Spaß und Leidenschaft mit so einer Theorie-Tradition verbinden und sagen: Ja, für uns und das, was wir in unserer Gesellschaft brauchen, ist es eben wichtig, Kritische Theorie zu machen. In einem Sinn, der tatsächlich gesellschaftliche Arbeit, Herrschaftsfragen, Naturausbeutungsprozesse, Rassismus oder Sexismus etc. im gesellschaftlichen Zusammenhang thematisiert.
Und wie stehen Sie generell zu dem Punkt, dass Studierende dazu gezwungen sind, selbst ihre Lehre zu organisieren? Eigentlich wäre es ja Aufgabe der Uni genügend Seminare, und vor allem auch Seminare für Kritische Theorie, anzubieten. Mit der Goethe Teaching Professorship wurde der Organisationsaufwand den Studis überlassen und am Ende ermöglicht es das Angebot mehrerer Seminare für weniger Bezahlung der Dozierenden. Gleichzeitig reden wir aber immer über den Wunsch nach mehr Selbstorganisation und Mitbestimmung. Wir befinden uns da also in einem Zwiespalt. Wie denken Sie darüber?
AD: Ja, das ist schon genauso, wie Sie jetzt sagen, ein Zwiespalt. Einerseits ist es gut, wenn Studierende sich selbst engagieren und Lehre organisieren, ihre wissenschaftlichen Interessen frühzeitig ausbilden und sich damit auch intellektuell autonom machen. Das bedeutet, dass sie sagen, was sie brauchen, was sie wissen wollen, und sie können dann auch sagen, was der Fachbereich oder die Uni insgesamt anbietet, reicht eigentlich nicht, um den Herausforderungen, mit denen wir heute zu tun haben, wirklich Rechnung zu tragen. Ich meine, es gibt ja schon gute, innovative Forschungen. Aber die Frage ist: kommen sie zusammen? Gibt es ein Verständnis von Gesamtprozessen und kommt es auch zu einem neuen Verständnis der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung? Was machen wir, wenn unsere Gesellschaften kollabieren? Wie bewältigen wir diese Krisen?
Auch unter sozialen Gesichtspunkten ist das Engagement wichtig, denn durch die Freund*innenschaften, durch die Diskussionen, durch die Neugierde, die sich da entwickeln, können Forschungsfragen erzeugt werden, die die Leute viele Jahre weiterhin tragen, motivieren und antreiben. Wenn ich das für mich betrachte, dann lief das mit Freund*innen in den 1970er Jahren und in den nachfolgenden Generationen in den 80er und 90er Jahren genau so: Leute kommen zusammen, diskutieren miteinander, haben interessante, innovative Ideen. Da bilden sich Freund*innenschaften, Arbeitsgruppen, gemeinsame Interessen. Daraus entstehen natürlich auch Konflikte. Manche der Kommiliton*innen mag man gar dann gar nicht mehr sehen; andere hingegen werden wichtig, manchmal für das ganze Leben. Das sind dann genau die Prozesse, aus denen sich was für die nächsten Jahrzehnte entwickelt. Viele der Leute, die ich da kennengelernt habe, von denen weiß ich, dass sie heute noch wissenschaftlich produktiv sind und interessante Sachen machen. Das ist der positive Aspekt.
Ja, das sind die positiven Seiten, da haben Sie recht.
AD: Natürlich wäre es schöner, diese Zusammenhänge würden verstetigt. Dazu bräuchten wir viele Doktoratsstellen mit festen Anstellungsverhältnissen, nicht diese Art von prekärer Promotionsförderung, wie wir sie heute haben. Leute, die promovieren, sollten dann auch Lehrerfahrung machen können, sozialversichert sein usw. Nüchtern betrachtet ist es aber so: wir haben eine Verfünf-, Versechsfachung der Studierendenzahlen, aber wir haben quasi dieselbe Zahl von Hochschullehrer*innen wie in den 70er Jahren. Das heißt die Lücke zwischen denen, die nachfragen, und denen, die lehren, ist im Prinzip immer größer geworden in den letzten 40 Jahren. Das war immer mit der Idee verbunden, man müsse sparen, die Zahl der Studierenden nähme ab mit den geburtenschwachen Jahrgängen usw. Das hat sich nie erfüllt. Es ist also nicht nur eine schlecht gelaunte Hochschulleitung, die Hochschulen stehen wirklich mit dem Rücken zur Wand. An den Wissenschaften wird gespart. Viel Geld wurde aus den Unis rausgenommen und in der Deutschen Forschungsgemeinschaft gepoolt. Dann müssen die Wissenschaftler*innen wieder Geld beantragen, das kostet endlos viel Arbeitszeit und das zerstört die Wissenschaften in Deutschland systematisch. Die Leute haben aufgrund der vielen Verwaltungsaufgaben, wie Drittmittel einwerben und verwalten, Mitarbeiter*innen verwalten, immer weniger Zeit um selbst wissenschaftlich zu arbeiten. Heute erleben wir, wie in Deutschland die Wissenschaft ganz langsam zerstört wird. Deswegen ist dem neoliberalen Gerede von Standort und Wettbewerbsfähigkeit auch nicht zu trauen. Es ist ein langsamer Prozess wie bei einem Frosch im Topf, der nicht merkt, dass es immer heißer wird. Irgendwann ist in unserem Fall der point-of-no-return erreicht.
Es braucht also einen breiten Ausbau. Aber selbst, wenn die Bedingungen besser wären, bräuchte es solche Initiativen. Und das gehört auch zum Spaß und der Leidenschaft von Erkenntnis, dass man irgendwann sagt: das packt mich, ich bin neugierig und will es wissen. Da stecke ich meine Lebenszeit rein.
Genau, diese Selbstorganisation ist ja immer auch eine Zeit- und Ressourcenfrage…
AD: Natürlich ist es eine große Zeitfrage. Und ich würde sagen, es lohnt sich, um diese Studienzeit zu kämpfen. Ich halte diese ganzen neuen Studiengänge und Prüfungsverfahren mit der Modularisierung für wissenschaftszerstörend, weil das bedeutet, dass man weniger Zeit hat und weniger das studieren kann, was einer/m selbst wichtig ist. Von der finanziellen Lage mal ganz abgesehen. Aber die war für viele Studis schon immer schwierig, mit kurzen Ausnahmen. In den 50er und 60er Jahren mussten die Leute Studiengebühren zahlen. Viele waren Werkstudenten, heute heißt das ‚jobben‘. Aber klar, damals waren es halt auch nur wenige, zwei bis drei Prozent eines Jahrgangs. Das waren häufig Leute, deren Eltern sich das Studium ihrer Kinder auch leisten konnten. Heute ist das natürlich nicht mehr so einfach. 70 Prozent der Studierenden in der Bundesrepublik jobben, das ist kein gutes Zeichen, finde ich.
War die Unterstützung studentischer Selbstorganisation dann auch ihre Hauptmotivation, im Rahmen der Goethe Teaching Professorship Seminare zu geben?
AD: Natürlich, es ist genau das: Ich will Studierende unterstützen, weil ich es für richtig und sinnvoll halte, mit Jüngeren zu tun zu haben. Aber es macht auch inhaltlich Spaß und die Motivlage ist gar nicht so viel anders als mit 25 oder 50. Mich interessieren ja die gesellschaftlichen Prozesse. Ich finde es toll, wenn ich mit Leuten darüber diskutieren kann. Seminare sind ja auch die Form, wie man Texte liest, über Dinge nachdenkt und sich fragt: Sind die früheren Einsichten noch brauchbar? Ist das noch richtig? Es ist ein lebendiger Erkenntnisprozess, das ist ja das Schönste an der ganzen Tätigkeit. Man kann sich Dinge immer neu erschließen, man geht um die Ecke und entdeckt wirklich interessante neue Aspekte, von denen man vorher gar nicht geahnt hat, dass es sie gibt. Marx ist auch nicht als Marxist auf die Welt gekommen, Adorno nicht als kritischer Theoretiker, und ich natürlich auch nicht. Also wie kommt man dazu, sich kritisch in dieser Gesellschaft zu bewegen, zu orientieren und zu sagen: so wie wir jetzt leben, können wir das nicht weiter fortsetzen. Wie gestalten wir unser Zusammenleben so, dass wir nicht nur überleben, sondern Freiheit erleben? Genau darum geht es. So können wir das nicht fortsetzen.
Die Frage ist nur, was die Alternativen sind, wie ich finde.
AD: Das ist die wichtigste Frage: Wie machen wir das? Wie können wir auf eine andere Weise zusammenleben, sodass es für alle erträglicher wird? Ich bin da nicht so bescheiden, aber wenn man nicht naiv sein möchte, kann man sagen: es wird vielleicht nicht die beste aller Welten, aber sie könnte viel, viel besser als die Jetzige sein. So verstehe ich Kritische Theorie: das, was wir seit Hobbes und Locke an Problemen erkennen, lösen wir. Ausbeutung, Naturbeherrschung, Krieg, Sexismus, Rassismus, Kolonialismus, alles das, was in den letzten 400 Jahren uns quält und die Welt zerstört. Chakrabarty sagt ganz schön: dass wir das Beste im Verhältnis zur Natur noch vor uns haben.
Für mich klingt das in der Tat nach einer schönen Aussicht. Zum Schluss würde mich jetzt noch interessieren, was ihrer Meinung passieren müsste, damit die Kritische Theorie im regulären Uni-Betrieb wieder mehr Raum bekommt. Reicht es aus, einfach nur Überzeugungsarbeit bei Kommiliton*innen, Dozierenden oder der Fachbereichsleitung zu leisten, oder muss sich etwas Grundlegenderes verändern?
AD: Das ist schwierig. Wissenschaftliche Prozesse bestimmen sich nicht selbst. Es braucht Macht und die Frage ist: wo kriegt man die her? Ein bisschen hilft auch heute, dass Kritische Theorie in den USA ein relevantes Thema ist. Letztlich hängt es aber auch an der gesellschaftlichen Notwendigkeit, und das heißt konkret: welches Wissen braucht eine Gesellschaft und wie dringend braucht sie es? Man kann dieses Wissen verleugnen oder verdrängen, aber es kommt wie ein Widergänger immer wieder zurück: die Fragen nach der Zerstörung der Natur, nach Klassenverhältnissen, nach der Zerstörung der Individuen durch pathologische Familienmuster, durch Konsumismus. Dieser Bedarf ist rational und hält die Kritische Theorie ja auch am Leben. Adorno und Horkheimer haben darin aber auch immer einen Widerspruch gesehen, denn letztlich arbeitet die Kritische Theorie an der eigenen Überwindung. Andere Verhältnisse herzustellen, heißt am Ende auch, die Theorie überflüssig zu machen.
Das klingt sehr schön, was Sie sagen. Und doch bleibt es ein ständiger Kampf.
AD: Ja. Die Theorie wird verleugnet, weil diejenigen, die Macht haben, nicht wollen, dass dieses Wissen, was uns hilft, alle diese Probleme zu bewältigen, in unserer Gesellschaft handlungsrelevant wird. Wenn man jetzt sagt, die Kritische Theorie müsste verankert werden, dann heißt das, es braucht entsprechende gesellschaftliche Dynamiken und Akteure, die sagen, dass wir Kritische Theorie brauchen, dass wir das Wissen brauchen. Klar, kann man das auch in der Uni und in der Wissenschaft sagen, aber es braucht dafür auch die Impulse der Gesellschaft. Und es ist ja interessant, dass diese Anregungen immer wieder von jüngeren Studierenden kommen, also denjenigen, die sich noch nicht auf eingefahrenen Gleisen bewegen. Das war ja auch meine Erfahrung. Auch ich bin nach Frankfurt gekommen wegen Kritischer Theorie. Es war viel besser als heute. Einverstanden. Aber als ich in die Seminare bei den Philosophen gegangen bin, habe ich vor allem Zyniker*innen getroffen, die gesagt haben, Adorno habe keine Ahnung, was Positivismus sei, seine Hegel-Interpretation sei Blödsinn, von Husserl verstehe er nichts. Also die Relationen waren günstiger, aber die Tendenz war damals auch da. Wir haben eigene Arbeitsgruppen gebildet, um uns diese Dinge alle aneignen zu können, weil wir das Gefühl hatten, wenn wir dem Normalbetrieb folgen, dann kann man das vergessen. Genau das, was ihr heute macht. Und das ist wichtig und richtig.