
In der Linken alles eher so mittel Klasse
Die Mittelschicht ist in der Gesellschaftsanalyse eine vage definierte Struktur. Fast alle bedienen sich ihrer: Linke, Sozialdemokratinnen, Liberale, Konservative, Faschistinnen. Mal ist sie ein Teil des Proletariats, mal wird sie als schwebende Schicht irgendwo zwischen Kapitalistinnen und Arbeiterinnen beschrieben. Gerne wird sie in romantisierenden Vorstellungen von Klassenkämpfen auch ganz unter den Tisch gekehrt. Dass sie auch in linken Kontexten zu wenig analysiert wird, hat einen einfachen Grund: Fast alle Linken sind selbst Teil dessen, was einige Theoretikerinnen des 20. Jahrhunderts mit verschiedenen Begriffen von Mittelklasse definierten. Die Selbstverleugnung und die Aneignung des Arbeiterinnen-Seins durch viele Linke entpuppten sich als Teil des Klassenkampfs von oben. Da diese Erkenntnis schmerzt, wurde sie nicht bloß vergessen, sondern sie wurde verdrängt.
Eine kurze Geschichte der PMC
Um den Charakter der Mittelklasse zu verstehen, bedienen wir uns bei Barbara und John Ehrenreichs Begriff der Professional-Managerial Class (PMC)1 und Nicos Poulantzas Konzept des neuen Kleinbürgertums2. Ehrenreich und Ehrenreich beschreiben die Herausbildung der PMC in den späten 1970er Jahren folgendermaßen: In der Anfangszeit des industriellen Kapitalismus war der Eigentümer einer Fabrik oft gleichzeitig ihr Finanzier, Chefingenieur und Manager. Jedoch verlangten Kapitalkonzentration und wachsende Monopolisierung inklusive komplexerer Arbeitsteilung zum Ende des 19. Jahrhunderts nach einer Differenzierung dieser Aufgaben. Eigentümer stellten Expertinnen für das Management, die Planung und die Rationalisierung des Produktionsprozesses an. Das Ergebnis: die »Funktion des Besitzers und des Managers [fällt auseinander] und [ist] auf eine Vielzahl von Personen übergegangen.« Mit dem Aufkommen des Massenkonsums am Anfang des 20. Jahrhunderts gesellte sich zum Produktionsmanagement auch das Konsum- und Marktmanagement hinzu: Durch Marketing, Design und die Bekämpfung von Konkurrentinnen sollen Bedürfnisse nach den produzierten Waren zum einen geweckt und zum weiteren nicht durch andere befriedigt werden.
Die Abhängigkeit von Staat und Kapital voneinander nahm im imperialistischen Zeitalter deutlich zu: Die Einzelkapitale wollten sich gegenüber der internationalen Konkurrenz stärken, gleichzeitig hing die Macht der staatlichen Akteurinnen immer stärker von der nationalen Wirtschaftskraft ab. Der Staat transformierte zum ideellen Gesamtkapitalisten. Die damit verbundene Expansion wurde von der PMC getragen: Im Erziehungswesen nahm sie als Lehrerinnen oder Sozialarbeiterinnen eine erzieherische Rolle ein und sorgte für die Reproduktion kapitalistischer Ideologie. In den bürokratischen, militärischen und juristischen Staatsapparaten überwachte und sicherte sie die gesellschaftliche Ordnung. Sie verwaltete öffentliche Güter, plante Infrastruktur und schützte den Kapitalismus vor seinen eigenen Widersprüchen, z.B. durch Sozialversicherungen (um den Klassenkampf zu befrieden) und Kartellrecht.
Mit den 70er Jahren begann mit der neoliberalen Wende dann, so Ehrenreich und Ehrenreich, die Konteroffensive des Kapitals gegen die PMC: Der Abbau des Wohlfahrtsstaats und die Austeritätspolitik führten zu weniger staatlich geförderten Arbeitsplätzen. Und durch Rationalisierungsmaßnahmen, Produktionsauslagerungen und den Umbau bürokratisch zentralisierter Monopolunternehmen in netzwerkförmige Strukturen standen auch die Stellen der mid-level professionals in den Unternehmen zur Disposition. Am Ende dieses Prozesses ist die PMC vermehrt in größeren bürokratischen Organisationen angestellt, wie etwa Krankenhäusern, Kanzleien oder Universitäten und verliert damit einen Zustand relativer Autonomie. Diese Einhegung der PMC bedeutet, dass ihre Mitglieder immer mehr zum Zahnrad in der Maschine werden. Ihre Arbeitsbedingungen gleichen sich dem managerial Teil der PMC in den großen Unternehmen an.
Die PMC als Klasse an sich
Etwa zur gleichen Zeit wie die Ehrenreichs spricht Nicos Poulantzas 1976 in seiner Beschreibung der Mittelklasse von der Herausbildung eines »neuen Kleinbürgertums«. Für Poulantzas sind nicht alle lohnabhängig Beschäftigten Proletarierinnen, weil er, zunächst auf ökonomischer Ebene, zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit unterscheidet3: »Produktive« Arbeit geschehe nur in der mehrwertschaffenden Warenproduktion (also der materiellen Produktion von Waren) und werde von Proletarierinnen verrichtet. Hier greift das von Marx beschriebene grundlegende kapitalistische Ausbeutungsverhältnis, der Mehrwert wird zur Kapitalakkumulation angeeignet. »Unproduktive« Arbeit hingegen erschaffe keinen Mehrwert, sondern sei dafür zuständig, dass der produzierte Mehrwert in der Zirkulationssphäre realisiert wird (die Produkte also verkauft werden können). Die Arbeit, die sich auf die Mehrwertrealisierung ausrichtet, hat in den letzten Jahrzehnten in den Ländern des globalen Nordens stark zugenommen. Als »unproduktiv« gelten nach Poulantzas auch Angestellte in den unmittelbaren (Behörden, Schulen, Universitäten, Ministerien etc.) und ideologischen (Medien, Kirchen etc.) Staatsapparaten – also jene, die die gesellschaftlichen Hintergrundbedingungen des Kapitalverhältnisses reproduzieren. Diejenigen, die Befehle, Vorgaben und Maßnahmen umsetzen und zur Verbreitung der zugehörigen Ideologie beitragen, sind in einer widersprüchlichen Klassenposition und deshalb Teil der PMC. Angestellte auf der untersten ausführenden Ebene dagegen, wie zum Beispiel Hausmeisterinnen, befinden sich in einer proletarischen Position innerhalb der öffentlichen Verwaltung. Sie sind ausgeschlossen von der »creation or execution of state policies and ideologies«4.
Das politische Kriterium von Poulantzas berücksichtigt die oben beschriebenen Stellungen des neuen Kleinbürgertums in der betrieblichen und gesellschaftlichen Arbeitsteilung (überwachend, erzieherisch etc.) zwischen dem Kapital und den Arbeiterinnen. Definiert wird die PMC nicht allein durch ihr (Nicht-)Eigentum an den Produktionsmitteln, wie die fundamentalen Klassen des Proletariats und der Kapitalistinnen, sondern durch ihre Funktion im kapitalistischen (Re-)Produktionsprozess. Ihr Status als Mittelklasse resultiert aus ihrer Position zwischen Kapital und Arbeit. Sie sind lohnabhängige Angestellte, die jedoch Herrschaft im weitesten Sinne über die Arbeiterinnen ausüben. Sie planen, überwachen und optimieren zum Beispiel als Vorarbeiterinnen, Ingenieurinnen oder Beraterinnen den Produktionsprozess und bestimmen mal direkter, mal indirekter über die Arbeit der Proletarierinnen. In der staatlichen Bürokratie tritt die PMC zum Beispiel in der Figur der Lehrerin erziehend und in der Sachbearbeiterin sanktionierend gegenüber dem Proletariat auf.
Als drittes Kriterium nennt Poulantzas ideologische Faktoren, mit denen er zwischen PMC und Arbeiterinnen unterscheidet. Wir halten es allerdings für plausibler, die materiellen Faktoren den ideologischen voranzustellen. Für die Analyse der Subjektivierung, die sich daraus ergibt, sowie der individuellen und kollektiven Strategien und letztlich der Wechselwirkungen mit anderen Akteurinnen und Strategien, setzen wir also eine Klasse voraus, deren Konstituierung als Klasse für sich wir erst im Anschluss nachweisen. Wir hoffen, dass unsere Gedankengänge so nachvollziehbar bleiben.
Subjektivierung der PMC
Welche Auswirkungen die Existenz einer Mittelklasse für die Gesellschaft hat, wird in der Perspektive der PMC-Angehörigen auf ihre eigene Arbeit deutlich und in den sich daraus ergebenden subjektiven Verhaltensimperativen, die von denen des Proletariats abweichen.
Die marx’schen Formeln der Mehrwertabschöpfung und der darauf aufbauenden Akkumulation beschreiben diesen Sachverhalt sowohl aus Sicht des einzelnen Arbeitsverhältnisses als auch aus Sicht der Gesamtbelegschaft adäquat: In einem kleinen Unternehmen, in dem alle dieselbe Tätigkeit ausüben, entspricht die Mehrwertabschöpfung bei jeder einzelnen Arbeiterin der gesamten Mehrwertabschöpfung geteilt durch die Anzahl der Arbeiterinnen. Auch bei komplexeren Produktionsketten gilt, dass sich in der Regel relativ genau planen lässt, wie viele Arbeiterinnen für welche Produktionsschritte zusätzlich oder weniger notwendig sind, um den Output um eine bestimmte Menge zu steigern oder zu senken. Und damit implizit, wie viel Mehrwert von wem abgeschöpft werden kann.
Die hier relevanten Eigenschaften proletarischer Arbeit – Standardisierbarkeit, Quantifizierbarkeit, Skalierbarkeit – können für PMC-Arbeit allerdings schon definitorisch nicht gelten. Dass durch diese Arbeit ein Streik verhindert oder ein Konkurrent vom Markt verdrängt wurde, lässt sich nicht halbieren oder verdoppeln. Und nicht nur das. Das Unternehmen kann ohne das Spezialwissen der PMC selbst nicht einmal wissen, ob und gegebenenfalls welchen Anteil einzelne Angestellte an der Verhinderung des Streiks hatten und ob es überhaupt zu einem Streik gekommen wäre. Oder grundlegender: ob es einen bestimmten Job überhaupt braucht, ob den auch jemand anderes machen könnte und wenn ja, nach welchen Kriterien man diesen besetzen könnte. Ob die Arbeit der PMC für ihr jeweiliges Unternehmen also sinnhaft ist, ist, anders als bei den Proletarierinnen, intransparent. Die dazu nötige Urteilskraft hat, wenn überhaupt jemand, die Beschäftigte selbst.
Die PMC-Angestellte verfügt durch ihren Status als Spezialistin über eine Machtressource und damit verbunden notwendigerweise über einen gewissen Grad an Autonomie gegenüber ihrer Chefin. Vor dem Hintergrund des Interessengegensatzes zwischen beiden impliziert das ein Misstrauen seitens der Chefin, weil diese die Qualität der Angestellten nicht messen kann, ohne angewiesen zu sein auf deren von Eigeninteressen geleiteten Bewertungen. Und es impliziert den Versuch der Angestellten, gegen ein solches Misstrauen anzuarbeiten, weil es die Verwertbarkeit ihrer Arbeitskraft senkt. In der Lohnarbeit der PMC-Angestellten verschiebt sich dadurch das Maximierungsstreben von proletarischen Interessen (möglichst geringe Arbeitszeit, möglichst hoher Lohn) zu einem Streben nach Prestige. Prestige meint Anerkennung, Wertschätzung und Vertrauen nicht nur durch die Chefin, sondern auch durch die Kolleginnen. Einerseits wegen der intersubjektiven Funktionsweise (man schätzt auch diejenige eher, die von einer geschätzten Person geschätzt wird) und andererseits, weil die heutige Kollegin morgen die eigene Chefin sein könnte. Das Streben nach Prestige dominiert das unmittelbare Streben nach Lohnmaximierung, weil sich in einer Gesellschaft mit konstituierter Mittelklasse Löhne, Beförderungen, Machtressourcen und Autonomie innerhalb der PMC aus dem Prestige ableiten.
Bürokratische Akkumulation
Als individuelle Handlungsstrategie ergibt sich aus dem Prestigestreben zunächst die Darstellung des eigenen Arbeitsprozesses: Je weniger die Menge und Qualität der Arbeitsleistung von außen beurteilt werden können, desto leichter ist es, durch demonstratives Handeln das eigene Arbeitsethos besonders protestantisch erscheinen zu lassen. Und auch wenn aufgrund des oben beschriebenen Spezialistinnenwissens und der damit verbundenen relativen Autonomie gegenüber dem Kapital die Konkurrenz zwischen den Angestellten der PMC geringer ist als die zwischen den Arbeiterinnen, ist sie nicht abwesend. Sie sorgt dafür, dass aus der Möglichkeit, eigene Arbeit darzustellen, zu überhöhen und zu simulieren, eine Notwendigkeit wird. »Die Darstellung des Outputs ersetzt den Output«5, beobachtet Mark Fisher.
Mit kooperativen Strategien lässt sich die aufgrund des Interessengegensatzes zwischen Angestellter und Chefin nicht überbrückbare Intransparenz der Arbeit zumindest verkleinern. Hat die Chefin das Gefühl, dass eine Angestellte ihr oder ihrem gemeinsamen Unternehmen gegenüber loyal ist, muss sie die konkrete Tätigkeit nicht durchschauen, um darauf vertrauen zu können, dass sie in adäquater Qualität verrichtet wird. Umgekehrt profitiert die Angestellte, wie bereits dargestellt, von dem ihr entgegengebrachten Vertrauen. In der Summe ergeben sich Rituale, die Vertrauen und Loyalität herstellen. Oder diese zumindest simulieren, denn es reicht ja bereits, dass die andere Seite von der eigenen Loyalität beziehungsweise des In-Sie-Vertrauens ausgeht. Solche Rituale sind etwa sogenanntes Networking und die Kultivierung eines Arbeitgeberpatriotismus als Ausweis der gemeinsamen Loyalität. Wichtig ist, dass die für die Erläuterung herangezogene analytische Trennung zwischen Angestellter und Chefin in der Realität meistens verschwimmt, weil es in größeren Bürokratien sehr viele hierarchische Ebenen gibt, die (weitgehend) der PMC zugerechnet werden müssen – letztendlich stellen Loyalität und Vertrauen Nuancen desselben dar, weshalb wir den Oberbegriff Prestige gewählt haben. Ein sehr wesentlicher Bestandteil der Prestigemaximierung ist außerdem das Anhäufen von Untergebenen.
Die PMC ist natürlich nicht die einzige Gruppe, die sich strategisch zu dem konstitutiven Problem der intransparenten Arbeitsleistung verhält: Das Kapital versucht, die Intransparenz zu überwinden oder zumindest zu verkleinern, um die Angestellten der PMC denselben Rationalisierungen zu unterwerfen wie das Proletariat. Das kann die im vorigen Absatz beschriebene Förderung von Loyalität als Ersatz für Transparenz bedeuten, oder die nachträgliche Herstellung von Transparenz durch Vergleichbarkeit (Standardisierung, Evaluierung, Akkreditierung) insbesondere durch das Bildungswesen mit seinen formalisierten Abschlüssen und standardisierten Notenvergaben.
Hieraus ergeben sich mehrere Probleme: Erstens sind die bürokratischen Konstrukte, die Transparenz schaffen sollen, selbst notwendigerweise auf Arbeit der PMC angewiesen und damit für das Kapital Teil des Problems, das sie eigentlich adressieren sollen – letztlich befördert das Kapital PMCs also zu Gatekeeperinnen. Zweitens stößt die Transparenzschaffung schon definitorisch an Grenzen bei dem widersprüchlichen Versuch, Unquantifizierbares quantifizierbar zu machen. So ist die Standardisierung häufig nicht nur aus Sicht des konzeptionellen Zwecks der jeweiligen PMC-Tätigkeit überflüssig oder unmöglich, sondern läuft ihr sogar entgegen. So kommen etwa erziehungswissenschaftliche Studien selbst zu dem Schluss, dass die Staatsbürgerbildung und das ökonomisch verwertbare Wissen objektiv darunter leiden, dass Bildung standardisiert messbar werden soll. Drittens würden Tests, Vorgaben, Evaluationen und dergleichen nur dann Transparenz schaffen, wenn sie Teil einer passiven Beobachtung des ›authentischen‹ Arbeitsprozesses wären. In aller Regel beeinflussen sie aber den Arbeitsprozess und die ›beobachtete‹ PMC richtet ihr Handeln strategisch auf sie aus – die bereits oben beschriebene Tendenz zu demonstrativem Arbeiten wird in Richtung eines tatsächlich demonstrativen Arbeitens verstärkt, gemäß den mit der Beobachtung verbundenen Erwartungserwartungen. Viertens wird die Beobachtung seitens der PMC als Misstrauen gegenüber der eigenen Arbeit gewertet und reizt damit eine Verschiebung von Loyalität hin zu dargestellter Loyalität an.
Die hier beschriebenen Varianten strategischen Handelns entlang des um die Intransparenz der Arbeit ausgerichteten Interessengegensatzes zwischen Kapital und PMC summieren sich nicht nur auf. Sie überlagern sich, verschwimmen, bringen Gegenstrategien hervor und erzeugen ein Amalgam aus kooperativem und konkurrierendem strategischen Handeln. Der wesentliche gemeinsame Nenner ist, dass sich der Anteil der im marxistischen Sinne unproduktiven, aber zur Reproduktion der gesellschaftlichen Bedingungen notwendigen Arbeit stetig verkleinert gegenüber einer Arbeit, die nur aus der Binnensicht der sie hervorbringenden bürokratischen Strukturen notwendig ist6 und sich dadurch tendenziell immer weiter vergrößert. Analog zum marxistischen Begriff des ›automatischen Subjekts‹ als Beschreibung des Kapitals, das quasi wie ein Akteur gemäß dem eigenen Imperativ (Kapitalakkumulation) handelt, könnte man von einem ›automatischen Subjekt‹ als Beschreibung der inhärenten Expansion der Bürokratie sprechen.
Ideologische Implikationen und das Klassenbewusstsein der PMC
Die Arbeit der PMC und deren Umfeld formt das Bewusstsein derjenigen, die ihr angehören. Dies hat verschiedene ideologische Implikationen. Wir stellen zunächst jene vor, aus denen sich das gemeinsame Klassenbewusstsein der PMC formt. Man muss dabei im Hinterkopf behalten, dass Kapital und Proletariat in dem Zeitraum, in dem sich die PMC herausbildet, als Klassen bereits konstituiert sind. Dabei ist das Proletariat der wichtigere Referenzrahmen, weil die PMC in ihrem Ausdehnungsprozess notwendigerweise aus der Masse der Bevölkerung Nachschub rekrutieren muss.
Die PMC ist in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung hierarchisch tendenziell oberhalb des Proletariats angesiedelt, verfügt über einen höheren Grad an Autonomie gegenüber dem Kapital und verdient dadurch besser. Eigentlich müsste sie also ein schlechtes Gewissen gegenüber den Arbeiterinnen haben. Doch dank einer Ideologie der Ungleichheit, die eine intellektuelle Überlegenheit annimmt, bleibt dies aus. Ideengeschichtlich knüpft diese Ideologie an die Abspaltung von Körper und Geist an, die empirisch am höheren Anteil mentaler Arbeit festgemacht wird, die für Verwalten, Managen, Erziehen, Überwachen und vor allem Repräsentieren erforderlich ist, sowie an der Notwendigkeit sogenannter höherer Bildung für diese Tätigkeiten. Auf der anderen Seite affirmiert die PMC die proletarische Haltung gegenüber dem Kapital, weil ihr Interessengegensatz ähnlich gelagert ist. Diese Gleichzeitigkeit eines intellektuellen Überlegenheitsgefühls nach unten und einer Missgunst nach oben erzwingt meritokratische Vorstellungen: Die eigene Privilegierung ist Ausweis von in formalen Bildungsabschlüssen messbarem Fleiß, das Privileg des Kapitalistendaseins aber ist das unverdiente Glück in der Geburtslotterie.
Der Bewertungsmaßstab für die eigene Arbeit wird damit zum Maßstab für die gesamte Gesellschaft, weshalb man sich nur noch mit anderen Angehörigen der PMC umgeben möchten. Verstärkt wird dieser Effekt dadurch, dass der subjektive Imperativ zur Prestigeakkumulation als Katalysator für eigene habituelle Codes fungiert, die zu Abgrenzungen gegenüber jenen führen, die sie nicht beherrschen. Damit unterminiert die PMC ihren eigenen meritokratischen Anspruch, weil die (habituellen) Abgrenzungen und Ausschlüsse im ebenfalls von der PMC getragenen Bildungswesen reproduziert werden. So wird die PMC zur Gatekeeperin ihrer selbst und die Universität zu ihrem wichtigsten Reproduktionsort. Durch die meritokratische Brille erscheinen Arbeiterinnen als Kinder, die es (noch) nicht geschafft haben in die Ränge der PMC aufzusteigen. Diese paternalistische Sichtweise hängt auch damit zusammen, dass die PMC ihnen als anleitend, erziehend, erklärend und gegebenenfalls sanktionierend gegenübertritt, oder in der bürokratisierten Arbeiterinnenbewegung als Funktionärin für sie spricht.
Ein weiterer Aspekt des Bewusstseins, das die PMC zu einer Klasse formt, ist die Vorstellung, gesellschaftstragend zu sein. Die Vorstellung ist materiell begründet, weil ein überproportionaler Anteil der PMC in staatlichen und zivilgesellschaftlichen Institutionen angestellt ist, und wird verstärkt durch den Arbeitgeberpatriotismus, den die Prestigeakkumulation hervorbringt. Selbst innerhalb der Privatwirtschaft ist die PMC staatsnäher als ihre proletarischen Kolleginnen – sie sind es, die beispielsweise die staatlichen Vorgaben in Betriebsabläufe übersetzen, an Märkten interagieren oder aus Bildungsinstitutionen und Jobcentern neue Kolleginnen rekrutieren. Historisch speist sich das gesellschaftstragende und -erhaltende Selbstverständnis zudem aus ihrer Rolle der den Klassenkompromiss in der fordistischen Ära umsetzenden und garantierenden Klasse.
Zu den weiteren ideologischen Aspekten7, die nicht konstitutiv für die PMC als Klasse für sich sind, sondern Folgen ihrer Konstitution, zählt die PMC-spezifische Form politischer Öffentlichkeit. Die Arbeitssubjektivität der PMC, in der das Darstellen relevanter ist als das Dargestellte, wird als Ideologie erweitert auf alle Lebensbereiche, insbesondere auf die Vorstellung, wie gesellschaftliche Auseinandersetzungen auszusehen haben. In einer Gesellschaft, in der die PMC erstens alleinig medienschaffend und zweitens die wesentliche Adressatin der Öffentlichkeitsproduktion ist, bestimmt diese Logik den Diskurs. Damit versuchen wir, die Beobachtung des Spektakels8 um eine materialistische Fundierung zu ergänzen. Grob zusammengefasst beschreibt Spektakel die Tendenz, dass Bewegungen, Kämpfe und Affekte durch deren symbolische Repräsentation ersetzt werden, die die Einzelnen von Gestalterinnen des gesellschaftlichen Prozesses zu dessen Konsumentinnen degradiert.
Linke PMCs und PMCs in der Linken
Die Versuche des Kapitals, das Spezialwissen der PMC zu entwerten und sie in ihrer Autonomie einzuschränken, wird als vermeintliche Proletarisierung ihrer Angehörigen erlebt und bringt viele von ihnen in linke Organisationen. Das bedeutet aber nicht gleich, dass diese Gruppe automatisch proletarisch wird und sich dem Klassenkampf zuwendet. Vielmehr speist sich ihr Unmut daraus, jetzt Jobs machen oder Tätigkeiten ausüben zu müssen, die sie als unter ihrer Würde wahrnehmen: Ihre Bildung, ihr ›Talent‹ und ihr Erfolg in der (Hoch-)Schule berechtigen sie doch eigentlich zu anderen Tätigkeiten in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung wie z.B. Schreiben, Kreativsein, Planen, Entscheiden und Lenken. Der proletarisierte Teil der PMC schaut sich konstant nach besseren Berufen um, während die proletarische Arbeiterin weiß, dass sie ihren aktuellen oder andere Scheiß-Jobs wahrscheinlich ihr Leben lang ausüben muss. Ein Teil dieser absteigenden PMC organisiert sich zunehmend in Gewerkschaften oder Parteien und fordert bessere Arbeitsbedingungen und sozialstaatliche Expansion. Ihre Forderungen beruhen zum Teil darauf, dass sie sich für eine Öffnung der staatlichen und unternehmerischen Bürokratien einsetzen, damit ihre Karrieren weitergehen können und sie eben nicht, wie das Proletariat, für unbestimmte Zeit einen Scheiß-Job ausüben müssen. Dan Evans sieht hier die Gefahr eines »instrumentellen Kollektivismus«, der unter dem Vorwand gemeinsamer Ziele (bessere Löhne, mehr Sozialstaat) die privilegierte Rolle der PMC in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung erneuert, statt sie zu überwinden.9
Die politisch-strategischen Ableitungen für Linke in der PMC aus der Erkenntnis, dass nicht nur ein Klassenwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit, sondern auch zwischen der PMC und Kapital auf der einen und PMC und Arbeiterinnenklasse auf der anderen bestehe, diskutierten Ehrenreich und Ehrenreich bereits 1977.10 Im Zentrum steht bei den Ehrenreichs eine Linke, die sich stets auf Seiten aller Subalternen sieht, obwohl sie doch vor allem einer neuen Mittelklasse mit eigenen Interessen entspringt. Sie machten die Beobachtung, dass sich die neue Linke in den USA der 1960er Jahre in einer Bewusstwerdung dieses Widerspruchs befand. Viele Linke begriffen, dass sie gar nicht Teil der Arbeiterinnenklasse waren und beantworteten dies mit etwas, das die Ehrenreichs als negatives Klassenbewusstsein fassten. Es folgten daraus zwei politische Strategien: Erstens die New Communist Movement Strategie der Selbstproletarisierung der PMC-Linken, die auch in Deutschland von den K-Gruppen praktiziert wurde. Im Stil früherer Revolutionärinnen der 1930er Jahre versuchten sich Linke als Agitatorinnen unter die Arbeiterinnen in der Industrie zu mischen und zu Streiks aufzurufen. Zweitens die Radicals-In-The-Professions Strategie, die eine Umnutzung bestimmter Professionen (Psychologinnen, Lehrerinnen, Anwältinnen, Medizinerinnen, Sozialarbeiterinnen etc.) für radikale Bewegungen wie Black Power auf der praktischen Seite und die Entmystifizierung ihrer Berufe auf der ideologischen Seite anstrebte. Ähnliche Strategien waren die Kinderladenbewegung, die kritische Psychologie und andere Formen der Hilfe zur Selbsthilfe. Beide Ansätze, sowohl die Selbstproletarisierung als auch die Transformation bestehender Professionen, scheiterten am Wegbrechen gewerkschaftlicher und gesellschaftlicher Bewegung, der fehlenden Konsequenz der PMC-Linken in ihrer Selbstkritik sowie der neoliberalen Konterrevolution.
Heute, 45 Jahre später, muss in der deutschen Linken zunächst ein Klassenverständnis aktualisiert werden, das sich bis dato auf die Differenzierung der Arbeiterinnenklasse (hochqualifizierte, mittelqualifizierte, prekarisierte) beschränkt, oder die Diversifizierung der Arbeitswelt in der Theorie schlicht dogmatisch ausblendet und die spezifische Funktion der PMC mitsamt ihrer eigenen Situiertheit nicht erkennt. Wir meinen, dass die PMCAnalyse zur materialistischen Fundierung vieler Phänomene des heutigen Kapitalismus beitragen kann und daraus neue strategische Ableitungen für die radikale Linke ermöglicht.
Große Teile der (radikalen) Linken gehören heute zur PMC. Sie beanspruchen, die (eigentlichen) Interessen aller zu vertreten. Die reale Basis für diese Repräsentation wird jedoch zunehmend kleiner, da Arbeiterinnen und traditionelles Kleinbürgertum sich der parlamentarischen Politik entweder entziehen, Ressentiments gegen die PMC pflegen oder zunehmend illiberale Tendenzen aufweisen, die mit den Werten der PMC nicht übereinstimmen. Das Resultat ist, dass parallel zur zunehmenden Darstellung ihres ökonomischen Outputs die Darstellung von Politik in (sozialen) Medien für die PMC zur vorherrschenden Praxisform wird und zum Teil auch Grundlage der eigenen politischen Karriere. Das sog. Virtue-Signaling (oder Virtue-Hoarding, wie Catherine Liu es nennt11) ist für PMC-Linke deshalb das ›Brot und Butter‹ ihrer politischen Arbeit. Eine Karriere in der Linken endet oft in einer Anstellung in Medien, Parteiund Gewerkschaftsbürokratien, Behörden und NGOs und die dafür notwendige Prestigeakkumulation nimmt die Form des Aufbaus einer Aktivistinnen-Identität an:
»[...] for it is only the new petty bourgeoisie, with their fixation on getting ahead, with climbing ladders, that would even think of treating socialism and ›activism‹ as a potential career site, a source of social mobility. [...] the left has been so deeply influenced by the professional-managerial class [...] ›left politics‹ has become another field on which aspirational people compete for status and upward mobility«.12
Ähnlich berichteten auch Ex-Aktivistinnen der autonomen antifa [w] in der Reflektion ihrer Organisation:
»Wer die[se] Organisierungsform überstanden hat, [ist] für den Arbeitsmarkt perfekt vorbereitet: Angeeignet wurden sich Konkurrenzfähigkeit, Durchsetzungsvermögen, Teamfähigkeit, Organisierungskompetenz, Leistungsfähigkeit, projektförmiges Arbeiten (Kampagnenarbeit), Kreativität, die Akzeptanz einer nicht vorhandenen Trennung von Arbeit und Freizeit sowie das in Kauf nehmen schlechter (keiner) Bezahlung.«13
Andere selbsternannte revolutionäre, antiimperialistische und rote Linke bleiben dagegen scheinbar der Strategie des New Communist Movement treu: Um ›authentisch‹ Klassenkampf betreiben zu können, geben sie vor, weitestgehend Teil der Arbeiterselbstorganisation zu sein und betreiben somit Selbstbeweihräucherung in einer Art Proletarierinnen-Rollenspiel.
Was tun?
Die Erkenntnis des Spektakelcharakters politischer Praxis und ein daraus resultierendes (negatives) Klassenbewusstsein der PMC-Linken wäre ein notwendiger Ausgangspunkt, um Handlungsfähigkeit zu erlangen. Wie ein Modus jenseits des Spektakels gelingen kann, ist eine offene Frage. Ein erster Schritt wäre die Kritik von Praxisformen, die das Spektakel affirmieren, und die Anerkennung der widersprüchlichen Position der PMC-Linken. Allianzbildung mit dem Proletariat ist durch den doppelten Klassenantagonismus zu Kapital und Arbeiterinnenklasse zugleich objektives Eigeninteresse und Verrat der Klassenposition. Die hegemoniale neoliberale Kultur der PMC und die darin vorherrschende Erzählung der Besserstellung im Produktionsprozess aufgrund höherer Qualifizierung könnten im Sinne der Radicals-In-The-Professions gebrochen werden, um Allianzbildung zu ermöglichen. Denn die meritokratische Haltung trägt zur Auflösung der Reste des proletarischen Klassenbewusstseins und zu Ressentimentbildung gegen die PMC-Linken bei.
Bullshit Jobs und deren studentisches Äquivalent, die Praxis sinnloser und bürokratisierter Arbeitsund Studienanforderungen, sind in der PMC so weit verbreitet wie das ihnen entgegengesetzte Schummeln. Viele durchschauen den Bullshit, insofern er sie persönlich betrifft und insoweit sie Arbeitsvermeidung für individuell realisierbar halten. Das ist ein von der radikalen Linken bisher nicht erkanntes Potential. Wir sind der Auffassung, dass Akte des Bullshittens und des Schummelns kollektiviert werden müssen: Erstens auf Ebene der Erkenntnis, dass das keine zufällige individuelle Erfahrung ist, sondern die systematische Folge der irrationalen Einrichtung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Zweitens auf Ebene der Arbeitsvermeidung, die kollektiv viel effizienter möglich ist. Und drittens auf der Ebene der so freigewordenen Zeit, die für politische Kämpfe erschlossen werden kann.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Wie die Ehrenreichs nach dem Scheitern der neuen Linken 1977 antizipierten, geht es nicht um eine Rückkehr zu einer Klassenpolitik, die das Proletariat romantisiert, es im Zentrum der Auseinandersetzung positioniert und sich auf ›Brot-und-Butter-Themen‹ beschränkt. Im Gegenteil: Die PMC ist historisch aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung und ihren Bildungschancen ein Hort radikaler Ideen gewesen. Viele dieser Ideen (zum Beispiel die kritische Psychologie, Technologie-Kritik, Arbeitskritik, Kritik unbezahlter Reproduktionsarbeit) sind komplementär mit den objektiven Interessen der Arbeiterinnen. Dennoch sollten die Antagonismen zwischen Proletariat und PMC nicht ausgeblendet werden.
Auf zum Klassenverrat!