Die Geschichte der Notstandsopposition ist die Geschichte der Wandlung des liberalen demokratischen Engagements; zugleich ist sie die Geschichte des Wandlungsprozesses vom unverbindlichen Protest zum organisierten Widerstand.

Als sich zu Beginn der 60er Jahre die Notstandsopposition konstituierte, dachte noch niemand daran, zu welcher Gefahr die Notstandsgesetze einmal werden würden. Das zukünftige Notstandsrecht, dessen Auswirkungen nur wenige ermessen konnten, erschien als abstrakte Gefahr am Horizont einer gefährdeten, aber doch in ihrem Grundbestand demokratischen Republik.

Der erste Höhepunkt In der Geschichte der Notstandsopposition war der Kongreß „Demokratie vor dem Notstand" am 30. Mai 1965, der von fünf Studentenverbänden veranstaltet wurde. Aus den Protokollen geht hervor, daß die außerparlamentarische Opposition sich primär an das Parlament richtete mit beschworen den Appellen. die geplanten Grundgasetzänderungen rückgängig zu machen. Der Sinn dieser Appelle bemaß sich an der Stärke respektive Schwäche der innerparlamentarischen Opposition, die zu unterstützen alle demokratischen Organisationen und Personen aufriefen. War der Kongreß einer der ersten Versuche. Der politischen Willensmanipulation von oben die demokratisch-plebiszitäre Willensbildung von unten entgegenzusetzen, so hielten die Forderungen und Appelle doch an der prinzipiellen Legitimität des parlamentarischen Systems fest und appellierten idealistisch an die Einsichtigkeit der Parlamentarier. „Zu diesem Kongreß heben wir alle Abgeordneten des Deutschen Bundestage und die Fraktions - und Parteivorstände eingeladen. Und wir erwarten. daß die Arbeitsergebnisse dieses Kongresses dort zur Kenntnis genommen und berücksichtigt werden“, formulierte der damalige Bundesvorsitzende des SDS, Helmut Scheuer, in seiner Eröffnungsrede.

Wiederum auf Betreiben der Studentenverbände kam der zweite „Kongreß Notstand der Demokratie" zustande. Inzwischen war das Zentrum der Notstandsopposition schon längst in die außerparlamentarische Opposition verlagert.

 

Auf der 21. Delegiertenkonferenz des SDS war die Zielsetzung der Notstandsopposition neu formuliert worden. Dort hieß es in der Notstandsresolution: „Die bloße Forderung nach parlamentarischer Beschränkung der Herrschaft der Bourgeoisie begreift nicht die Ursachen der Tendenzen zur Diktatur". Der Satz, der die Politik des SDS bzw. der Studentenverb ändern überhaupt bestimmen sollte, aber lautete: „Der Erfolg unseres Kampfes bemißt sich deshalb nicht allein an der Verhinderung der Verabschiedung der Notstandsgesetzgebung, sondern an dem durch den Kampf zu gewinnenden Widerstandspotential und politischem Bewußtsein der Arbeiterklasse."

 

Die Zielrichtung dieser Resolution ging nicht mehr dahin, die Bevölkerung nur über Notstandsgesetze aufzuklären, um auf diese Weise das Bewußtsein der Bedrohung durch die Grundgesetzmanipulation zu verstärken. Vielmehr wurde zum ersten Male zum Ausdruck gebracht, daß der Aufbau einer außerparlamentarischen, nicht auf das Parlament fixierten Protestbewegung das einzige Mittel sei, die treibenden Mächte der Notstandsaktion mit ihrem demokratischen Gegenkräften zu konfrontieren. Der politische Beschluß vollzog damit eine deutliche Trennung von der parlamentarischen Notstandsopposition und ging zugleich über deren Zielsetzung hinaus.

Die außerparlamentarische Opposition hatte begonnen, die gesamte gesellschaftliche Entwicklung der BRD politisch zu reflektieren. Sie versteht das Grundgesetz als historischen Ausdruck der ökonomischen und politischen Machtkonstellation nach der Entlassung Westdeutschlands aus der Oberhoheit der „Siegermächte". In der theoretischen und empirischen Analyse weist sie nach, daß der faschistische Machtapparat lediglich militärisch und administrativ zerschlagen wurde, seine ökonomische Basis, die kapitalistische Wirtschaftsordnung, jedoch erhalten blieb. Aufgrund dieser vorgegebenen Rahmenbedingungen stand der demokratische Neubeginn von Anfang an auf schwachen Füßen. Mit der wiedereinsetzenden ökonomischen und politischen Machtkonzentration verselbständigten sich die Eigeninteressen der Machtmonopole. Das Versprechen von Regierung und Parlament, eine soziale Demokratie zu schaffen, konnte unter diesen Bedingungen nicht eingelöst werden. Die formaldemokratischen Institutionen wurden aus Organen der Interessenvertretung zu Manipulationsinstanzen. Die parlamentarische Opposition hingegen (einschließlich der gewerkschaftlichen Notstandsopposition) beschränkte sich auf die immanente Kritik der wachsenden Verlagerung der Entscheidungsbefugnisse auf außerparlamentarische Ebenen (Regierung, Industrie- und Unternehmerverbände) auf die mangelnde Kontrollfähigkeit des Parlaments. Als Ziel gibt sie die effektive Bewahrung von Grundrechten an, gleichwohl scheitert Ihre Effektivität an den durch rechtliche Gewalt abgesicherten Macht positionen (Notstandsgesetze Im Interesse des Regierungsmonopols und des organisierten Kapitals). Ihre organisatorische Wirkung und Zielsetzung geht über die bloße Aufklarung nicht hinaus. Sie vermag keine Konsequenzen aus dieser Aufklärung zu ziehen. Die Einsicht aber, die sie den Massen vermittelt, bleibt abstrakt, ohne Bezug zu praktisch-politischen Arbeit weil sie selbst die Funktionsweise des Systems durch den Gebrauch rechtlicher Begriffe statt politischer und ökonomischer nicht mehr erkennen kann.

 

Während die parlamentarische Opposition blind idealistisch an dem Interessenausgleich von oben unter der Zielsetzung eines fetischisierten Gemein- und Volkswohls festhält, bestimmt sich die Politik der radikalen antiautoritären Opposition danach, ob sie ihre Aufklärung über die Notstandsgesetze tendenziell der Zielsetzung einer permanenten demokratischen Mobilisierung der Massen gegen das bevormundende und manipulierende Staatssystem unterordnen kann. Sie will nicht nur die Notatandsgesetze verhindern, sondern darüber hinaus die Mauen auffordern, ihr lnteressen nicht mehr zu delegieren, sondern selbst geltend zu machen.

 

Über diese qualitative Differenz in der politischen Position entzündete sich die Auseinandersetzung zwischen parlamentarisch-gewerkschaftlicher und radikaler Opposition. Schon vor dem Zweiten Kongreß der Notstandsopposition wurde deutlich, daß sich die gewerkschaftlichen Spitzenbürokratien von dem „offensiven" Vorgehen des SDS und der Studentenbewegung distanzierten. Es wurde aber auch deutlich, wie wenig es die traditionellen Verbände vermocht hatten, die Mauen der Lohn abhängigen über die Notstandsaufklärung zu mobilisieren. Die IG-Chemie mußte kostenloses Mittagessen und Zoo-Besuch für Notstandsgegner bereitstellen, um den Arbeitern den Kongreß „Notstand der Demokratie“ schmackhaft zu machen.

Grundsätzliche organisatorische Änderungen erfuhr die Notstandsopposition zum ersten Male am und nach dem 2. Juni 1967. In Berlin, aber auch in Hamburg und in Bonn hatte der Polizeieinsatz zum Schutze des morgenländischen Potentaten verdeutlicht, daß die Staatsgewalt nicht davor zurückschreckte, schon in „Friedenszeiten“ notstandsähnliche Polizeieinsätze gegen revoltierende Studenten zu mobilisieren. Die Notstandsopposition durfte sich also nicht auf die Verhinderung von Gesetzen beschränken: sie hatte ihre praktische Legitimität als Fundamentalopposition erhalten. Die zunehmende Disziplinierung der Arbeiter durch die konzertierte Aktion, die Illegalisierung von Streiks und Demonstrationen durch die herrschenden Institutionen und die Springer-Presse, die Einrichtung von Zivilschutz- und Werkschutzverbänden verdeutlichten, daß die Notstandsopposition nicht mehr auf die Wiederherstellung von parlamentarischer Kontrolle und innerparlamentarischer Opposition warten konnte. Sie mußte zu neuen Formen des Protestes und der Aufklärung finden.

Dennoch waren bestimmte Gruppierungen der Notstandsopposition nicht davon zu überzeugen, daß angesichts des Angriffs von Seiten der Staatsmacht, neue Demonstrations- und Aktionsformen gefunden werden mußten. Die Diskussion um die „Gewalttätigkeit“ der Springer-Blockade in Berlin und in Frankfurt und die Vorwürfe, die gegen den SDS und seine taktisch offensiven Aktionen vorgebracht wurden, spalteten die Organisationen der Notstandsgegner zunehmend in zwei Lager. Auf der einen Seite Gewerkschaftsfunktionäre, Professoren, die Kampagne für Abrüstung, die KP – auf der anderen Seite die Organisation der antiautoritären Schüler, Studenten und jungen Arbeiter.

Der Kongreß am 11. Mai in Bon ist nur auf diesem Hintergrund eines in sich gespaltenen Notstandslagers zu begreifen. Er war Ausdruck des Kompromisses zwischen den liberalen, legalistischen und den radikalen Gruppierungen innerhalb der außerparlamentarischen Opposition. Das Einheitsfrontkonzept der Veranstalter war dazu angetan, möglichst große Massen der Notstandsgegner zu vereinigen und auf eine gemeinsame politische Formel zu verpflichten. Dennoch war ein Teil der gewerkschaftlichen Notstandsgegner nicht dazu bereit, sich mit Vertretern der radikalen Position auf ein Rednerpodest zu stellen. Der Gegenkongreß des DGB in Dortmund war Ausdruck für die Rückzugsstrategie der Gewerkschaftsspitzen, von denen dann auch promt verlautete, ihre Notstandsopposition werde mit dem Tage der Legalisierung der Notstandsgesetze aufhören. Den Gewerkschaften stünde es nicht an, sich gegen die (geänderte) Verfassung zu stellen.

Die Masse der politisch bewußten Arbeiter, Schüler und Studenten kam zum Bonner Kongreß. Während der DGB für seine Dortmunder Veranstaltung alle zur Verfügung stehenden Lockmittel aufzubieten /Gratisfahrt, Gratisessen etc.), so nahm der größere Teil der Notstandsgegner finanzielle Belastungen ohne weiteres auf sich, um nach Bonn zu fahren.

Gleichwohl war der Kongreß selbst alles andere als Fortschritt auf dem Weg vom Protest zum Widerstand. Was dort geboten wurde, war nicht mehr als liberales, höchstenfalls wortradikales Palaver. So verkündete Vitt, Vorstandsmitglied der IG-Chemie: „Notstandsverfassung und Folgegesetze – sie passen nicht in unsere Zeit.“ Schriftsteller, FDP-Bundestagsabgeordneter Dorn und Gewerkschaftler gingen mit keinem Wort auf die veränderte Lage nach dem Mordanschlag auf Rudi Dutschke ein – geschweige denn auf die Formen des Widerstandes nach der Verabschiedung der Notstandsgesetze. Die Redner nährten die Illusion, als könne man in letzter Minute durch Apelle an die SPD eine innerparlamentarische Opposition aufbauen, die die Notstandsgesetze doch noch verhindern würde: „Es ist die letzte Chance für die SPD, diese Gesetze gemeinsam mit der Opposition zu verhindern und wieder zu sich zu kommen.“ (Heinrich Böll)

Große Teile der Kundgebungsteilnehmer waren in ihrem politischen Bewußtsein weiter fortgeschritten als die Redner. Der von den antiautoritären Jugendlichen artikulierten Forderung nach Generalstreik wird zwar die Gewekschaftsspitze ebenso wenig nachkommen, wie das Parlament, wenn es aufgefordert wird, sich endlich demokratisch zu verhalten. Dennoch manifestiert sich darin das Bewußtsein, daß die Notstandsopposition zu einem Teil erkannt hat, daß man jetzt zu anderen Kampfformen greifen muß, wenn man irgend dazu kommen will, dem Angriff von Regierung und Parlament auf die elementaren Grundrechte einen organisierten Widerstand entgegenzusetzen.

Das teach-in, das der SDS im Anschluß an die Kundgebung veranstaltete, erfüllte die Funktion die Solidarisierung der nach Bonn gekommenen Jugendlichen mit den Aktionen der antiautoritären Bewegung zu vollziehen. Wie sich diese Solidarisierung auswirkt, zeigt sich jetzt, während der Dritten Lesung der Notstandsgesetze, bei den Streiks an Schulen und Universitäten, in Betrieben und Büros.

 

Sicherlich wird man nicht davon sprechen können, da0 sich über Nacht eine von den Gewerkschaften unabhängige Widerstandsbewegung konstituieren wird. Doch kann mit Recht gesagt werden, daß sich die radikale theoretische und praktisch-politische Position der antiautoritären Bewegung in der Notstandsfrage politisch bewährt hat.

 

Antonia Grunenberg