Ich fasse (als Jurist) meine Einwände gegen die Notstandsverfassung nach dem Entwurf in 2. Lesung im Bundestag in 5 Thesen zusammen.

 

I

Der unsere Verfassung ändernde Gesetzgeber weiß nicht, was er tut. Er handelt in Gesetzgabe ohne Bewußtsein für die Verfassungsaufgabe. Mit der Verabschiedung se in er Notstandsverfassung verabschiedet er sich gerade nicht von unserem Verfassungsnotstand. Ober sein historisch-verfassungspolitisches Versagen kann nicht erst die Nachwelt, sondern muß. schon die Mitwelt urteilen. Der Gesetzgeber hat die erste und einzige große Chance de r verfassungspolitischen und verfassungsrechtlichen Ortsbestimmung der Gegenwart sei t 1945 (u. z. in öffentlicher Grundsatzdiskussion) verspielt, nach Spielregeln, die er zugleich fälschlich mit dem Spiel selbst identifiziert, indem er institutionell verfestigt, was funktionell beweglich bleiben muß, indem er offene Inhalt e auf geschlossene Formen verkürzt, kurzum: indem er die von unserer Verfassung intendierte politische Gesellschaft verrechtlicht und sie gerade in der formale Entpolitisierung material politisiert im Sinne einer rechtlichen Zementierung des status quo. Weder Weimarer noch Bonner Republikverfassung waren politische Verfassungswerke, jene nicht, weil der äußeren Revolution der innere Umbruch, diese schon deshalb nicht, weil dem äußeren Umbruch die innere Revolution nicht folgte. Stand die Weimarer Verfassung vom theoretischen Einzug an im Widerspruch zur sozialen Wirklichkeit, ein Widerspruch, der sich zwischen selbstmördenischem Legalismus (Identität von Recht und Macht) und mörderischem Dezisionismus (Identität von „Führer" und Recht) verschärfte, so geriet die Bonner Verfassung im praktischen Vollzug in Widerspruch zur sozialen Wirklichkeit, ein Widerspruch, der sich zwischen theorieloser Scheinpragmatik und dogmatischer Scheintheorie verschärft. In beiden Fällen - Weimarer wie Bonner Verfassung - haben sich Juristen mit einem falschen Rechtsverständnis durchgesetzt, das die sozialen und ökonomischen Bedingungen der Existenz einer politischen Gesellschaft nicht reflektierte. Die Bonner Verfassung wurde einseitig gegen eine falsch interpretierte Geschichte der Weimarer Verfassung konzipiert. Unter den sozialen und ökonomischen Verhältnissen seither hat ihre lautlose Transformation die verheißene freiheitliche: demokratische Grundordnung stärker entmutigt und gedrosselt als ermutigt und ermöglicht.

Summa: die historische Stunde einer notwendigen Verfassungskonzeption ist verpaßt.

 

II

Der unsere Verfassung ändernde Gesetzgeber fetischisiert und tabuisiert das Recht. Eine Rechtskulturentwicklung von mehr als 2000 Jahren pendelte zwischen lex und rex, ratio und voluntas, veritas und auctoritäs, ohne die Rechtsmacht je gegen das Machtrecht verwirklicht zu haben. Daß Recht noch stets der stärkste Schutz der Schwachen gewesen sei, ist ein Mythos, bestenfalls eine Legende. Gute Gesinnung sieht und meint es so. Und der Bundestag hat davon ausgiebig gesprochen. Aber es geht nicht um gute Rechtsintentionen von politischen Menschen, sondern um politische Verhältnisse. Wir müssen Recht politisch entmachten, damit Recht seine wirkliche Macht entfalten lernt. Solange wir diese Entzauberung des Rechts nicht geleistet haben, bleibt Recht, was es stets war; politisches Alibi und Verheißung.

Man prüfe meine These an der jüngeren und jüngsten Rechtsentwicklung:

Der Rechtsstaat (als Staat der Herrschaft von Recht und nicht von Menschen) hat sich In der Rechtswirklichkeit aus intendierter Rationalität von Herrschaft zur Herrschaft von Irrationalität transformiert, die politische Inhalte und soziale Prozesse in rechtlichen Formen und Institutionen verschleiert:

parlamentarische Kontrollmechanismen und Abstimmungstechniken werden als rechtsstaatliche Spitzenleistungen gepriesen, ohne daß Parlamentarismus und Mehrheitsprinzip in unserer Gesellschaft als große ungelöste Probleme auch nur empfunden werden. Der Sozialstaat hat sich in der Rechtswirklichkeit aus intendierter politischer Gesellschaft zur Fortsetzung des sozialfürsorgerischen Königtums transformiert, das Almosen spendet, wo Anteilhabe und Anteilnahme gemeint sind.

Der demokratische Staat hat sich aus intendierter Legitimation und Kontrolle aller öffentlichen Gewalt zur Selbstidentifizierung mit einem Parlament aus - nach sog. Wahlrechtsreform-Delegierten zweier Volksparteien transformiert, deren angebliche Entideologisierung sich re vera als passive Anpassung an planlosen Wohlfahrtsund steuerlosen Rüstungskapitalismus entpuppt, als unpolitische, jedenfalls politisch unverantwortliche Verwaltung durch Großbürokratien in „Wirtschaft“ und "Staat", als Pragmatik, die sich im Leben von der Hand in den Mund, von Tag zu Tag, von einem gestopften zu einem gerissenen Loch erschöpft. Alles dies ohne Rechtstheorie und ohne Verfassungstheorie, ohne Parteitheorie, Gewerkschaftstheorie, Verbandstheorie, kurzum: ohne Spuren von politischer Theorie für unsere Gesellschaft und ihre Verfassung. Die freiheitliche demokratische Grundordnung ist am wenigsten ein Rechtsproblem, sie ist. vor allem ein Problem der aus kritischer Empirie und Reflexion zu gewinnenden und ausgeführten Gesellschaftstheorie. Summa: „Sicherheit und Ruhe! Ordnung und Freiheit!“ (so die „bürgerliche Gesundheit“ im ersten Aufzug von Goethes Egmont) sind nicht Voraussetzung einer guten Einrichtung der Gesellschaft, sondern erst Ihre - mögliche - Folge. Das unterscheidet unseren „Staat", den wir noch nicht geschaffen haben, vom Staat des 19. Jahrhunderts, den wir noch nicht überwunden haben.

 

III

Der unsere Verfassung ändernde Gesetzgeber bewegt sich außerhalb der Verfassungslegalität in verfassungswidrigen Dezisionen. Die Verfassung des Bonner Grundgesetzes reflektierte noch nicht den massendemokratischen Verbände- und Parteienstaat. Zwangsläufig erfüllen Parlamentarismus, Mehrheitsentscheidung und Öffentlichkeit weithin Ihre zugedachten Funktionen nicht mehr. Die sog. außerparlamentarische Opposition ist z. B. re vera eine Opposition Im politischen Kräftefeld. Die sog. radikale Minderheit ist z. B. re vera eine substantielle gesellschaftliche Interessenrepräsentation, die sich gegen das enge Kartell der zur politischen Monarchie verfestigten gesellschaftlichen Oligarchien stemmt. Die sog. lautstarke Linke ist z. B. re vera tendenziell „Öffentlichkeit ", wenn und weil sie argumentiert und räsonniert, während der „öffentliche" Bundestag meist nicht diskutiert und deliberiert, sondern Mentalitäten demonstriert und Meinungen produziert. Der angebliche politische Pluralismus – Paradeaushängeschild der "offenen ", der „mündigen" Gesellschaft Ist hingegen über den status eines laissez faire Pluralismus noch nicht hinausgediehen, der ähnlich dem laissez faire-Liberalismus die Mächtigen mächtiger, die Ohnmächtigen ohnmächtiger, dagegen n nicht notwendig die Reichen reicher, die Armen ärmer macht.

Summa: der Bundestag setzt in der Notstandsverfassung weithin „verfassungswidriges Verfassungsrecht"

 

IV

Der unsere Verfassung ändernde Gesetzgeber entlarvt sich In wichtigsten Details seiner Vorschläge als das Gegenteil seines Selbstverständnisses. Ich greife lediglich 5 exemplarische Fälle auf.

a) Die Widerstandsrechtsklausel (Art. 20 IV) schafft kein Freiheitsrecht, sondern eine Sanktion gegen Freiheitsrechte. Wie Hochverrat eine Frage des Datums Ist, so ist Widerstand politische Ketzerei oder politischer Sieg. Alles verfassungsgemäße politische Leben ist Widerstand gegen die Bedrohung dieses Lebens, das ist - ohne Art. 20 IV - die simpelste Selbstverständlichkeit einer Verfassung. In praxi gewährleistet Art. 20 IV den Bürgerkrieg.

b) Die Arbeitskampfklausel (Art. 9 III) legitimiert nunmehr verfassungsrechtlich die Aussperrung und die - in Rechtsprechung und Rechtswissenschaft entwickelte verfassungswidrige – Einengung des Streiks. Daß sich die Gewerkschaften gegen den politischen Generalstreik anläßlich der Notstandsverfassung wenden, ist übrigens wiederum kein Rechtsproblem, sondern ein Problem ihrer Entpolitisierung und der fehlenden Gewerkschaftstheorie. Nicht ob sie streiken könnten, wenn sie wollten, ist hier das Problem, sondern ob sie es überhaupt Wollen könnten. Von rechtlicher Wirkung ist dabei die desuetudo: „Wer über gewissen Dingen den Verstand nicht verliert, der hat keinen zu verlieren" (Lessing). Wer In gewissen Situationen den politischen Generalstreik nicht wagt, der hat keinen mehr zu wagen. In diesem lichte wirft die Ermächtigung zum Einsatz der Bundeswehr u. U. in politischen Streiks (arg. Art. 84 a IV) doppelt düsteren Schatten.

c) Die politische Kontrollklausel _ anstelle einer richterlichen Prüfung (Art. 10) Im Zusammenhang mit der Ablösung der Vorbehaltsrechte „der ausländischen alliierten Mächte durch die Rückbehaltsrechte der Inländischen alliierten Mächte müßte, will der Bundestag folgerichtig und ernsthaft politische Sachverhalte von politischen, nicht richterlichen Instanzen kontrolliert wissen, in einer politischen Gesellschaft die große Masse der Gerichtszuständigkeiten politisieren.

d) Die Bündnisvorbehaltsklausel (Art. 80 a) übersieht in ihrer rechtsstaatlichen Krönung (Beteiligung der Regierung am internationalen Beschluß, Aufhebung durch Parlament) das heutige Verhältnis von Regierung und Parlament. Vestigia terrent (Röhrenembargo Ost!).

e) Im ganzen Ist zu beklagen die vollsynchronisierte Getriebeschaltung von „Normalstandsrecht“ und „Notstandsrecht“. Vorbereitung auf Unglück und Vorbereitung von Unglück wohnen nahe beieinander. Den "Normalstand“ empfindet leicht als „Notstand", wer ihn nicht leiden mag. Summa: Diskussion, Argumentation Reflexion und Deliberation? Demonstration fixierter Dezisionen technisch zuweilen gemildert kraft Zwangs zum Formelkompromiß und zur taktischen Abbreviatur!       

 

V

Meine Hoffnungen (und meine zukünftige Arbeit, denn in einer Demokratie gilt nicht: videant consules sondern: videamus) zielen auf die durch die Notstandsverfassung angestoßene Politisierung des Bewußtseins breiter Bevölkerungsschichten als Vorstufe ihrer erweiterten Anteilhabe und Anteilnahme an den Prozessen öffentlicher Kontroversen über Konflikt und Konsensus sowie auf die Politisierungschancen eines Verfassungsgerichtsprozesses von Rang und Format.

Summa summarum: Vorsorge für die Sorgen in Notfällen Ist kein leerer Wahn. Aber die Sorgen vor dieser Vorsorge für Notfälle sind es noch weniger.

 

Rudolf Wiethölter