Wann und wo immer man von Widerstandsrecht und Widerstandspflicht spricht, fällt es nicht schwer, – journalistisch gesprochen – einen aktuellen. »Aufhänger« zu finden. Bis vor kurzem hätte man an das Manifest der 121, z.B. Sartres und Simone de Beauvoirs, anknüpfen können, die das Recht auf Gehorsamsverweigerung im Algerienkrieg vertraten und die Zustimmung Karl Barths, Dürrenmatts, Max Frischs, Hermann Hesses, Stefan Andres', Albrecht Goes', Golo Manns und vieler anderer im Kampf gegen jede Verfolgung der freien Meinungsäußerung erhielten. Im Hintergrund stand der Prozeß in Cherche-Midi in Paris gegen aktive Gegner des Algerienkriegs. Heute kann an den ›Ketzer‹-Prozeß gegen Prof. D. Albert S. Geyser in Pretoria erinnert werden, der Inhaber des Lehrstuhls für Neutestamentarische Theologie ist und hartnäckig und ausdauernd sich der These seiner Kirche widersetzt, daß die Rassentrennung – die Apartheidspolitik der Nationalen Partei Südafrikas – mit den Prinzipien des Christentums vereinbar sei. Es wird ihm vorgeworfen, »fortgesetzt Widerstand gegen die Kirchengeschälte und Kirchenentscheidungen geübt« zu haben, was er auch nicht bestreitet. Er erklärt die Aussperrung von Afrikanern, Indern und Mischlingen aus seiner Kirche für rechts- und glaubenswidrig und beruft sich auf sein »Gewissen, das ihm keinen Ausweg lasse«.

Die protestantische Diskussion des Widerstandsrechts stand durch Jahrhunderte hindurch unter dem unglückseligen Stern deutschen obrigkeitsstaatlichen Denkens. Die Verbindung von Thron und Altar ließ ein Widerstandsrecht inopportun, ja, rechtswidrig erscheinen. Die Widerstandsproblematik war dem Bewußtsein der christlichen Gemeinde fremd und war fast völlig aus der politischen Ethik ihrer Theologen verschwunden.

Nach dem Zusammenbruch des nazistischen Unrechtsstaats begann eine protestantische Neubesinnung auf das Recht und die Grenzen der politischen Gewalt in Demokratie und totalitärem Staat. Die Diskussion ist im Flusse. Es ist sicher schwierig, die Haltung Luthers und der Lutheraner auf einen einheitlichen Nenner zu bringen, aber sie war nicht so zwiespältig und unergiebig, daß es nicht möglich gewesen wäre, praktische Richtlinien den in ihrem Gewissen bedrängten Menschen mitzugeben und anderen zu sagen, wann die Stunde kam, in der das Gewissen zu schlagen Anlaß hatte.

Im Augsburger Bekenntnis heißt es: »Deshalb sind die Christen schuldig, der Obrigkeit untertan und ihren Geboten gehorsam zu sein, so ohne Sünde geschehen mag. Denn so der Obrigkeit Gebot ohne Sünde nicht geschehen mag, soll man Gott mehr gehorsam sein denn den Menschen.«

Heimstätte des Widerstandsrechts wurde in der Folge England und dann Amerika. Die Magna Charta schuf einen Widerstandsausschuß von 25 Baronen, aus dem sich das Unterhaus und die englische Demokratie entwickelte. Die Entwicklung auf dem europäischen Kontinent verlief entgegengesetzt. Geherrscht wurde absolut, und absolut bedeutete, daß Gesetz und Befehl nicht an übergeordneten Kriterien zu messen waren. Der Untertan war gebunden, ­­der Herrscher war frei. Frankreich erlebte seine Revolution und bekannte sich sofort zu den Menschen- und Bürgerrechten. Zu ihnen zählte das Recht auf »resistance«. Die Deutschen machten keine Revolution.

Zum Untertan nicht geboren, sondern erzogen, empfanden sie bei der Vorstellung von Widerstand Furcht und Schrecken. Schiller schrieb das größte Widerstandsdrama der Geschichte, seinen Tell, hatte aber zeitlebens ein schlechtes Gewissen und zweifelte bis zuletzt an der Berechtigung der Tells-Tat. Durch seinen Parricida suchte er den Tell gegen den Vorwurf kriminellen Verhaltens abzuschirmen. Goethe beabsichtigte im Egmont dem Widerstandskampf der Niederländer ein Denkmal zu setzen. Sein Egmont rutschte aber ins Hamletische ab. Egmont handelt nicht, und Schiller meint mit Recht, Goethe’s Egmont bleibe weit hinter dem Historischen zurück. Kleist griff das Thema im Prinz von Homburg auf. Bis zur Stunde sind sich die Gelehrten nicht einig, ob das Schauspiel ein hohes Lied auf den Ungehorsam ist, auf den Vorrang des Gewissens vor dem staatlichen Befehl oder umgekehrt – ein hohes Lied auf rücksichtslose Hingabe an den preußischen Staat. Welche Paradoxie der Dinge! Welche Schizophrenie menschlicher und staatlicher Ethik!

Die Opposition im Unrechtsstaat 1933-1945 hat sich des Widerstandsrechtes erinnert. Professor Kurt Huber hat im Schlußwort des Prozesses gegen die Geschwister Scholl nach Jahrzehnten, ja fast Jahrhunderten fast völligen Verschweigens eines Rechtes oder einer Pflicht zum Widerstand die Grenzen jeder Staatsgewalt umrissen: »Es gibt für alle äußere Legalität des Bürgers eine Grenze, wo sie unwahrhaftig und unsittlich wird. Legales Verhalten des Bürgers wird unsittlich, wenn es zum Deckmantel einer Feigheit wird, die sich nicht getraut, gegen offenkundige Rechtsverletzungen aufzutreten«. »Das Gewissen stand auf«, »Das Gewissen entscheidet«, wie es später Annedore Leber formuliert hat. Hessen, Berlin und Bremen haben ein Widerstandsrecht in ihre Verfassung aufgenommen. Im Grundgesetz fehlt eine ausdrückliche Bestimmung, es kann aber davon ausgegangen werden, daß das Widerstandsrecht von dem Bekenntnis des deutschen Volkes zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als der Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt mitumfaßt wird.

Der Streitfragen gibt es aber genug.

Nach vielhundertjährigen Erfahrungen kann es nicht überraschen, daß starke Tendenzen bestehen, in einer Gesellschaft, die keine Experimente will und für die der Grundsatz gilt »safety first«, den Quell und starken Strom eines Widerstandsrechts in Kanäle zu lenken. Widerstand und Revolution sind sicher verschieden, und es ist gewiß nicht schwierig, sie begrifflich zu trennen. Widerstand hat nichts mit einem bloßen – eventuell gewaltsamen – Regierungswechsel gemein, er bedeutet nicht eine bloße – eventuell gewaltsame – Änderung der Regierungsform; nicht jeder Kampf für ein neues – besseres oder schlechteres – Gesetz ist Widerstand. Widerstand meint Verwirklichung eigener oder fremder Menschenrechte. Widerstand ist ein Spezialfall der Notwehr oder – wenn Widerstand zugunsten Dritter ausgeübt wird – der Nothilfe. Er setzt einen Angriff oder Eingriff in Grundrechte oder ihre Vorenthaltung voraus. Da aber Menschenrechte keinen statischen Inhalt ein für allemal haben, umfaßt Kampf für sie nicht nur Wiederherstellung eines früheren, verlorengegangenen Status, er kann auch einem Neuland gelten, das zu erobern ist.

Von hier aus verwischen sich die Grenzen. Der Kampf der Plebejer gegen die Patrizier war sicher Widerstand in unserem Sinn; die französische Revoution war – trotz ihrer Bezeichnung – Ausübung eines Widerstandsrechts des dritten Standes im Zeichen der Menschenrechte, im Zeichen von Freiheit und Gleichheit. Spartakus und alle Sklavenaufstände, der Antikolonialismus der nordamerikanischen Siedler, der passive Widerstand Gandhis sind legitime Handlungen gewesen.

Das Widerstandsrecht erschöpft sich nicht im innerstaatlichen Bereich. Es überschreitet die nationalstaatlichen Grenzen. Es sieht nicht nur jedermann zu, sondern kann auch zugunsten von jedermann ausgeübt werden.

General Oster teilte, um den meistschockierenden Fall zu nennen, den neutralen, auch durch Nichtangriffspakte geschützten Ländern Dänemark, Norwegen, Belgien und Holland Angriff und Angriffsdatum mit, freilich ohne mit seiner Mitteilung Glauben zu finden.

Widerstand resultiert nicht aus der Politik, sondern aus dem Recht. Der Einfall in die skandinavischen Staaten, in Luxemburg, Belgien und Holland war ein Angriffskrieg und damit ein bellum injustum, der als internationales Verbrechen gebrandmarkt ist. Gefährdet waren Leib und Leben, die Freiheit, das Eigentum unschuldiger Menschen. Oster setzte das Recht des Fremden dem Recht des Landsmannes gleich. Monotheismus meint einen Gott, eine Moral, ein Recht für alle, die Menschenantlitz tragen. Aber nicht nur die Clans und die Stämme der Primitiven, sondern auch die christlichen Staaten mit ihrem einen Gott unterschieden zwischen sich und den anderen. Oster machte aus dem Wort des Corpus Christianum, aus dem Wort der europäischen Völkerfamilie und des Abendlandes eine Wahrheit und Wirklichkeit. Jedenfalls Europa hätte Anlaß, ihm ein Denkmal zu setzen.

Das Problem taucht erneut im Zusammenhang mit einem atomaren Krieg auf. Es steht hier nicht zur Diskussion, ob und inwieweit eine atomare Aufrüstung politisch zweckmäßig ist oder nicht, um eine balance of powers zu schaffen und damit eine Kriegsgefahr zu bannen. Wohl aber wirft die Teilnahme an einem atomaren Krieg Widerstandsprobleme auf, wobei der atomare Angriffskrieg ausgeklammert werden kann, da er wie jeder Angriffskrieg unter allen Umständen kriminell ist.

Man kann einen atomaren Krieg als Verbrechen ablehnen, schon weil er feindliche Zivilisten in Mitleidenschaft zieht. Man kann dies in Kauf nehmen, aber die unvermeidliche Schädigung der Neutralen irgendwo auf dem Erdball und die Schädigung ihrer noch ungeborenen Kinder durch die Verseuchung der Weltatmosphäre für einen schlechthin unerträglichen Eingriff in ihre Menschenrechte halten, die mindestens das Recht auf Leben meinen. Wem dies noch immer nicht genug ist, mag sich an die Beeinträchtigung der eigenen Familie, der eigenen Nation und des eigenen Kulturkreises heften, die wie die Neutralen und ihre Nachkommen Opfer der Verteidigung sein können. Bei der Unmöglichkeit, die Wirkung eines atomaren Krieges räumlich und zeitlich zu begrenzen, hat unter anderem der Göttinger Professor Julius von Giercke den begründeten Schluß gezogen: »In den Staaten, in welchen ein Widerstandsrecht anerkannt ist, kann der einzelne jede Mitwirkung bei der Verwendung von Atomwaffen versagen«.

Die Diskussion über die Mittel des Widerstands steht seit langem unter dem unglückseligen Stern, daß Widerstand mit den »seditiones« Martin Luthers und mit dem Tyrannenmord gleichgestellt wird. Widerstand umfaßt aber alle Formen des gewalttätigen und nicht gewalttätigen, des aktiven und passiven Verhaltens oder wie man immer einzelne Formen bezeichnen will. Auf die Worte kommt es wenig an, zumal ihnen jede begriffliche Schärfe fehlt. Der Jurist vermag eindeutig nicht zu definieren, was aktiver oder passiver Widerstand ist.

Sicher war auch Ghandi Widerstandskämpfer, und Widerstandskämpfer ist nicht minder der Friedensnobelpreisträger Albert Luthuli. »Freiheitskämpfer«, heißt es in seiner Botschaft nach seiner Verbannung 1959, »laßt mich euch daran erinnern, daß wir unsere Freiheit nur durch den machtvollen Einsatz außerparlamentarischer Mittel gewinnen können. Unser Kampf muß jedoch mit den Mitteln der Gewaltlosigkeit ausgetragen werden. Wir haben keine andere Wahl. Wir besitzen Beweise, daß die Regierung uns provozieren wollte – aber geben wir Swart keinen Vorwand, seine trüben Methoden anzuwenden. Seine Waffen sollen verrosten. Laßt uns beweisen, daß Gewaltlosigkeit die höchste Form der Tapferkeit ist.« Der Widerstand muß immer der Rechtsverletzung adäquat sein.

Durch einen Hinweis auf die Fülle der Widerstandsformen kann auch die Frage beantwortet werden, ob mit den Widerstandshandlungen abgewartet werden muß, bis der Rechtsstaat in den Unrechtsstaat umgeschlagen ist, und der Kampf nur noch mit den schweren und schwersten Geschützen geführt werden kann. Aber auch rechtlich ist zum Abwarten kein Anlaß. Mit der Gefährdung der Menschenrechte reifen die Widerstandsrechte der einzelnen. Es gibt also auch Widerstand im – ständig gefährdeten – Rechtsstaat.

Deutschland, aber auch die übrige Welt, die Gefahr läuft, nur noch aus Robotern, Automaten und Plattenspielern zu bestehen, muß lernen, nein zu sagen. Widerstandspflicht heißt nicht Pflicht zum Tyrannenmord, nicht Pflicht zu Aufständen und Gewalttaten. Der Einzelne mag hierzu berechtigt sein, eine Pflicht zu Gewalttaten besteht nicht, wohl aber besteht eine Pflicht zur Gehorsamsverweigerung, wenn Verbrechen befohlen werden oder eine Verletzung der eigenen Menschenwürde oder der Menschenwürde anderer gefordert wird.

Kritik und Opposition sind keine leidigen Mißstände, sondern das Lebensprinzip eines demokratisch organisierten Volkes. Demokratie lädt zu einem permanenten Widerstand ein und fordert die kämpferische Auseinandersetzung über die ihr eingelagerten Gegensätze in allen Bereichen menschlichen Zusammenlebens. Im Kreuzfeuer von Kritik und Opposition bleibt sie gesund; es ist ihre Stärke, daß sie ihre Menschen wach hält, so daß die Mehrzahl bei wirtschaftlichen Krisen oder politischen Katastrophen nicht den Kopf verliert, sondern zu selbständigen und wachen Entschlüssen fähig bleibt. Der große Widerstand im Unrechtsstaat bleibt nur möglich, wenn der kleine Widerstand gegen das Unrecht im staatlichen Alltag geübt und wie eine kostbare Pflanze gehegt und gepflegt wird.

Das sind nicht nur theoretische Rezepte. Sie haben nach zwölf Jahren bundesrepublikanischer Praxis eine aktuelle Bedeutung, denn wer sollte leugnen, daß es an Anläufen zur Beschränkung der öffentlichen Meinung, zu einer kurzsichtigen und eigensüchtigen Diffamierung jeder Opposition und zu einem persönlich-patriarchalischen Regiment nicht gefehlt hat und eine lebendige Anteilnahme wohlorientierter Bürger an dem politischen Geschehen nicht eben ermutigt wurde?

Letztlich meldet sich die entscheidende Frage nach den materialen Werten unseres Staates, deren Verletzung oder Gefährdung Widerstandsrechte auslöst. Die Bundesrepublik ist ein säkularer Staat. Sie ist pluralistisch, sie umfaßt Protestanten verschiedener Färbung, Katholiken, Muselmänner, Gottgläubige, Ungläubige, Juden, denen allen die Gewissensfreiheit und das friderizianische Seligwerden nach eigener Façon durch die Verfassung gewährleistet ist. »Das Sittengesetz«, das auch das Grundgesetz nennt, ist nicht das Sittengesetz einer Religion, es ist nicht die eine oder andere Moraltheologie oder das System einer philosophischen Schule, dessen jeweilige logische Brüchigkeit sich zudem durch die Jahrtausende immer wieder gezeigt hat. Auch »das Sittengesetz«, von dem das Grundgesetz spricht, ist das eines pluralistischen Staates, und es ist verfassungswidriger Gewissenszwang, andere Glaubensinhalte oder Wertvorstellungen als die eines pluralistischen Staates zu oktroieren und etwa die Menschen auf den Vordermann eines Thomas von Acquino, Kant oder von wem auch immer zu bringen. Dergleichen Versuche legitimieren zum Widerstand zwecks Wahrung und Wiederherstellung der Grundrechte.

Der Parlamentarische Rat war kein Konzil; es gehörte weder zu seiner Zuständigkeit noch war es Wille der Mehrheit, uns auf eine Theologie oder Philosophie einzuschwören.

Gerade das geschieht heutzutage. Sicher benötigen wir eine Einheit des Rechtsdenkens und einer moralischen Theorie, sie darf aber nicht auf Kosten der Freiheit des Glaubens und Denkens und damit der Gewissensfreiheit anderer gehen. Einheit ja, aber Einheit, die die Mannigfaltigkeiten des Glaubens und Denkens, die Selbstbestimmung, das Recht zur Selbstverwirklichung des Menschen bejaht und die Freiheit nicht über der bloßen Ordnung vergißt und, die die Fülle des Lebens gegen das Schema verteidigt.

Ich will nicht davon sprechen, daß Glaube Begegnung des Menschen mit dem lebendigen Gott und keine Diesseitsgröße ist, die vom Staat in seinen Aufgabenkreis einbezogen und als Referat des Justiz-, Innen-, Erziehungs- oder Familienministerium verwaltete werden könnte, um sich in Paragraphen und Gerichtsurteilen eines Bundesgerichtshofs niederzuschlagen. Jedenfalls erscheint mir ein dogmatisch gebundenes Naturrecht, wie es heute vielfach angestrebt und verwirklicht wird, der Pluralität menschlicher Vorstellungen von dem, was sein und was nicht sein soll, zu widersprechen.

Die billige Uniformierung der Moral und bequeme Konformierung der Menschen mit dem Zwang einer konstantinisch-theodosianischen Gesetzgebung und Rechtsprechung ist auch gar nicht erforderlich.

Aufgabe derer, die es angeht, ist, die Ethik des Pluralismus zu begründen und zu verwirklichen. Nichts wäre falscher als die Annahme, Pluralismus sei Relativismus, Neutralismus, Indifferentismus oder gar Nihilismus. Pluralismus heißt Ja-sagen nicht zu einem abstrakten Menschenbild, sondern zur Fülle der lndividualitäten, die – wenn man schon theologisch reden will – mit Ranke alle »gleich nahe zu Gott« und seinen »Gedanken« sind. Pluralismus bedeutet – daher Toleranz – freilich ausgenommen eine Toleranz gegenüber den Intoleranten. Toleranz fordert Leben und Lebenlassen, denn Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst. Das Ethos von Pluralismus und Toleranz gipfelt in der Nächstenliebe.

Dies und nichts anderes steht im Grundgesetz. Es gebietet Achtung vor der Menschenwürde und ihren Schutz. In unser geliebtes Deutsch übertragen, heißt das, alle menschenwürdig zu behandeln – ohne Rücksicht auf Glauben oder Unglauben, auf Abstammung, Herkunft und Stand. Die Grundrechte, etwa das Recht auf Leben, auf Gleichberechtigung, auf freie Entfaltung der Persönlichkeit sind lediglich Teilaspekte einer respektierten Menschenwürde.

Menschenwürdige Behandlung umschließt auch mit innerer Notwendigkeit jenen materialen Wert unseres Staates, der in dem Gebot des sozialen Rechtsstaat es zum Ausdruck gelangt. Das Postulat des Sozialen fügt in Wahrheit nichts Neues, nichts Anderes oder wie manche sogar behaupten, etwas Antithetisches hinzu. Menschenwürdige Behandlung ist ohne soziale Hilfe nicht denkbar. Schiller hat – mag auch sein Wort dem einen oder anderen hier und heute anachronistisch klingen – das Richtige gewußt, als er seinen Zweizeiler dichtete: »Würde des Menschen. Nichts mehr davon, ich bitt‘ euch! Zu essen gebt ihm, zu wohnen. Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst.«

Pluralismus, Toleranz, Nächstenliebe konstituieren den Wert und die Werte unseres Staates. In der Diskussion über den Obrigkeitsbrief von Bischof Dibelius ist mit vollem Recht – leider nicht von juristischer, sondern von politikwissenschaftlicher Seite – der Satz formuliert worden »Widerstand ist geboten, wenn etwas verlangt wird, was gegen die Nächstenliebe verstößt«. Das war ein beachtlicher Beitrag zur Auslegung unseres Grundgesetzes.

Generalstaatsanwalt Dr. Fritz Bauer