Angesichts der Corona-Pandemie lohnt es sich, nochmal in eine Debatte der 1960er Jahren zu schauen, die im DISKUS, wie er sich damals noch schrieb, intensiv begleitet wurde: die Diskussion um die sogenannten Notstandsgesetze.

Diese Gesetze sollten die Handlungsfähigkeit des Staates in Krisensituationen wie Krieg, Aufstand oder Naturkatastrophen gewährleisten, indem sie Regeln für den Verteidigungsfall, den Spannungsfall, den inneren Notstand und den Katastrophenfall bereitstellen. Unter anderem können in diesen Fällen die Grundrechte eingeschränkt werden. Kritische Stimmen sahen in den Gesetzesentwürfen allerdings die Vorbereitung eines Ermächtigungsgesetzes, ähnlich jenem Gesetz, das Adolf Hitler im Jahr 1933 diktatorische Vollmachten verlieh. Auch der DISKUS sah, trotz seiner damaligen eher linksliberalen Linie, die Zeit für Opposition und Widerspruch gekommen. Im Rückblick war die Auseinandersetzung mit den Notstandsgesetzen für die Zeitschriftder Einstieg in die Studentenbewegung und die außerparlamentarische Opposition.

Die ‚Notstandsgesetze‘ wurden, trotz großer Proteste, schließlich im Mai 1968 von der damaligen Großen Koalition im Bundestag beschlossen. Sie fügten dem Grundgesetz eine Notstandsverfassung bei, welche die Handlungsfähigkeit des Staates in Krisenzeiten sichern sollte. Die Notstandsgesetze gelten bis heute, sind aber seit ihrem Bestehen noch nie angewandt worden.

Interessant ist an dieser Diskussion aus aktueller Sicht weniger, ob und inwiefern die 1968 beschlossenen rechtlichen Regelungen in der Corona-Pandemie Anwendung finden könnten. Vielmehr bietet die Debatte um die politische Ausgestaltung der bundesdeutschen Demokratie in den 1960er Jahren interessante Anregungen. Die Autoren des DISKUS waren sich in einem Punkt einig: Die Stabilität einer Demokratie erweist sich insbesondere darin, ob sie auch im Krisenfall elementare Grundrechte achtet.

Wir möchten daher mit dieser Zusammenstellung nicht bloß vergangene Diskussionen dokumentieren, sondern auch darauf hinweisen, dass temporäre Einschränkungen von Grundrechten in einer Demokratie stets kritisch begleitet werden müssen, wenn sie nicht zu einem neuen (schlechteren) Normalzustand werden sollen.

 

In dieser diskus-Archivausgabe sind einige Artikel zusammengestellt, die zwischen 1961 und 1968 im DISKUS erschienen sind. Die dokumentierten Artikel beharren darauf, dass Situationen des Not- und Ausnahmezustands stets von auf Widerstandsrecht und Menschenrechten beharrenden Interventionen flankiert werden müssen. Vorangestellt wird ein 1961 – also vor der eigentlichen Debatte um die Notstandsgesetze – erschienener Artikel des Generalbundesanwalts Fritz Bauer, der mit seinem Text Im Gleichschritt marsch? Widerstand aus Nächstenliebe die juristischen und theologisch-ethischen Dimensionen eines Rechts auf und Pflicht zu Widerstand umreißt. Bauer verfolgt die politische Tradition des Widerstandsrechts, und begründete auch, warum es in Deutschland diese Tradition kaum gibt: »Frankreich erlebte seine Revolution und bekannte sich sofort zu den Menschen- und Bürgerrechten. Zu ihnen zählte das Recht auf ›résistance‹. Die Deutschen machten keine Revolution.« Er zeigt auf, wie das Widerstandsrecht – und auch die Widerstandspflicht – aus der Allgemeingültigkeit der Menschenrechte erwächst, und stellt das Widerstandsrecht in den Kontext des Grundgesetzes der Bundesrepublik: »Widerstandspflicht heißt nicht Pflicht zum Tyrannenmord, nicht Pflicht zu Aufständen und Gewalttaten. Der Einzelne mag hierzu berechtigt sein, eine Pflicht zu Gewalttaten besteht nicht, wohl aber besteht eine Pflicht zur Gehorsamsverweigerung, wenn Verbrechen befohlen werden oder eine Verletzung der eigenen Menschenwürde oder der Menschenwürde anderer gefordert würde.«Fritz Bauer: Im Gleichschritt marsch? Widerstandspflicht aus Nächstenliebe , in: DISKUS, Jg. 11, H. 10, 1961, S. 1-2, hier S. 2.

Die späteren Artikel beschäftigen sich mit verschiedenen Dimensionen der Debatte. Mehrfach werden die Gesetze als Gefährdung der Grundlage der Demokratie kritisiert. Auch die Proteste dagegen werden dokumentiert. Der Jurist und SDS-Mitglied Jürgen Seifert warnte beispielsweise 1963 im Artikel Wird das Grundgesetz verändert? Zu den Notstandsentwürfen vor der geplanten Notstandsgesetzgebung als eine Abschaffung verfassungsmäßig verbriefter Grundrechte. Seifert sah in den Entwürfen einen Rückschritt hinter den Geist des Grundgesetzes und mahnte: »Dabei hat man doch im Parlamentarischen Rat die Grundrechte gerade für die Zeiten geschaffen, in denen die Freiheit des Einzelnen und die Würde des Menschen gefährdet ist.« Jürgen Seifert: Wird das Grundgesetz verändert? Zu den Notstandsentwürfen, in: DISKUS, Jg. 13, H. 2, 1963, S. 4. Und im Jahr 1966 druckte der DISKUS eine Rede Ernst Blochs bei einer Kundgebung gegen die Notstandsgesetzgebung auf dem Frankfurter Römerberg. Sie begann mit den Worten »Wir kommen zusammen, um der Anfänge zu wehren« – und endete mit einem vehementen Aufruf zum Protest: »Die alten Herren mit ihrem Artikel 48 haben bereits die Vergangenheit verspielt, die neuen Herren mit ihrem Notstandsunrecht sollen nicht unsere Zukunft verspielen.«Ernst Bloch: Rede auf dem Römerberg. Notstand, in: DISKUS, Jg. 16, H. 7, 1966, S. 3.

Wir wünschen viel Spaß bei der Lektüre!

 

Hannah Hecker & Christoph Sommer

 

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