
Kleine Anfrage
Liebe/r X,
die Frankfurter Studierendenzeitschrift diskus beschäftigt sich seit über 70 Jahren mit Debatten in der politischen Linken. Für unsere nächste Ausgabe haben wir uns das Thema Bildung vorgenommen. Unter anderem wollen wir uns die Frage stellen, was die Linke eigentlich fordert, wenn sie die Bildungsinstitution Universität kritisiert – beziehungsweise, was die Linke selbst überhaupt dort sucht. Dabei drängen sich uns verschiedene Gedanken auf:
Ist seit den Bologna-Prozessen für linke Akademiker_innen wirklich alles schlechter geworden oder läuft es nicht eigentlich ganz gut unter dem Label »kritisch«? Ist die Forderung nach mehr bezahlten Hochschulstellen ein bequemer Rückzug linker Politik aus der Praxis? Ist die Universität überhaupt der Ort, an dem eine Kritik am Ganzen formuliert werden kann, oder fabriziert sie vor allem Menschen mit hohen Bildungsabschlüssen und Distinktionsbedürfnissen – früher wie am Fließband und heute durch individuelles Schlüsselkompetenztraining? Wozu fordern wir als Linke mehr Hochschulbildung für Alle?
Uns interessiert, was Du zu diesen Fragen denkst, der/die Du einen wichtigen Teil Deines Lebens an diesem eigenartigen Ort verbracht hast oder immer noch verbringst. Vielleicht fallen Dir ein paar Zeilen dazu ein: über enttäuschte oder erfüllte Erwartungen, über den Unterschied von damals und heute, über Alternativen, über eine andere Zukunft und welche Rolle die Uni beim Streit um diese spielen könnte. Kurzum, was bedeutet die Uni für Dich? Warum bist Du dortgeblieben – oder gegangen?
Wir würden uns über eine Antwort per Mail freuen, die wir in der Rubrik »Kleine Anfrage« unter Deinem Namen oder auf Wunsch anonym veröffentlichen würden.
Mit schönen Grüßen
diskus
Meine Beziehung zur Universität war durch Missverständnisse geprägt und sie hat auch nicht gehalten. Als ich 1961 bei der Abiturfeier gefragt wurde, was ich studieren wolle, antwortete ich: Geisteswissenschaften. Hätte man sich nach dem von mir ins Auge gefassten Abschluss erkundigt, hätte ich wie das durchgeknallte junge Mädchen in Ionescos Stück »Die Unterrichtsstunde« vor Begeisterung errötend geantwortet: das doctorat total. Unter der Universität stellte ich mir einen Ort vor, wo mit Blick auf das Ganze geforscht wurde. Jede Spezifikation, also jedes eigentliche Forschen, wäre ein Abstrich an dieser Absicht gewesen. Nachdenken war das richtige Programm und so kam ich, lange bevor ich das merkte – ich hielt es immer noch für Forschen –, in ein permanentes Nachdenken, schließlich über das Denken. Nicht mit der Uni, die mich sehr bald als sonderbar ausschied, habe ich eine Forschungseinheit gebildet, sondern mit dem zu entziffernden Text und dem Schreiben. Sehr viel später konnte ich ausgerechnet im Schulunterricht an meine ursprünglichen Vorstellungen vom Studium generale anknüpfen, vielleicht, weil der Sinn des Lernens und die Nutzlosigkeit des Wissens hier noch so nahe beieinander sind und die sokratische Identität von Kapieren und Konstruieren mit Händen zu greifen ist. An die Universität denke ich jetzt, wo sich die Frage nach einer politischen Position stellt, gleichwohl mit einer gewissen Sehnsucht als an einen möglichen Ort für gemeinsames Nachdenken, weniger über das, was wir als Linke tun wollen, als vielmehr über das, was links jetzt, in diesem fürchterlichen Augenblick, heißt.
Ilse Bindseil
Wunden, Verwunderungen, Wunder – Kritische Wissenschaften nach Bologna
Als ich 2008 mein Studium aufnahm, hatte ich keine Ahnung von Bologna, von der Universität und ihren Strukturen, ich wusste nur, dass ich auf Bachelor studieren sollte, ins Ausland gehen sollte und dass Studiengebühren zwar scheiße waren, aber immerhin noch nicht so hoch wie in anderen Ländern. Auch 2008 lernte ich aber auch sehr schnell, was der Preis des Bachelorabschlusses war – nämlich ein durchgetaktetes Studium, das es kaum erlaubte, nicht in Regelstudienzeit abzuschließen geschweige denn auch noch ein Auslandsstudium zu bewerkstelligen und dass die Einführung der Studiengebühren durch und durch scheiße waren. Nicht alle Universitäten und Fachbereiche haben mit Blick auf die Ausgestaltung des Studienverlaufs so viele Freiräume bewahrt wie die Goethe-Universität. Wobei diese Freiräume inzwischen auch mehr und mehr von herausstechenden Einzelpersonen abhängen und institutionell lange nicht mehr so gewollt sind, wie vielleicht noch 2008. Als ich 2011 nach Frankfurt kam, war aber klar: Hier weht noch ein anderer Wind. Autonome Tutorien, »Kaffee, Kippe, Kommunismus« im Turm, klare Kante gegen Bologna und Vorträge im ivi. Es war wie eine Befreiung. Die Universität als Institution, als Ort zum Leben, Denken und Arbeiten hat mich von Beginn weg angezogen, in Frankfurt hat sie mich überwältigt. Wo sonst hätte ich mich hinwünschen sollen? Ich wollte bleiben. Und ich hatte die Möglichkeit zu bleiben und ich blieb. Bislang.
2025 bedeutet Universität (für mich) etwas ganz Anderes als 2008 oder 2011 und dies nicht nur, weil ich inzwischen promoviert und doch einigermaßen weit entfernt von meinen eigenen Studienzeiten bin und wir längst von Bockenheim ins Westend gezogen sind, sondern auch weil Bologna, Neoliberalisierung und Faschisierung heute ganz anders durchschlagen als noch vor wenigen Jahren. Vor zwei Jahren hätte ich auf die Frage, ob »kritische« Wissenschaft nicht auch ein Label zur Selbstvermarktung sei, vielleicht geantwortet, ja, das stimmt schon und dass mich der Opportunismus mancher Kolleg_innen, die mit dem Label hausieren gehen, ankotzt; heute bin ich von solchen Instrumentalisierungen zwar immer noch genervt, aber ich bin auch viel defensiver. Wenn die AfD und die Unionsparteien anfangen, Felder kritischer Wissensproduktion – wie etwa die Gender Studies – derart offensiv anzugehen, wie dies in den letzten Jahren und Monaten geschehen ist, beginne ich tatsächlich defensiver über etwas wie Wissenschaftsfreiheit und die Universität als progressiven Ort nachzudenken und ich wundere mich: Wundere mich über Kolleg_innen, die solche Anfeindungen immer noch weglächeln und die Reichweite dieser Angriffe nicht begreifen; wundere mich, dass immer nur über die »Verhältnisse in den USA« gesprochen wird und dabei so getan wird, als gäbe es in Europa keine »Cancel Culture« von rechts; wundere mich, dass manche immer noch denken, Wokeism (was ja mehr und mehr zum Synonym für kritische Wissenschaften wird) sei tatsächlich das Problem; wundere mich, dass angesichts der Studienbedingungen noch keine Revolte losgegangen ist; wundere mich auch, wie die systematische Unterfinanzierung der Hochschulen inzwischen normalisiert ist und es sogar akzeptiert wird, weitere finanzielle Einschnitte zugunsten der Aufrüstung in Kauf zu nehmen.
Aber ich sehe auch: Meine Verwunderungen schlagen nicht nur Wunden, irgendwo erinnern sie mich auch an die Wunder, die Universität als Ort vollbringen kann: Momente des Verstehens, die völlig neue Welten öffnen; Momente gemeinsamen Erkennens, Streitens und Diskutierens; Momente der Selbstzweckhaftigkeit. Ja, das ist eine verkitschte Vorstellung von Lernen und Erkenntnis, aber ich wünsche sie mir, diese Erfahrung, für so viele, wie irgend möglich.
Katharina Hoppe
Angesichts der vielfältigen Krisen und Bedrohungen scheint die Frage einer linken Studierendenzeitung recht seltsam, ob es für linke Akademiker_innen nicht eigentlich ganz gut läuft unter dem Label »kritisch«. Ich denke, dass diese Beobachtung etwas trifft, weil wir in einer besonderen historischen Situation sind, die viel mit der Niederlage der Arbeiterbewegung zu tun hat. Aber auch mit den gegenwärtigen multiplen Krisen, die neben autoritären Antworten auch die Möglichkeit von Kritik beinhaltet. Verallgemeinerungen sind schwierig, aber die kritischen, linken Akademiker_innen sind als Sozialcharaktere Produkt der Krise des Marxismus und des Erfolgs der Neuen Sozialen Bewegungen. Ich will an dieser Stelle nicht falsch verstanden werden, denn das heißt ausdrücklich nicht, dass die Fragen »des« Feminismus, »der« queer theory oder auch Ökologiebewegung gegenüber der Produktionsfixiertheit »des« Marxismus sekundär wären. Er ist in diesen Punkten berechtigterweise gescheitert. Vielmehr stellt sich die Frage, was von Kritischer Theorie und Marxismus noch übrig wäre, wenn es nicht diese Bewegungen gegeben hätte?
Vielleicht lässt sich die gegenwärtige Situation durch die seit den 90ern vollzogene Verzivilgesellschaftlichung der Linken und ihrer Hinwendung zu gramscianischen Politikkonzepten begreifen: Es wurde von Hegemonie gesprochen, die in den bürgerlichen Institutionen erlangt werden musste und radikaler Realpolitik. Das kann kritisiert werden, aber man darf nicht unterschätzen, was dank der Rosa-Luxemburg-Stiftung, in Teilen der Böll- und Böckler-Stiftung als auch der Selbstorganisation linker Wissenschaftler_ innen in Karrierenetzwerken wie der »Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung« gelungen ist: eine ansatzweise Etablierung kritischer Theorie(n) an den Universitäten vor dem Hintergrund einer sozialkonstruktivistischen Wende. Damit wurde aber auch etwas möglich, was zuvor Parteien und Gewerkschaften vorbehalten war und den Grundwiderspruch linker Akademiker_innen darstellt: Politisches Engagement, Leiden an und Unzufriedenheit mit der Gesellschaft in Einkommen umzumünzen. Wenngleich um den Preis von Selbstausbeutung und in fragwürdigen Beschäftigungsverhältnissen.
Es entstand eine neue, prekäre Subjektform, die ihr Spiegelbild in der linken akademischen Forschung findet, die um Fragen von Identität entlang der Achsen class, race and gender kreist: die des linken Studierenden und späteren kritischen Intellektuellen. Das darin Fragen der Macht zentral sind, ist nicht nur Ausdruck wissenschaftlicher Trends und gesellschaftlicher Widersprüche, sondern ebenso ein Spiegel der eigenen historischen Situation, in der es zu einer Identifikation mit dem kommt, was man eigentlich abzuschaffen versucht: Denn die Existenz hängt von der Umverteilung des gesellschaftlichen Mehrproduktes in die eigene Forschung ab, also politischer Macht. Folgte z. B. die ökonomische Grundausstattung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung noch recht klassisch dem Mäzenatentum, nimmt die weitere Institutsgeschichte die mittlerweile vorherrschende konformistische Einwerbung von Fördermitteln vorweg.
Doch auch die Universität als soziale Form änderte sich grundlegend. Viel zu selten wird die Universität als Teil gesellschaftlicher Widersprüche und als Lösungsform für die Krisen kapitalistischer Akkumulationsregime begriffen: In der Sozialform der Universität spiegelt sich spätestens mit der Gründung der Gesamthochschulen und dem Übergang zu den Massenuniversitäten in den 70ern, dass die Universität und die Ausdifferenzierung der Bildungslandschaft einen enormen Teil der Menschen kanalisierten, für die das Kapital keine Verwendung mehr hatte. Sie sind Teil eines neuen Akkumulationsregimes, das um immaterielle Arbeit kreist. In dieser Konstellation ist die Universität selbst ein zentrales Feld politischer Kämpfe und eine soziale Form, in der sich die Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft spiegeln. Sie ist – theoretisch wie praktisch – Reflexionsraum der Krisen des Neoliberalismus und zugleich ein Ort, an dem diese Krisen verwaltet und kanalisiert werden. Die sich dort einfindenden, hoffnungsvollen Adressat_innen aktivierender Sozialpolitik meinen, durch Bildung der Prekarität zu entgehen. Der Wahrheitskern des Bildungsversprechens materialisierte sich in einer anwachsenden Schicht mittlerer Angestellter, von Fachkräften und Ingenieur_innen. Zunehmend erwies sich das assoziierte Aufstiegsversprechen aber auch als illusorisch, ein Studienabschluss garantiert keinen Arbeitsplatz und hinterlässt im schlimmsten Fall nichts als einen Berg Schulden. Es sind nicht zuletzt diese Studierenden in Verbindung mit den die Universitäten umkreisenden Aktivist_innen der Neuen Sozialen Bewegungen, die seit den 90ern das Überleben kritischer Theorien ermöglichten. Ihnen muss die Relevanz von aufs Ganze zielender Gesellschaftskritik nicht erst von außen klargemacht werden: Sie fühlen sie, denn die Krisen ihrer Existenz brachten und bringen sie an die Hochschulen oder es sind die Erfahrungen an den Hochschulen, die zu Krisen führen. Das liegt nicht nur an den dort vorherrschenden problematischen Bedingungen, sondern auch linker Lehre scheint es wenigstens manchmal zu gelingen, einen Reflexionsprozess auszulösen.
Beizeiten fragt man sich als Dozierender jedoch, wie die komplexesten gesellschaftskritischen Inhalte verstanden, aber spurlos und ohne politische Konsequenzen an den Studierenden vorbeigehen können. Wahrscheinlich liegt das einerseits an dem Erfolg, dass kritische Ansätze Gegenstand der Fachwissenschaft und abstrakte Fachinhalte sind. Aber damit auch zu Prüfungsinhalten wurden. Dies produziert Situationen, die bizarrer nicht sein könnten: Linke Akademiker_innen lassen von Versagens- und Prüfungsängsten gezeichnete, teils den Tränen nahe Studierende die Grundprobleme und Krisenhaftigkeit der kapitalistischen Gesellschaft erläutern, nur um ihnen anschließend mitzuteilen, dass sie leider wieder nicht die Subjektkritik bei Adorno und Butler adäquat entwickeln konnten, also durchgefallen sind. Das eigene schlechte Gewissen lässt sich mittels der karrierebegleitenden sozialen Distinktion bewältigen, wenn man sich mit den kritischen Kolleg_innen darüber austauscht, dass die Studis wahlweise immer inkompetenter oder unverschämter werden. Man wird dabei selbst irre an den institutionellen Anforderungen, entweder immer wieder zwei Augen zuzudrücken, und Menschen einen Abschluss zu ermöglichen, die zu der damit zusammenhängenden Tätigkeit einfach nicht qualifiziert sind oder als Agent der Gesellschaft die notwendige Selektion vorzunehmen und die Studierenden zwar hoffentlich nicht ins Verderben, aber mindestens in die Nachprüfung zu schicken. So ist die Lebensweise linker Akademiker_innen auf bizarre Art und Weise zusammengesetzt.
Für einige wenige bedeutet die Universität aber das, was mit selbstorganisierten Öffentlichkeiten verbunden wird: Revolutionäre Praxis als Umarbeitung der eigenen Selbst- und Weltwahrnehmung. Sie profitieren davon, dass Studierender- und Mitarbeiter_innenstatus anders ineinander übergehen als zu Zeiten, in denen man Leibeigene_r der Professoren war. Am Beispiel autonomer Tutorien und studentischer Ringvorlesungen wird dies deutlich: Weil mit den angebotenen Lehrinhalten die eigenen Fragen nicht angemessen bewältigt, die für die angestrebte wissenschaftliche Karriere oder politische Praxis erforderlichen Inhalte nicht angeeignet werden können, werden Mittel akquiriert, die die ersten Schritte der sich bereits im Larvenstadium befindlichen linken Akademiker_in ermöglichen. Eingeübt wird damit, was die Personen für zukünftige Arbeitgeber interessant macht: Das in dieser selbstorganisierten Forschung und Lehre erworbene Wissen wird zwar selten formal anerkannt, aber häufig trotzdem verwertet – sei es in kulturellen, journalistischen oder eben akademischen Kontexten; denn der Unterschied zwischen einem Forschungsantrag und QSL-Mitteln ist letztlich nur ein gradueller. In diesem Moment zeigt sich im Vorschein des linken Akademikers ein Vehikel der eigenen Reproduktion.
Diese Institutionalisierung bringt eine paradoxe Situation hervor: Einerseits ermöglicht sie die materielle Existenz einer akademischen Linken, andererseits bindet sie diese an die Logiken des akademischen Betriebs. Sie werden zu Objekten, ganz im Sinne Adornos, dass das, was sich über sie hinweg durchsetzt, sich durchsetzt vermöge ihrer eigenen Interessen. Drittmittelanträge, Forschungsprojekte, Karrierestrategien – all das bringt die intendierte Kritik in dem Maß in institutionelle Bahnen, wie sie sie ermöglicht. Das erklärt neben dem gesellschaftlichen Wandel, warum kritische Forschung seit den 90ern um Identitätskategorien kreist – diese Achsen sind nicht nur analytische Raster, sondern auch strategische Ressourcen, die den Zugang zu Fördergeldern und akademischer Aufmerksamkeit regulieren. Die Form kritischer Theorie, die an den Universitäten seit den 90ern Fuß gefasst hat und das Überleben von Gesellschaftskritik ermöglichte, dient daher oft weniger der praktischen Aufhebung der gesellschaftlichen Widersprüche als vielmehr ihrer Analyse – und auf der Seite der Dozierenden auch der (temporären) Sicherung der eigenen Position innerhalb des akademischen Feldes.
Die Subjekte bleiben davon nicht unbeschadet, denn es bedeutet, auch die destruktiven Seiten dieses Sozialcharakters zu reproduzieren: Existenzängste und Konkurrenzdruck werden zu bestimmenden Triebkräften, die den Alltag kritischer Akademikerinnen durchziehen. Die Skrupellosigkeit, mit der das Leiden an der Gesellschaft – das eigene wie das anderer – in Karriereschritte umgemünzt wird, ist kein Zufall, sondern eine systemische Notwendigkeit. Wer sich im prekären Universitätsbetrieb behaupten will, muss Taktiken der Kollaboration beherrschen, sich Netzwerken anschließen und Allianzen schmieden – aber stets mit der Option, sie aufzulösen, wenn sie nicht mehr nützlich sind. Loyalität ist situativ, Solidarität ein strategisches Mittel, das jederzeit geopfert werden kann, wenn es der eigenen Position nützt. In dieser Konstellation ist die Machtfrage, die die akademische Linke so intensiv verhandelt, nicht nur eine abstrakte theoretische Debatte, sondern eine ganz praktische Überlebensfrage: Es geht um die Verteilung von Stellen, Fördermitteln, publizistischer Aufmerksamkeit – also um die eigenen Überlebensbedingungen.
Angesichts dessen bleibt als Ziel linker Akademiker_innen nur die Arbeit an der eigenen Abschaffung, was gleichbedeutend ist mit der Aufhebung ihrer gesellschaftlichen Grundlagen. Denn anders als die Arbeiterbewegung, die die Machtfrage in der Kontrolle über Produktionsmittel verortete, ist die akademische Linke gezwungen, ihre Macht über Diskurse zu erkämpfen. Diese Diskurshoheit ist jedoch immer fragil und stets bedroht in ihrer Verfügungsgewalt über einen Teil des gesellschaftlichen Mehrprodukts. Die sich einstellende Panik angesichts der gegenwärtigen autoritären Wende ist Ausdruck dieses Widerspruchs: Sie hängt ab von selbst geschaffenen und äußeren Veränderungen, institutionellen Förderstrukturen, den widerspruchsvollen Bewegungsformen der kapitalistischen Gesellschaft und der Gunst einer bürgerlichen Öffentlichkeit, die mit dem Begriff »kritisch« häufig nicht mehr als ein Distinktionsmerkmal verbindet.
Anonymer Wissenschaftlicher Mitarbeiter
Wir, Alle und Ich
Die Frage, was die hiesige Linke an den Universitäten gegenwärtig tun kann, klingt ein wenig wie die danach, wie sich der deutsche Mittelschichtsnachwuchs eine Zukunft aufbauen kann. Diese Frage ist als interessengeleitete ja durchaus nachvollziehbar, aber keine, um deren Beantwortung sich nun ausgerechnet eine Linke kümmern müsste. Wenn dann noch gefragt wird: »Wozu fordern wir als Linke mehr Hochschulbildung für Alle?«, stellen sich mehr Anschlussfragen, als sich Antworten aufdrängten: Ja, wozu? Und von wem? Wer ist Alle? Und vor allem: Wer ist Wir?
Ich vermutlich nicht. Der Hochschul-Bildungs-Report 2020 vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft sagt: »Von 100 Grundschulkindern nehmen nur 21 ein Studium auf, von 100 Akademikerkindern schreiben sich hingegen durchschnittlich 74 an einer Hochschule ein. Im Hochschulsystem setzt sich diese Tendenz fort: Die Quote der Nichtakademikerkinder, die vom Studienanfang bis zum erfolgreichen Bachelorabschluss dabeibleiben, liegt bei 70 Prozent und ist damit um 15 Prozentpunkte geringer als die Quote der Akademikerkinder (mit 85 Prozent). Bis zum Masterabschluss summieren sich die Unterschiede, sodass von anfänglich 100 Nichtakademikerkindern letztlich nur acht den Masterabschluss erwerben. Von den Akademikerkindern sind es aber mit 45 rund sechsmal so viele. Bei der Promotion beträgt das Verhältnis bei den Nichtakademikerkindern schließlich insgesamt 1:100.« Der eine bin ich: Meine Mutter war Hausfrau, mein Vater Fabrikarbeiter in einem, äh!, recht großen Chemiewerk in Leverkusen.
Daher vermag ich kaum als vollwertiges Mitglied zu beantworten, ob die Mittelschichtsinsassen von »Distinktionsbedürfnissen« geplagt sind. Die Distinktion zur abgehängten Klasse ist gründlich vollzogen, und den zitierten Quoten zufolge ist man unter sich und seinesgleichen. Es wird wohl darum gehen, den einmal erreichten Stand zu sichern, und das geht nicht ohne »hohe Bildungsabschlüsse« und womöglich gar »Schlüsselkompetenztraining«, wenn schon die Eltern Akademiker waren. Insofern hatte ich es natürlich leichter, denn innerhalb meiner überblickbaren Großfamilie von etwa 60 bis 70 Leuten war ich der Einzige, der überhaupt das Abi gemacht hat. Da aber die akademische Linke lustig in der eigenen Bubble bubblet, darf sie auch Absurditäten wie »Fight Classism!« mit Edding an Universitätswände schreiben. Wer das Privileg genießt, dass ihm die Ordnung der Sachen weniger wichtig sein darf als die des Diskurses, muss keinen Klassenkampf führen, sondern fightet breitbeinig dafür (oder fordert, wieder mal, dazu auf), dass die da unten – die man aber, außer als Dienstleister, an der Uni, im eigenen Viertel und in den Kneipen, in die man selber geht, eh nicht zu Gesicht bekommt, – auch als Menschen angesprochen werden.
Neulich las ich in einem Text über einen jüngeren Hochschulprotest, man habe einen Stuhlkreis aufgestellt, um einen herrschaftsfreien Raum zu schaffen, offen für alle. Wäre die Studierendenschaft auch nur ansatzweise repräsentativ für die Gesellschaft, könnten jene, die es noch nicht wissen, erfahren, dass es einen substantiellen Unterschied bedeutet, wenn die Eltern von dem einen Studenten in zwei Monaten mehr verdienen als die von der anderen Studentin in einem Jahr. Sowie dass diese Differenz weder mit kreisförmig angeordneten Stühlen noch mit paternalistischen Versprechen auf angebliche Freiräume, in denen habermasianisch-herrschaftsfrei miteinander gesprochen wird, zu nivellieren ist.
Bleibt die Frage, weshalb ich immer noch »einen wichtigen Teil« des Lebens »an diesem eigenartigen Ort« verbringe. Einerseits kann ich nichts Anderes, und nichts zu tun brächte mich an weitaus eigenartigere Orte – und die kenne ich alle schon: sind total scheiße! Andererseits fordere ich auch etwas, nämlich wie einst Herr Rossi ein Stück vom Glück, gerne auch für alle. Ich hoffe halt, dass ich mit dem, was ich so tue, trotz aller Ideologie, die immer in derlei steckt, meinen kleinen Teil dazu beitragen kann, dass irgendwann irgendwie die verdammte Gesellschaft aufhört, zu sein, wie und was sie ist. Dafür gibt es ganz unterschiedliche Orte, meiner ist, biographisch zufällig und seltsamerweise der Wissenschaftsbetrieb geworden.
Dirk Braunstein
Auch hier keine linke Melancholie
Was wir heute als Universität ansprechen, ist nach der recht leidenschaftslosen Beschreibung Walter Reggs, der im notorischen Jahr 1968 als Rektor in Frankfurt ein prononcierter Antagonist linker Student_innen war, das Objekt einer seit Jahrzehnten unter Einsatz wechselnder Ideologeme im Mittel der »Bürokratisierung« verfolgten Strategie, dem Prinzip »expansive[r] Reform« entsprechend das »wissenschaftliche Potential« des Staates um dessen »Konkurrenzfähigkeit« willen zu steigern (Regg 2010: 30f.). Was wir Bologna-Prozess nennen, ist die vor dem Hintergrund einer Verlagerung des Konkurrenz-Wettbewerbs von der zwischenstaatlichen auf die Ebene globaler Wirtschafsräume betriebene Reorganisation dieser Bürokratisierungsarbeit gemäß der Imago eines Bildungsmarktes (European Higher Education Area): Student_innen werden in dieser Universität der neoliberalen Sequenz als fleißige Kundschaft für durch ein European Credit Transfer and Accumulation System (ECTS) zertifizierte Bildungswerte mobilisiert; Wissenschaftler_innen werden durch ein institutionenökonomisches Regime, das Kennzahl-Erfüllung in Forschung und Lehre honoriert, auf einen funktionalen Beitrag zur deutschen als Teil der europäischen Eigentumsmarktgesellschaft geeicht; und diejenigen, die alles am Laufen halten, werden dem privaten Inkrement externer Dienstleistungs-Kapitalisten überlassen. Wenn wir linke Politik einfachheitshalber als Ausdruck des Anspruchs der Aufhebung des Privateigentums verstehen, ist sie demnach sicher in der neoliberalen mehr noch als in der keynesianischen Sequenz der politisch-ökonomischen Objektifizierung der Universität, wenn ihre Träger_innen nicht von vornherein auf jeden akademischen ›Erfolg‹ verzichten wollen, nicht ohne Lüge möglich. Also tut, wer heute an Universitäten links zu sein beansprucht, vermutlich gut daran, Platon zu lesen. Denn der leistete bekanntlich gerade keine Apologie der Lüge als politischem Prinzip, wie sie den allfälligen Typus des akademischen Reserveleutnants rechtfertigen würde, sondern ließ in der Politeia Sokrates seinen Mitdiskutant_innen das Problem vorlegen, ob nicht um der Einrichtung eines wahrhaft gerechten, offensichtlich genossenschaftlich gedachten Regimes willen eine »einzige ehrenhafte Lüge« unvermeidlich sei (Platon 1972: 414b-c) – wobei der erste Maßstab der Angemessenheit einer Lüge für diesen Zweck neben ihrer Singularität wäre, dass sie keineswegs auf einer »Unwissenheit in der Seele« basieren dürfte (ebd.: 382a-c). So ließe jede an der neoliberalen Universität als links auftretende Praxis auf die Qualität der Lüge hin sich prüfen, die ihre allgemeine Richtung bestimmt: Wie tauglich für ein gerechteres als das Regime des Privateigentums ist z. B. die Vorstellung, dies sei der Ort to change the system from within? wie tauglich diejenige, sich hier bloß auf Zeit für die eigentlichen Kämpfe zu ertüchtigen? wie tauglich die der Nische, in der sich überleben lasse, bis es wieder etwas besser geworden ist? Als hilfreich, um beim Nachsinnen solcher und ähnlicher Fragen nicht versehentlich einer Unwissenheit in der Seele sich hinzugeben, könnte ein 1931 in der Zeitschrift Die Gesellschaft von einem aufmerksamen Platon-Leser publizierter Text sich erweisen. Um Walter Benjamins Bestimmung besagter Unwissenheit in Begriffen linker Melancholie, einer »Schwermut [...] aus Routine«, die als »gequälte Stupidität« sich textuell materialisiert (Benjamin 1972: 280 u. 282), auf die wenig ehrenhaften und keineswegs unvermeidlichen Lügen von Universitätsmenschen anzuwenden, wäre seine Kritik allerdings von der an einem lyrischen auf die an einem wissenschaftlichen Gestus umzustellen. Auch dann aber müssten linke Lügen von unbilliger Provenienz sich erkennen lassen an der Schicht, die sie besonders goutiert, weil die inzwischen massendemokratische »Mimikry« dieser Lügen (ebd.: 280) der Unwissenheit in den Seelen ihrer Träger_innen schmeichelt: jener »Zwischenschicht« von »Agenten, Journalisten, Personalchefs«, die »nur den Erfolg visiert«, obschon sie doch nur dessen Abklatsch einfährt (ebd.: 279), und so, zwar ganz und gar auf Konsum gestellt, doch hin und wieder gern (Forschungs-)Produkte sieht, die ihr die gehobene »Traurigkeit des Saturierten« zu prätendieren gestatten (ebd.: 283). Dem gegenüber stünde als die einzig unvermeidliche, ehrenhafte Lüge, die linker Politik an der neoliberalen (wie an der keynesianischen) Universität ihre allgemeine Richtung geben könnte, dass einstweilen die zukünftig befreite Menschheit einer politisch-ökonomisch nicht-objektifizierten Einrichtung dieses Namens bedürfe.
Literatur
BENJAMIN, WALTER (1972): Linke Melancholie. S. 279-283 in: ders., Gesammelte Schriften. Band III: Kritiken und Rezensionen. Herausgegeben von Hella Tiedemann-Bartels. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
PLATON (1972): Πολιτεία – Der Staat. Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch. Vierter Band. Herausgegeben von Gunther Eigler. Bearbeitet von Dietrich Kurz. Griechischer Text von Émile Chambry. Deutsche Übersetzung von Friedrich Schleiermacher. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
RÜEGG, WALTER (2010): Themen, Probleme, Erkenntnisse. S. 21-45 in: ders. (Hg.), Geschichte der Universität in Europa. Band IV: Vom zweiten Weltkrieg bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. München: C.H. Beck.
Peter Gostmann
Wenn ich über den Campus Bockenheim gehe, bekomme ich von Zeit zu Zeit das Gefühl, dass mich die Universität an diesem Ort in Form von Vergänglichkeit anweht. Nach dem hier die universitäre Meute vor Jahren ausgezogen ist, um den I.G. Farben Campus zu ihrem neuen Revier zu machen, scheinen die Gebäude – ganz gleich, ob in Benutzung oder leerstehend – nun dem eigenen Verfall überlassen zu werden. Während die neoliberale Massenuniversität Frankfurter Provenienz, eingehüllt in eine Architektur der Repräsentation von Macht und Geld, nun woanders stattfindet, stemmt sich hier gleichwohl ein engagiertes Sammelsurium an Menschen, Kollektiven und Initiativen gegen den Bockenheimer Abriss und Leerstand. Unter ihnen befinden sich auch solche, für die der architektonische Verfall sinnbildlich für einen viel tiefer gehenden Verlust steht: den Verlust einer spezifischen Idee von Universität und die ihr entsprechende Praxis akademischer Bildung, die mit dem Bockenheimer Campus und den hier in Forschung und Lehre wirkenden Akteuren geistes- und universitätsgeschichtlich eng verknüpft sind. Keine Angst, es soll hier keine Ruinenromantik betrieben, keine umherspukenden genialischen Geister beschworen werden – mit Adorno als »Ehrwürdigem des Gipfels« (vgl. Asterix und Obelix erobern Rom). Es soll auch nicht polemisiert werden, frei nach dem Motto früher war alles besser: die Lehrenden, die Studierenden, das Wissen. Es soll auch nicht moralisiert werden, wie verwerflich und verderblich es sei, die Universität in ein Hightech-Unternehmen zur Produktion hyperindividualisierter und erfolgshungriger Wissensarbeiter_innen, die einander wenig gönnen und viel verleiden, verwandelt zu haben. Ich will nur dies tun: mir die unterschiedlichen Weisen, mit jenem Verlust umzugehen, einmal genauer anschauen.
In seinem Aufsatz Trauer und Melancholie (1917) beschreibt Freud die Trauer als eine regelmäßige »Reaktion auf den Verlust einer geliebten Person oder einer an ihre Stelle gerückten Abstraktion wie Vaterland, Freiheit, ein Ideal usw. [...] Wir vertrauen darauf, daß sie nach einem gewissen Zeitraum überwunden sein wird, und halten eine Störung derselben für unzweckmäßig, selbst für schädlich.« Zu trauern bedeutet, sich innerhalb eines als schmerzhaft erfahrenen Prozesses Schritt für Schritt von einem geliebten und nun verlorenen Objekt, wie z. B. eine bestimmte Vorstellung und Erfahrung von akademischer Praxis, abzulösen. Gelingt die Trauerarbeit, d. h. gelingt es, den mit heftigen Schmerzen verbundenen Trauerprozess zu ertragen und ihn an einem Punkt auch abschließen zu können, führt dies häufig dazu, dass das Verlorene vergessen wird. Ohne an dieser Stelle einen ursächlichen oder unmittelbaren Zusammenhang behaupten zu wollen, kam mir bei der kleinen Anfrage des diskus recht schnell eine Frage in den Sinn: Kann der Erfolg linker Akademiker_innen und ihres kritischen Habitus‘ womöglich auch als Ausdruck eines gelungenen, eines abgeschlossenen Trauerprozesses gelesen werden?
Denke ich an die 2000er und den Beginn der 2010er Jahre wies zunächst eher wenig auf einen gelingenden Trauerprozess in der Zukunft hin. Der Widerstand gegen Bologna war noch (zu) groß, eine vielfältige, vielstimmige und breit getragene Kritik weigerte sich den neuen Zustand zu akzeptieren. Man stemmte sich gegen die neoliberale Transformation der universitären Lehre und der Studienstrukturen und gegen die politisch erzwungene Verpflichtung der Forschung auf Innovation und Performance. In zahlreichen Streitschriften, Stellungnahmen, in feuilletonistischen und wissenschaftlichen Artikeln und in Sammelbänden wurden die ökonomischen, die wirtschaftsund sozialpolitischen Hintergründe sowie die unvermeidlichen Folgen dieser Entwicklungen differenziert und umfänglich dargelegt (und nur ganz nebenbei auf die eigene Publikationsliste gleich miteingezahlt). Es wurde versucht, mit großen und kleinen Demonstrationen und Protestaktionen, den letztlich unausweichlichen Ausverkauf von Hochschulbildung und Forschung aufzuhalten oder zumindest zu vermindern. Und auch nachdem die ministeriale Wissenschaftsbürokratie ihre universitäre Agenda machtpolitisch durchgesetzt hat, bemühte man sich zunächst noch darum, den strikten Rahmen dessen, was von Bildungspolitik und Hochschuladministration erwartet und auferlegt wurde, kreativ zu unterlaufen.
Seit geraumer Zeit jedoch scheinen auch ›linke Akademiker_innen‹ den neuen Zustand – ob nur äußerlich oder schon in heimlicher Überzeugung – weitgehend akzeptiert und sich in der neuen Normalität des akademischen Alltags eingerichtet zu haben. Hierzu noch einmal Freud: »Die Realitätsprüfung hat gezeigt, daß das geliebte Objekt nicht mehr besteht, und erläßt nun die Aufforderung, alle Libido aus ihren Verknüpfungen mit diesem Objekt abzuziehen [...] Das Normale ist, daß der Respekt vor der Realität den Sieg behält.« Hie und da pflegt man in der Klasse der akademischen Angestellten noch den eigenen Widerstandsgeist, gibt mal ein kritisches Seminar zur Transformation der Hochschule, verweigert sich der von der Bildungsadministration vorgegebenen ›freiwilligen‹ Evaluationslogik, setzt einen kritischen Post bei Bluesky ab oder begibt sich in eher wohlmeinenden Abstand zum Konkurrenz- und Wettbewerbsprinzip – in dem sich selbst täuschenden Vertrauen, dass man der Verführungskraft des kompetitiven Karriere- und Förderungssystems widerstehen könnte; in dem naiven Glauben, dass man der politisch und nicht selten von Ordinarien gewollten Prekarisierung wissenschaftlicher Beschäftigungsverhältnisse rational und solidarisch begegnen könnte; oder in der verblendeten Überzeugung, dass wider des männerbündischen Sogs und des unter männlichen Wissenschaftlern verbreiteten Wunsches, die eigene Klugheit oder gar Genialität vorrangig ineinander zu spiegeln, Platz für weibliche Intellektualität – auch in der Zusammenarbeit mit Männern – wäre. Stattdessen scheint es mir weiterhin so: Männliche Wissenschaftler ersuchen voneinander Anerkennung, von ihren weiblichen Kolleg_innen hingegen verlangen sie Bewunderung – alles unbewusst natürlich.
Im Gros der emsigen und erfolgreichen Trauerarbeiter_innen gibt es aber auch noch die melancholic few, die in der Routine des universitären Normalbetriebs zwar auch gut funktionieren, schließlich haben sie die Veränderung der akademischen Realität ganz gut verstanden und praktisch antizipiert, aber einer wirklichen Akzeptanz der einschneidenden Veränderungen der Universität scheinen sie dennoch irgendwie auszuweichen. Diese Ambiguität zwischen Realitätsprinzip und Realitätsverweigerung mündet nicht selten in Melancholie – als Gemütszustand, nicht als psychologische Diagnose, insofern die Ablösung vom verlorenen Objekt nicht wirklich gelingen will. Der Verlust einer Idee und auch einer Realität universitärer Bildung und Forschung, die es so (wahrscheinlich) auch nie wirklich gegeben hat, wird in Form der Sehnsucht wahrgenommen. Melancholisch – und für manche auch ideologisch – fehlgeleitet sehne ich mich als Angehörige des Wissenschaftsbetriebs ...
... nach dem wissenschaftlichen Streit um die Sache, um angemessene Forschungsmethoden und neue Zugänge (gerne langwierig, anstrengend und außerhalb des eigenen ›Stamms‹), statt ausschließlich wohliger Borniertheit in der eigenen Theorie- und Forschungs-Bubble;
... nach einem Ringen um die Wahrheit, Bedeutung und den Sinn von Phänomenen statt der bloßen Erforschung von Wirkung(en), der permanenten Überhöhung des Innovationscharakters der eigenen Forschung und ihrer (häufig eher herbeiphantasierten) Relevanz- oder Signifikanzbehauptung;
... nach Theorie- und Lektürefreudigkeit sowie Sachlichkeit, statt des weit verbreiteten Auslebens des eigenen Unmittelbarkeitsfetischs, demnach Wissen vor allem dann relevant ist, wenn es mit der persönlichen Erfahrung direkt verknüpft werden kann, weshalb vielerorts eine eher anekdotenhafte und abgeflachte Form der Wissensvermittlung mit möglichst vielen digitalen Tools gewünscht und geliefert wird;
... nach langsamem und eigensinnigem Denken, das den Zweck der Urteilsfähigkeit, des Verstehens ins Zentrum stellt, statt der vornehmlichen Ausrichtung von Bildung und Forschung auf Praxis, was im Übrigen sowohl den Fokus des universitären Studiums auf die Entwicklung von beruflichen Handlungskompetenzen bezieht, als auch auf die Forderung nach unmittelbarer Übersetzbarkeit von Wissen in politische Positionen und politischen Aktivismus.
... nach einer wirklichen und umfassenden Anerkennung von denkenden Frauen und ihrem Begehren nach Wissen, statt einer weiterhin aktiv betriebenen Produktion und Reproduktion von Abwertungsstrategien, mit deren Hilfe man(n) die gefährlich erscheinende Begegnung mit begrifflich arbeitenden Frauen bewältigen kann.
Nun sind meine melancholischen Anteile dann doch so ausgeprägt, dass ich den Ehrwürdigen des Gipfels zum Abschluss noch einmal herabsteigen und in Sachen Bildung, Kritik und melancholisches Bewusstsein zu Wort kommen lassen will:
»Die Haltung der melancholischen Versenkung ist ja wohl die Verhaltensweise, an der überhaupt die philosophische Verhaltensweise sich gebildet hat [...]. Und dieses: das Eingedenken an das Vergangene, die Erinnerung in dem Phänomen selber, ist die Verhaltensweise oder [...] das Schema, nach dem Deutung sich vollzieht; ist aber zugleich auch, eben als eine solche Haltung der Schwermut, die in allem Geschichtlichen der Vergängnis innewird, eine kritische Haltung«
An diese Worte denke ich von Zeit zu Zeit beim Gang über den Bockenheimer Campus.
Ricarda Biemüller
Fin de l'université1
Die Studierendenproteste in Frankfurt trugen 2003, 2006 und 2009 die Forderung nach »freier Bildung für alle« auf die Straße. Anlass waren der kürzlich auf EU-Ebene beschlossene Bologna Prozess sowie die Rücknahme des Verbots von Studiengebühren in Deutschland. Damit sollte das Studium nicht nur massiv verschult werden, man musste nun auch dafür bezahlen. Natürlich war auch vor Bologna nicht alles rosig und die »Fordistische Massenuniversität« bot ausreichend Anlässe für Kritik. Trotzdem wollte man zukünftig nicht auf die selbstbestimmte Gestaltung des Studiums im Magisterstudiengang verzichten, welcher jetzt durch Bachelor und Master ersetzt werden sollte.2 Überdies wurde die Goethe-Uni zu einer Stiftungsuniversität, Bildung drohte zunehmend zu einem Service oder einer Ware zu werden.
Während die Studiengebühren in Hessen damals auf Druck der Studierendenbewegung hin erfolgreich abgeschafft werden konnten, hat die Bologna-Reform das Hochschulwesen hingegen fest im Griff. Ob die Universität auch heute ein Ort der »freien Bildung für alle« zu sein vermag, ist eine Frage, mit der sich auch heutige Studierende und Lehrende (wieder) auseinandersetzen möchten. Vielleicht kann die Erinnerung an den bundesweiten Bildungsstreik und ältere Studierendenproteste mit Inspiration, Beispielen, Analysen und Begriffen dienen, die heute neu aktualisiert werden können.
Gefordert hatten die Studierenden, die Universität nicht bloß als einen Ausbildungsort zu verstehen, welcher lediglich auf einen bestimmten Beruf und den Arbeitsmarkt vorbereitet. Hervorgehoben wurde vielmehr der Wert von Bildung als Selbstzweck. Dass die Uni Potenzial hat, einen Ort des Lernens, Ausprobierens und Vergesellschaftens darzustellen, sollte sich in Lernform und Lerninhalten widerspiegeln, aber auch strukturell abzeichnen.
Inhaltlich sollte nicht der Status Quo reproduziert, sondern vielmehr gelernt und eingeübt werden, diesen (selbst-)kritisch zu hinterfragen. Die Verbindung von Theorie und Praxis war dabei ebenso zentral wie das Betrachten von vermeintlich individuellen oder subjektiven Verhältnissen als systemische Zusammenhänge. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse an der Universität sollten überwunden und auch Wissensformen jenseits des Kanons behandelt werden. Überhaupt sollte Wissen nicht länger als unhinterfragbare Wahrheit gelten. Vielmehr sollte dessen Produziertheit und die gesellschaftlichen und sozialen Prozesse verstehbar werden, die dazu führen, dass eine bestimmte Wissensform als wahr angesehen wird.
Auf gesellschaftspolitischer Ebene wurde eine radikale Demokratisierung von Bildung angestrebt. Möglichst vielen sollte die Chance offenstehen, den eigenen Lerninteressen frei von fremdbestimmten Verwertungslogiken nachzugehen und sich dabei als ein politisches Individuum zu verstehen lernen. Sich zu einem Gesellschaftsmitglied heranzubilden, das die Verhältnisse aktiv mitgestaltet, sollte kein Privileg von Menschen sein, die es sich finanziell leisten können. Der Idee nach dient freie Bildung eher dem allgemeinen Zugang zu wichtigen und sich jedem Autoritarismus verweigernden Fähigkeiten wie Selbstwirksamkeit, Gestaltungswillen und Konfliktfähigkeit, was die Gesellschaft in Richtung Demokratisierung, Freiheit und Emanzipation von jeglicher Unterdrückung lenken kann.
Zugänglichkeit von Bildung bedeutet hier nicht, einfachere und reduzierte, qualitativ minderwertigere Inhalte zu verarbeiten. Zugänglichkeit gewährleisten heißt, so eine weitere zentrale Forderung der Studierendenproteste, sich Zeit und Raum zu nehmen für die Auseinandersetzung mit den Komplexitäten der Verhältnisse. Problematisiert wurde, dass mit dem Umzug der Uni weg aus Bockenheim auf den I.G. Farben Campus studentische und selbstverwaltete Räumen selten wurden und die »Politik der weißen Wand« am neuen Campus jeglichen Ausdruck von Freiheit und Kreativität verbietet. Gefordert wurden ausreichend große und barrierefreie Räume, wo sich Studierende jenseits von Kontroll-3 und Konsumzwängen zusammenfinden können zum Diskutieren, Erproben, Streiten, Kontroversen führen, sich demokratisch organisieren und für ihre Belange einsetzen.
Dass ständig Prüfungen absolvieren, parallel mehrere Hausarbeiten im Akkord anfertigen und ECTS-Punkte sammeln müssen ebenso wenig Zeit übriglässt wie nebenher Jobben – oder schlimmstenfalls all das auf einmal – wurde als eine heikle hochschulpolitische und gesellschaftliche Entwicklung benannt. Wenn das Studium in Deutschland bis auf die Semesterbeiträge heute auch »kostenlos« ist, heißt es nicht gleich, dass damit automatisch die Miete, das Essen und Studienmaterialien abgegolten sind. Ganz zu schweigen von den Kosten, die für die unabdingbare soziale und kulturelle Teilnahme anfallen. Gerade in immer teurer werdenden Studierendenstädten wie Frankfurt braucht es erschwingliche Möglichkeiten, während des Studiums – und darüber hinaus – am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Zeit für wichtige Bildungsprozesse haben bedeutet daher auch dringend: Mieten und Lebenshaltungskosten senken Bildung. Für alle. Und zwar umsonst!
Mona Mour
Ansatzpunkte für kritische Kommentare zur Entwicklung der Unis gibt es fast zu viele – allein, dass nun Lehraufträge für Kritische Theorie ausgeschrieben werden, so dass jene, die sich noch mit dergleichen befassen, in Konkurrenz um schlecht bezahlte Stellen gesetzt werden (und sich setzen), nur um der Uni dann einen Haufen Prüfungsleistungen quasi umsonst zu liefern, ist ein offensichtliches Zeichen dafür, wie heruntergekommen die Strukturen sind und was sie an subjektiver Anpassungsleistung fordern. Dass die Zustände in der Wissenschaftslandschaft miserabel sind, macht aber leider andere Arbeitsverhältnisse auch nicht besser.
Robin Mohan
Liebe Freund_innen vom diskus!
Ich beschäftige mich zur Zeit mit anderen Fragen (z. B. neue Weltordnung). Daher kann ich aus dem Stand keinen Beitrag zur Bildungsdebatte liefern. Das tut mir leid.
PS.: Ich habe von 1961 bis 1964 in Frankfurt Soziologie studiert und kann mich noch sehr gut an die linke Studentenzeitschrift diskus erinnern.
Frank Deppe