Wie kann man die neoliberale Gegenwart kritisieren, ohne dabei die Vergangenheit zu verklären und damit die Zukunft aufzugeben? Die Spannung zwischen der Realität der gegenwärtigen neoliberalen Hochschule und dem Ideal der Universität als politisch bildendem Raum kann zu einem sehnsüchtigen Blick in die Vergangenheit verleiten. Hat Horkheimer nicht schon alles gesagt? War das Ideal der Freiheit und des selbstbestimmten Lernens nicht früher einmal Wirklichkeit? War vor »Bologna« alles besser?

»Gebt Studihaus!« So fordern das gleichnamige Kollektiv und die studentische Selbstverwaltung der Frankfurter Universität die Errichtung des seit Jahren geplanten Studierendenhauses auf dem IG-Farben Campus. Dabei wird immer wieder prominent auf Max Horkheimer Bezug genommen, der zur Eröffnung des bestehenden Studierendenhauses den Anspruch formulierte, dieses solle der Erziehung einer mündigen, demokratischen und antifaschistischen Studierendenschaft dienen.1 Mit der Rückbesinnung auf dieses Ideal soll die Hochschule heute als politischer Raum wiederbelebt beziehungsweise gegen das neoliberale Verständnis einer unternehmerischen Universität verteidigt werden. Politisch verhandelt der Protest für das Studierendenhaus das Verhältnis von Bildung, Emanzipation und Universität. Sprachlich setzt er Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in Beziehung zueinander. Das Beispiel des Protests nehme ich als Ausgangspunkt, um im Folgenden über beide diese Verhältnisse allgemeiner nachzudenken.

Neoliberale Halbbildung

Das Verhältnis von Bildung und Emanzipation scheint keineswegs einfach kausal zu sein – zumindest in ihrer institutionalisierten Form führt Bildung weder zwangsläufig zu reflektierten Überzeugungen noch zu klugen Entscheidungen. Zugleich kann Bildung aber (und das wusste schon Horkheimer) mehr bedeuten als die Aneignung »wissenschaftlicher Verfahrungsweisen«2 und eine Anpassung an die Erfordernisse einer ungerechten Gesellschaft. Sie kann »das Glück des unabhängigen Denkens und das Bedürfnis nach Freiheit«3 sein, zu deren Erlernen gemeinschaftliche, kreative wie politische Betätigungen notwendig sind. Eine solche Bildung wiederum mag Emanzipation ermöglichen. Die dafür offenbar notwendige spezifische Arbeit braucht eine materielle Grundlage wie einen Ort. Und ein solcher Ort könnte die Universität sein. Neben diesem räumlichen Aspekt haben Bildung und Emanzipation auch eine zeitliche Dimension: Aus der Vergangenheit sollen Lehren gezogen werden; Bildung gilt als Investition in die Zukunft und Emanzipation als Befreiung aus der Enge der Gegenwart und von den Zwängen der Vergangenheit. Insgesamt lässt sich so folgern, dass die heutige neoliberalisierte Universität maßgeblich eine Bildung im ersten Sinne, und damit eine nur halbe Bildung, ermöglicht.

Wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen verweist der Begriff der Neoliberalisierung der Hochschulen auf verschiedene Dynamiken. Zu diesen gehören sowohl die Unterordnung unter die Logik der Wirtschaft und Finanzen, was eine neue Wissensordnung etabliert, als auch das Hervorbringen eines spezifischen, individualisierten Subjekts. In der neoliberalen Wissensordnung werden berufspraktische, arbeitsmarkttaugliche Fähigkeiten und damit Konformität geschätzt. Es gilt das Recht auf abhängige Lohnarbeit, der Abschluss hat Marktwert, die eigene Freiheit ist die, den lukrativsten Studiengang zu wählen. Das neoliberale Individuum ist auf sich allein gestellt und eigens verantwortlich für seinen Erfolg und sein Scheitern an der gesetzten gesellschaftlichen Normalität. Paradoxerweise wird, zum einen, eine wirtschaftslogische Normalität gesetzt und dabei die sozialen Ungleichheiten, die Individuen verschieden positionieren, nicht in den Blick genommen. Zum anderen richtet sich der Konformitätsdruck, die angestrebte Normierung, auf jede Einzelne, deren Lebenslage so zum persönlichen Schicksal wird.4

Gute alte Zeit

Wer seine Ideale so in der Vergangenheit verwirklicht sieht, mag diese als goldene Zeit begreifen und sich in sie zurücksehnen. Der Bezug auf Vergangenes erscheint dann wehmütig, die Gegenwart ist von Verlust geprägt und die Zukunft soll sich der Vergangenheit annähern – man spricht von Nostalgie. Der Begriff, der diesen individuellen oder kollektiven Zustand erst zu einem Gegenstand der Betrachtung macht, ist ein neuzeitlicher.5 Und erst das 21. Jahrhundert beschreibt der Soziologe und Philosoph Zygmunt Baumann als »Zeitalter der Nostalgie«6.

Während das 20. Jahrhundert die Fortschrittserzählung der Moderne als unhaltbar entlarvte, büßt spätestens mit der breiten Anerkennung des menschengemachten Klimawandels im 21. Jahrhundert die Zukunft generell an Anziehungskraft ein: Zugunsten einer Vergangenheit, in der Versprechen noch einlösbar zu sein schienen, wird sie ausgeblendet. So lässt sich Nostalgie als eine Reaktion auf die Ohnmachtserfahrung angesichts der Zukunft verstehen. Die Soziologin Alexandra Schauer etwa spricht von einem spätmodernen Verlust von Gestaltungsfantasien und Gestaltungsbewusstsein.7 Dieser Verlust schränkt die Handlungsmöglichkeiten ein: Wer keine Alternativen mehr sucht, macht Entscheidungen als solche unsichtbar. Sie erscheinen als Notwendigkeiten, die Anpassung zur einzigen Form der Selbsterhaltung werden lassen. Der nostalgische Blick verabschiedet diesen Handlungs- und Gestaltungsspielraum als vergangen und schließt das eigentlich Gewünschte damit ab. Praktisch geht es nie zurück – und nostalgisch nicht nach vorn.

Nostalgie revisited

So verstanden eröffnet Nostalgie zwar den Markt für Retro-Produkte, bleibt selbst aber unproduktiv. Sie idealisiert die Vergangenheit und kappt durch ihre selektive und vereinfachte Betrachtung zugleich deren tatsächliche Verbindung zur Gegenwart als historische Kontinuität. Die Kulturwissenschaftlerin und Künstlerin Svetlana Boym argumentiert dagegen, Nostalgie nicht nur retrospektiv zu verstehen, sondern auch ihren prospektiven Charakter anzuerkennen: Vorstellungen der Vergangenheit, die gegenwärtigen Bedürfnissen entspringen, hätten einen direkten Einfluss auf die Zukunft.8 Sie unterscheidet daher zwischen einer restaurativen Nostalgie, die das Verlorene wiederherzustellen verlangt, und einer reflexiven Nostalgie, die das Gefühl des Sehnens selbst zum Ausgangspunkt des Nachdenkens und Gestaltens macht. Mit dieser Form der Nostalgie soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass Ideale immer nur Bezugspunkt und nie konkrete Realität sind und so die Gefühle des Verlusts, des Sehnens und der Ohnmacht gegenüber der immer fortschreitenden Zeit zur Grunderfahrung der Moderne gehören.

Die Auseinandersetzung mit dieser Grunderfahrung widerspricht der restaurativen Nostalgie, indem die Unwiederbringlichkeit des Vergangenen anerkannt wird. Wird Verlust als Hinweis auf eine stetige Veränderung des Bestehenden gedeutet, kann dieses als zumindest potenziell gestaltbar erkannt werden.9 Ideale der Vergangenheit, die fortwirken, können dann kreativ anstatt mit überholten Mitteln bearbeitet werden. Zudem weist das Sehnen selbst auf die Konstruktion der Vergangenheit hin, die wiederum in der Gegenwart stattfindet: Erinnerung gibt keine objektiven Tatsachen wieder, sondern findet aus einer bestimmten Perspektive heraus statt. Anstatt Idealvorstellungen in die Vergangenheit zu projizieren, können sie auch auf mögliche Zukünfte hindeuten. Diese Umstände scheint der Begriff der Nostalgie allerdings nur unzureichend zu fassen.

Utopie statt Nostalgie

Statt also die Ideale in der Vergangenheit zu verorten und die Gegenwart als Abweichung von ihnen zu begreifen, lassen sie sich als Wegweiser in die Zukunft verstehen. Nicht die Trauer über ihren noch unverwirklichten Zustand, sondern das Glück an ihren Versprechen steht dann im Fokus. Indem solche Ideale ernstgenommen werden, stehen sie auch dem Credo der Alternativlosigkeit entgegen, das die Gegenwart als bestmögliche Realität vermarktet. So wird eine Ablehnung des Bestehenden möglich, die auf seine Transformation verweist – nicht als Restauration einer vermeintlich besseren Vergangenheit, sondern als Kreation einer schöneren Zukunft. Und damit heißt es: Utopie statt Nostalgie!

Dieser Vorschlag erscheint erklärungsbedürftig. Ist denn die Utopie nicht auch eine Art idealisierte Traumwelt? Wie soll sie aussehen? Und ist die Idee der Utopie nicht total outdated? Um zu erklären, weshalb die Utopie nicht davon abhängt, ob sie ausgemalt werden kann und wo stattdessen nach ihr gesucht werden kann, gehe ich auf drei Aspekte eines politischen Utopiebegriffs ein: ihre Bezugsgröße, ihre Form, und ihren Inhalt.

Ein politischer Utopie-Begriff

Indem er sich nicht auf einen paradiesischen anderen Ort oder eine goldene, dabei womöglich vergangene Zeit bezieht, verwirft ein politischer Utopie-Begriff erstens die klassischen Zeit und Raum-Utopien. In diesen wird das angestrebte Gute als starr und schon abgeschlossen imaginiert. Dabei bringt die Anerkennung dessen, dass Menschen immer in bestimmten sozialen und historischen Kontexten zu Subjekten werden, eine Unvollkommenheit dieser gesellschaftlichen Subjekte mit sich. Stets von einem bestimmten Standpunkt aus denkend und agierend muss es ihnen verwehrt sein, eine universell gültige Utopie zu entwerfen oder zu erkennen. Statt nur um den Weg zur Utopie geht es also darum, zwischen gegenwärtiger Misere und ungewisser Zukunft einen Gestaltungsraum zu erkennen und zu erkämpfen – die Offenheit des Werdenden und eigene Handlungsmöglichkeiten entschieden anzuerkennen und zu verteidigen, beziehungswiese kreativ auf diese hinzuwirken.

Zweitens geht die politische Utopie nicht in den klassischen Formen der literarischen Utopien, utopischen Bewegungen oder des utopischen Denkens auf. Denn obwohl Utopie als Ablehnung des Bestehenden und bezogen auf eine gestaltbare Zukunft zumindest auf den ersten Blick die Form des utopischen Denkens anzunehmen scheint, ist auch klar: Kritik findet nicht nur auf der Ebene der Theorie statt, sondern maßgeblich in der Praxis. Praktische Kritik kann das Hinterfragen von Normen und vermeintlicher Normalität, das gemeinsame Erproben von Alternativen meinen. Sie bewegt sich damit zwischen der Entgrenztheit des Denkens und der Begrenztheit der Bewegung. Eine politische Utopie kann dann ein Orientierungspunkt des Handelns sein, zu dem sie motiviert. Entscheidungen, die sich in der alternativlosen Logik als Notwendigkeiten verkleiden, werden als solche aufgedeckt und der – auch in bürokratischen Strukturen – jeder Person zur Verfügung stehende Handlungsspielraum vermessen. Das ist radikal, denn einer Praktik des Verwaltens und der Bürokratie wird damit das Gestalten und Versuchen entgegengesetzt; dem Narrativ der Alternativlosigkeit zuwider ein Gestaltungsspielraum eröffnet.

Doch wie den erkämpften Raum nutzen, welchen Inhalten Gestalt verleihen? Auch wenn der hier vorgeschlagene Utopie-Begriff wie oben beschrieben von einer grundlegenden Offenheit ausgeht, lassen sich dennoch orientierende Normen benennen. Pauschal und gewollt vage gesagt: Utopien richten sich auf das bessere Leben – nur so sind sie von Dystopien abzugrenzen. Der Form der politischen Utopie folgend, kann das bessere Leben dabei nur aus der Praxis heraus entstehen – einer von verschiedenen, jeweils begrenzten Subjekten geteilten Praxis. Drittens lässt sich als Inhalt daher eine noch näher zu bestimmende emanzipatorische Kollektivität festhalten. Damit ist keine Gemeinschaft um ihrer selbst willen gemeint, sondern vielmehr das gemeinsame Suchen, Erproben und Erfahren, das Ringen um das gute Leben für alle, das notwendigerweise nur gemeinsam und nicht von Einzelnen möglich ist.

Das Richtige im Falschen

Der so konzipierte politische Utopie-Begriff verweist also auf Gestaltungsmöglichkeiten und Handlungsspielräume, auf praktische Kritik und kollektives, am Besseren orientiertes (Zuwider-) Handeln. Was bedeutet eine solche Utopie nun für das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft? Und wie steht sie zu Bildung, Emanzipation, der Universität?

Um Antwort auf die erste Frage zu finden, lässt sich die umrissene Utopie mit Ernst Blochs Konzept der konkreten Utopie in Verbindung bringen. Auch Bloch geht es nicht um das utopische Bild eines besseren Zustands in einer anderen Zeit oder an einem anderen Ort, sondern eher um das Richtige im Falschen: Subjektives Wollen realisiert sich an objektiv-materiell ermöglichtem Können.10 Damit dieses subjektive Wollen allerdings nicht in Nostalgie aufgeht, wird das Bestehende – wie eng und starr es auch erscheinen mag – als reich an Alternativen von (noch) unverwirklichten Möglichkeiten aufgefasst. Um diese aufzudecken, lohnt laut Bloch immer wieder der Blick in die Vergangenheit: Welche historische Tendenz, welches Ideal ist heute zwar unverwirklicht, aber noch lebendig und lässt sich aufgreifen als Startpunkt für die Gestaltung der Zukunft?

Zur zweiten Frage lässt sich festhalten, dass Emanzipation und Bildung für die Utopie nicht nur Ideal, sondern zugleich bereits Praxis sind. Die Vergangenheit wird sich auf der Suche nach Handlungsräumen angeeignet, gemeinsam werden Alternativen zum Bestehenden diskutiert und ausprobiert. So steht die emanzipatorische Kollektivität der neoliberalen Normalität der Individualisierung entgegen; der Spaß gemeinsamer Aktivitäten ihren wirtschaftlichen Zwängen.

Schlussendlich geht es darum – und damit kommen wir zu Horkheimer und dem Studierendenhaus zurück – Räume offen und Zeit freizuhalten. Nur so kann sich zusammengefunden und das gesucht werden, was bei der Utopie eben im Vordergrund steht: das bessere Leben. Und dabei auch: die bessere Bildung. Solche Räume sollen keine utopischen Rückzugsorte in einem kaputten System sein, sie verweisen aber auf dessen Brüchigkeit und Kontingenz. Sie als konkrete politische Utopien zu deuten, stärkt ihre Position gegen die immer realer werdende Dystopie der unternehmerischen Universität. Aus der hier vorgestellten Perspektive erscheint die Hochschule (wieder) als gesellschaftlicher Raum besonderer politischer Dynamik, für den es sich zu kämpfen lohnt.