Robert Zwarg ist Philosoph, Kulturwissenschaftler und Übersetzer. Im Wintersemester 2020/21 sowie im Sommersemester 2021 hatte er die Gastprofessur für Kritische Gesellschaftstheorie an der Universität Gießen inne. Seine Dissertation, die er am Leipziger Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur verfasst hat, trägt den Titel Die Kritische Theorie in Amerika. Das Nachleben einer Tradition und wurde 2017 bei Vandenhoeck & Ruprecht publiziert. Für die Edition Tiamat hat Robert Zwarg Essays des englischen Kulturkritikers Mark Fisher ins Deutsche übersetzt, die unter den Titeln Das Seltsame und das Gespenstische (2017) und k-punk (2020) erschienen. Wir sprachen mit Robert u.a. über die Aneignung der Kritischen Theorie durch die US-Linke, Theoriezeitschriften als Archive intellektueller Szenen, das Eigenleben von Gesellschaftstheorien sowie Fishers Diagnose eines kulturellen Verschwindens der Zukunft, die noch gespensterhaft in Kunstwerken fortlebt und uns heimsucht.

 

D: In Deiner Dissertation beschäftigst Du Dich mit der Rezeption der Kritischen Theorie in den USA. Dabei untersuchst Du vor allem die Aktivitäten von zwei Theoriezeitschriften der New Left zwischen den späten Sechziger- und frühen Neunzigerjahren. Wie bist Du Archiven begegnet, als Du diese Zeitschriften und andere Materialien zu den Debatten rund um die Kritische Theorie in den USA untersucht hast?

 

R: Ich hatte immer ein gemischtes Gefühl gegenüber Archiven. Es gibt Leute, die im Archiv förmlich verschwinden und in der archivarischen Rekonstruktion der historischen Zusammenhänge aufgehen. Das ist bei mir nicht so. Archive können für bestimmte Fragestellungen sehr ergiebig sein, von anderen können sie eher ablenken. Bei meiner Dissertation hat es sich allerdings aufgedrängt mit Archiven zu arbeiten, die ich dann aber auch durchaus unsystematisch genutzt habe. Die Frage, wie die Kritische Theorie weitergegeben wird und wie Theorie als materielle Praxis sich vollzieht, hat mich relativ schnell zu den beiden Zeitschriften Telos und New German Critique (NGC) geführt und überhaupt zur Zeitschrift als Medium, in dem Theorie angeeignet und diskutiert wird. Bei Telos und NGC wurde die Tradition der Kritischen Theorie, die in den USA weit weniger bekannt war, als man annehmen kann, erstmals umfassend aufbereitet und zugänglich gemacht. Das hieß für die Redaktionsmitglieder – Namen wie David Bathrick, Jack Zipes, Andreas Huyssen, Anson Rabinbach, Paul Piccone oder Russell Jacoby wären hier zu nennen – zunächst, sehr viel zu recherchieren, zu lesen, Texte zu übersetzen und in den Zeitschriften für die Zeit relevante Texte zu veröffentlichen und zu kommentieren, zu diskutieren und zu versuchen, sie zu aktualisieren. Ich habe mich dann schnell gefragt, ob es zu den Redaktionsprozessen Materialien gibt, wie etwa Briefwechsel und Reaktionen der Leser_innen, die eine Dimension zugänglich machen, die in den Zeitschriftenausgaben selbst nicht sichtbar ist. Das hat mich dann in Archive, aber noch öfter in persönliche Sammlungen gebracht, in denen jemand nicht systematisch Material gesammelt hatte, sondern das, was ihm wichtig war. Zum Beispiel hat Martin Jay ein für mich sehr produktives Privatarchiv. Er hat u.a. alle Briefe und Reaktionen zu seinen Büchern aufgehoben, aber auch Korrespondenzen mit den genannten Zeitschriften. Auch bei Paul Breines, der bei Telos in der Redaktion aktiv war, habe ich viel Wertvolles gefunden. Und ich habe natürlich mit Zeitzeug_innen gesprochen, um ein Verständnis der lebensweltlichen, sozialen Dimension der Theorie zu entwickeln, die in Anekdoten und Erinnerungen aufgehoben ist.

 

D: Warum sind Theoriezeitschriften eine wertvolle historische Quelle? Können sie selbst als eine Art Archiv verstanden werden und falls ja, was bildet es ab?

 

R: Theoriezeitschriften, in denen also vorwiegend theoretische Texte veröffentlicht werden, sind eine für die von mir untersuchte Zeit typische Institution. In gewissem Sinne könnte man also sagen, dass diese Zeitschriften ein Archiv für das sind, was für diese Szene, dieses Milieu relevant war. Telos und NGC sind ein Produkt der Krise der New Left der USA, also jener Moment der Selbstbesinnung und des Innehaltens, als die New Left nicht mehr an frühere Erfolge und Mobilisierungen anknüpfen konnte und begann, in verschiedene, miteinander zerstrittene Fraktionen zu zerfallen. Da entstanden solche Zeitschriften, die im Grunde sagten: Wir müssen erst einmal herausfi nden, wo wir herkommen, wo wir uns befi nden und wo wir hinwollen. Und dafür braucht es vor allem Geschichtsarbeit und theoretische Reflexion.

 

D: Was sind Telos und New German Critique für Zeitschriften, wie kann man sich dieses Milieu vorstellen?

 

R:Telos ist die ältere Zeitschrift, sie wurde 1968 von einem großen Redaktionskollektiv in Buff alo gegründet. Wie so oft damals, hat sich das Kollektiv schnell zerstritten und Paul Piccone blieb als Herausgeber übrig. Piccone wurde 1940 in Italien geboren und emigrierte mit seiner Familie in den 1950er Jahren in die USA. Er war eine sehr energetische, produktive, aber auch exzentrische und nicht unumstrittene Figur. Er hat Telos im Grunde im Alleingang zu einem Energiezentrum und Knotenpunkt der Kritischen Theorie in Amerika gemacht. NGC wurde 1973 in Madison, Wisconsin, gegründet und kommt im Grunde aus demselben Milieu. Beide Redaktionen haben Netzwerke geschaff en und Leute dazu geholt, die dann das Milieu der Kritischen Theorie in den USA bildeten, aus dem zahlreiche Aufsätze und Bücher hervorgegangen sind. Telos wurde manchmal als »Bewegung im Kleinen« beschrieben, auch weil sie sowohl in den USA als auch in Kanada »Telos Chapter«, also Gruppen zwischen zwei und zehn Leuten, gründeten, die mal kurz- mal langlebiger waren.

 

D: Unter dem Stichwort Mündlichkeit der Theorietradition beschreibst Du als ein Ziel Deines Buches, die Philosophie als Gespräch mit Polemik, Streit, Ironie und Ambivalenz nachzuzeichnen. Du wolltest Dinge, die in der Philosophiegeschichte und Kommunikationstheorie oftmals verdrängt werden, sichtbar machen. Wie sah diese Mündlichkeit in Bezug auf die Kultur der Zeitschriften aus und in welchem Verhältnis standen die Redaktionen zum Akademischen und den Universitäten?

 

R: Vor dem geschriebenen Text stehen ja zunächst unendlich viele Gespräche, Unterhaltungen und Diskussionen. Telos hat zum Teil versucht im Schriftlichen diese mündliche Kultur zu reinszenieren. Eine meiner Lieblingsquellen ist der Newsletter The Telos Public Sphere, der teilweise auch in der Zeitschrift veröffentlicht wurde. Dort wurden dann Debatten sichtbar gemacht, und aufbereitet, Briefe abgedruckt und im Newsletter darauf reagiert. Der Stil von Telos war durchaus polemisch. Diskussionen wurden enorm scharf geführt und es wurde betont, dass das auch so sein soll und etwas ist, das die Zeitschrift und das Milieu vom normalen akademischen Betrieb unterscheidet. Es gab da eine manchmal ostentativ kultivierte Form des Anti-Akademismus und auch der Universitätskritik – eine Mischung aus inhaltlicher-politischer Kritik an Universitäten einerseits und andererseits einem unangepassten, antiautoritären Gestus, auch wenn die Mehrheit der Redaktion und der Autor_innen natürlich trotzdem Teil der Universität waren.

 

D: In Deinem Buch beschreibst Du die Ambivalenz innerhalb der New Left in Bezug auf die Akademie. Einerseits bilden die Universitäten einen wichtigen Ort der Rezeption der Kritischen Theorie in den USA und andererseits wird innerhalb der Bewegung diskutiert, ob die Beschäftigung mit Theorie denn nicht mehr auf außerakademische Praxis zielen sollte.

 

R: In den USA hat es nochmal ganz stark damit zu tun, dass aus historischen Gründen die Universitäten eigene, geradezu geschlossene Räume bilden und die Distanz zu einer breiteren Öff entlichkeit größer ist. Das ist nicht nur schlecht. Die Campus-Universität, die es in den USA sehr oft gibt, bildet einen eigenen Mikrokosmos, der sowohl Freiraum ermöglicht als auch die Entstehung von Blasen begünstigt. Es macht einen Unterschied, ob man sich nur im akademischen Kontext aufhält, wo man zwar eine gewisse Radikalität kultivieren kann, die aber nie den Raum der Universität verlässt, oder ob Theorie Kontakt zur außerakademischen Lebenswelt hat, wo man mit anderen Leuten in Kontakt kommt und ein anderes Verhältnis zur Wirklichkeit hat. Russel Jacobys Buch The Last Intellectuals (1987), das auch im Kontext von Telos und NGC entstanden ist, hat mich in dieser Hinsicht stark fasziniert. Dort beschreibt er u.a. das Milieu der New York Intellectuals, einer Gruppe von Intellektuellen, die Mitte des 20. Jahrhunderts aktiv waren, die oft nicht aus der Akademie kamen und ihre politische Bildung anderswo erhielten. Sie diskutierten eher in den Cafés und Bars des Greenwich Village als im Seminarraum – anders als akademische Marxisten, wie etwa Frederic Jameson, der bei Jacoby als Gegenbeispiel angeführt wird. Jacoby zeigt, wie der lebensweltliche Kontext einer Theorie ihre Gestalt, also die Art und Weise wie geschrieben wird, als auch das Verhältnis zum Politischen beeinflussen kann.

 

D: Wie sah denn diese Auseinandersetzung mit Kritischer Theorie an den Universitäten und abseits der Unis in den USA aus?

 

R: Hier muss man unterscheiden. Die Kritischen Theoretiker, die ins Exil in die USA gegangen sind, haben bekanntermaßen dort akademisch gewirkt und wurden auch rezipiert. Außerdem entstanden etliche englischsprachige Texte – Horkheimers Eclipse of Reason (1947) wurde beispielsweise explizit für eine anglophone Öffentlichkeit geschrieben –, die man alle schon seit den späten 1940er Jahren hätte lesen können. Das geschah aber, wenn überhaupt, unter Zeitgenossen an den Universitäten und kaum in der New Left. Obwohl man Herbert Marcuse immer als einen der Vordenker der amerikanischen Studentenbewegung anführt, hat Thomas Wheatland in The Frankfurt School in Exile (2009) überzeugend gezeigt, dass er recht wenig gelesen wurde, intensiv erst ab Ende der 1960er Jahre. In den Zeitschriften, in denen man an Kritischer Theorie interessiert war, ging man deswegen zunächst auf Spurensuche nach dem, was in den USA hinterlassen wurde und dann noch weiter zurück in die Frankfurter Zeit. Es gab v.a. zwei Kritische Theoretiker, die noch in den USA waren, zu denen Kontakte hergestellt wurden: Leo Löwenthal und eben Herbert Marcuse. Und es gab Vermittlerfiguren, zumeist Emigranten aus Europa, die mit den dortigen intellektuellen Traditionen vertraut waren oder aus dem Umfeld des Instituts für Sozialforschung kamen, wie Hans Gehrt. Andere waren Kenner europäischer Ideengeschichte, wie H. Stuart Hughes, Martin Jays Doktorvater, und kannten daher das kulturelle Feld, das für die Kritische Theorie wichtig war. Um sich die Theorie zu erschließen, wurden Texte recherchiert und das hieß natürlich v.a. Deutsch zu lernen. Viele sind dann auch für Studienaufenthalte nach Europa, insbesondere nach Frankfurt, gereist. So etwas wie eine institutionalisierte Kritische Theorie gab es in den USA aber nicht. Die ersten größeren Studien stammen von Fredric Jameson und natürlich von Martin Jay, der bei Telos und NGC veröffentlichte; Dialectical Imagination war die erste, auch in Deutschland viel gelesene, intensiv diskutierte Gesamtdarstellung der frühen Kritischen Theorie.

 

D: Eine Theorie als reine Sammlung von Texten hat für sich genommen wenig Lebendiges. Im Titel Deines Buches benutzt Du den Begriff des Nachlebens der Kritischen Theorie. Was drückt sich darin aus?

 

R: An den Begriff musste ich schon denken, bevor ich wusste, welche Geschichte er hat; mir schien, damit könne man etwas Spezifisches über Rezeptionsprozesse zeigen. Dass der Begriff von Aby Warburg stammt, habe ich erst später herausgefunden. Im Begriff des Nachlebens steckt etwas Gespenstisches, eine Mischung aus Anwesenheit und Abwesenheit. Die Idee war, dass es eine theoretische Formation gibt, die sich in ihrer eigenen Zeitlichkeit verortet, immer wieder auf ihren historischen Kern reflektiert und die gewissermaßen an ihr Ende gekommen ist, aber in einer bestimmten Weise weiter präsent ist. Und die Zeitschriften, mit denen ich mich beschäftigt habe, versuchen wiederum jeweils ganz spezifi sch mit diesem Zustand des Nachlebens umzugehen. Sie fragen, was von der Kritischen Theorie noch lebendig ist, was man wiederbeleben kann oder ob manche Aspekte nicht tatsächlich einer anderen Zeit angehören. Dieses Fragen nach der Aktualität reicht bis in die Gegenwart und kann auch durchaus ermüdend sein, weil es sich gewissermaßen konventionalisiert, es gehört aber ganz stark zur Kritischen Theorie dazu.

 

D: Was sagt denn die Kritische Theorie selbst zur Zeitlichkeit von Theorien? Was kann sie uns zum Gang ins Archiv und der Auseinandersetzung mit älteren theoretischen Texten sagen?

 

R: Es gab zwei Zitate, die mich in meiner Arbeit begleiteten und über deren Bedeutung ich in Bezug auf mein Material immer wieder nachgedacht habe. Das erste ist ein Zitat Adornos, wo es sinngemäß heißt, dass sich das Denken bestimmter Begriffe eigentlich dann erst bedient, wenn diese Begriff e problematisch geworden sind. Und dann folgt diese schöne Formulierung: »Die Besinnung, die sich ihrer dann bemächtigt, sucht sie mit halbem Herz und doppelten Eifer zu erretten«. Mit halbem Herz heißt nicht vollständig überzeugt davon, dass das eigentlich noch funktioniert. Und mit doppeltem Eifer heißt mit gesteigerter politischer Leidenschaft, mit gesteigertem Engagement, was die Arbeit dieser Zeitschriften ganz gut beschreibt. Der Bezug zur eigenen Zeit war für sie nicht selbstverständlich, sondern Gegenstand ständigen Nachdenkens und Debattierens. Das wurde getan mit gesteigerter Energie und Intensität, die für die Theoriearbeit der Sechziger Jahre und danach charakteristisch ist. Das zweite Zitat stammt aus Horkheimers Traditionelle und kritische Theorie. Dort heißt es: »Die Dokumente haben eine Geschichte, aber nicht die Theorie ein Schicksal«. Hier steckt das drin, was an anderer Stelle als »Zeitkern« beschrieben wird. Also, dass es natürlich so ist, dass diese Texte gespeist sind aus teils weit zurückreichenden Traditionen und sich beziehen auf eine Gegenwart, die von der Gegenwart derer, die sie dann lesen, weit entfernt ist, die sich verändert hat. Und trotzdem soll das nicht bedeuten, dass diese Texte gekettet sind an die historischen Verhältnisse, auf die sie sich beziehen. Im Zuge meiner Untersuchung der Zeitschriften habe ich versucht, das nachzuvollziehen. Also der Geschichte, die die Dokumente haben, gewahr zu werden und gleichzeitig sie nicht auf ein Schicksal festzulegen, sondern sie zu der jeweils anderen Gegenwart zu öff nen.

 

D: Du machst ja auch den Punkt stark, dass die US-Rezeption durch eine kulturelle Distanz geprägt ist. Die Kritische Theorie ist in Europa entstanden und in den USA weitergeführt worden. Adorno benutzte ja für die Arbeiten, die während des US-Exils entstanden, die Metapher der Flaschenpost ins Ungewisse. Könnte man sagen, dass der Transport der Kritische Theorie in die USA eine Art Flaschenpost aus einem europäischen Kulturkontext dargestellt hat?

 

R: Man könnte sagen, dass diese Ferne von Europa oder diese Exterritorialität in einem hohen Maße dafür verantwortlich war, gewisse Aspekte wahrzunehmen, etwa die deutsch-jüdische Tradition. Im Vergleich zu Telos hatten bei NGC mehr Leute eine amerikanisch-jüdische bzw. nach Europa zurückreichende jüdische Biografie. NGC hat sich auch deshalb, vermittelt v.a. durch den in Madison lehrenden Historiker George L. Mosse, sehr viel stärker der jüdischen und deutsch-jüdischen Dimension der Kritischen Theorie genähert, die nicht immer gleichermaßen in den Debatten präsent war. Es gab Zeiten, da wurde die Kritische Theorie im Wesentlichen als undogmatische Spielart des Marxismus wahrgenommen und weniger als eine auch sehr spezifische Verarbeitung einer jüdischen Erfahrung in Deutschland. Das aufzuarbeiten und sichtbar zu machen, ist zu einem nicht geringen Maße der Verdienst von NGC.

 

D: Wie hat sich die Kritische Theorie in der Rezeption oder auch die Rezeption selbst in Amerika verändert? Was hat die amerikanische New Left im ›Archiv‹ der Kritischen Theorie erblickt?

 

R: Die Verschiebung in den Bereich der Kultur und überhaupt eine Auseinandersetzung mit der Sphäre der Kultur statt mit derjenigen der Ökonomie kann man als ein Indiz der Anpassung an amerikanische Verhältnisse werten. Eine These, die sich im Laufe der Arbeit aufgedrängt hat, ist, dass sich in den USA eine Entmarxifizierung der Kritischen Theorie vollzogen hat, die in den Unterschieden zwischen Amerika und Europa gründet. Einer dieser Unterschiede besteht darin, dass in den USA der Marxismus und der Sozialismus eine geringere Wirkung entfalteten als in Europa, u.a. weil das Verhältnis zu Klasse ein anderes ist, weil das Gemeinwesen darauf angelegt ist, Zuspitzungen und Antagonismen zu neutralisieren, weil das bürgerliche Glücksversprechen eine andere lebensweltliche Schwerkraft hat. Verhandelt wird das unter dem – nicht unproblematischen aber durchaus bedeutsamen – Begriff des amerikanischen Exzeptionalismus. In diesem Zusammenhang deute ich dann viele der Debatten einerseits als ein Erschließen von europäischen Traditionen und implizit aber auch als eine Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Gemeinwesen. In diesen Prozessen wird bemerkt, dass einiges in den USA so nicht funktioniert. Ich habe zum Beispiel anhand der Zeitschriftentexte versucht sichtbar zu machen, dass Interpreten durch die Auseinandersetzung mit der Kritischen Theorie gemerkt haben, dass dem Begriff des Proletariats in den USA eine andere Bedeutung zukommt als in Europa. Zwar kann man ihn natürlich als Analysekategorie verwenden, auf der Ebene des Bewusstseins und der lebensweltlichen Realität greift er aber zu kurz, u.a. weil es in den Vereinigten Staaten zu einer bis heute wirksamen Amalgamierung von Klasse und race gekommen ist.

 

D: Blickt man auf die Kunst, politische Theorien oder Bewegungen scheint das Archiv - als Ort und Metapher - gegenwärtig Konjunktur zu haben. In unseren Diskussionen haben wir diese Rück- oder Hinwendung zum Archiv auch als ein Ausdruck einer Zukunftslosigkeit diskutiert: Ein Begriff, der vor allem von Mark Fisher geprägt wurde, etwa in seinem bereits etwas abgegriffenen Bonmot, dass es einfacher ist, sich das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus vorzustellen. Was ist Deine Einschätzung als deutscher Übersetzer seiner Schriften, wie hat Fisher solche Formen des Vergangenheitsbezugs und das Verschwinden utopischer Phantasien theoretisiert?

 

R: Fisher sieht mit Theoretikern wie Frederic Jameson oder Simon Reynolds im Hintergrund ein Recyclen von Elementen der Vergangenheit als Signum seiner Gegenwart; Reynolds hat dafür den Begriff der Retromanie verwendet. Fragmente und Momente von vergangenen kulturellen Formen oder historischem Material werden quasi mechanisch in die Gegenwart transponiert. Es ist diese Mechanik, die zu einer omnipräsenten Unbeweglichkeit und Statik im kulturellen Bereich führt. Fisher knüpft in seiner Kritik der Popkultur und der Kunst im Grunde an die Tradition der ästhetischen Moderne an, in der die Idee des Neuen von entscheidender Bedeutung war, insofern, als dass das ästhetisch Neue auch die Möglichkeit eines politischen Neuen verbürgt, einer besseren Welt, einer befreiten Gesellschaft oder welchen Namen auch immer man diesem Neuen geben möchte. Viele seiner Texte handeln von der Suche in der Vergangenheit nach einer Zukunft, die nicht eingetreten ist. Er nimmt Momente in den Blick, in denen die Dinge noch nicht so entschieden waren, wie sie sich für Fisher in seiner Gegenwart darstellten. Das macht er dann anhand unglaublich vieler Gegenstände, seien sie aus der Musik, der Literatur oder dem Film. Das war etwas, was mich sehr fasziniert hat, als ich Fisher kennengelernt habe.

 

D: Du hast eben den Begriff der Retromanie ins Spiel gebracht. Gibt es einen Unterschied zu Begriffen wie Nostalgie oder Melancholie? Was ist das Manische an diesem Rückbezug?

 

R: Ich glaube die Nostalgie, die Fisher kritisiert hat, ist eine, die um das verlorene Objekt trauert, ohne zugleich noch das Neue zu wollen. Eine Art Trauer, in der das, was verloren ist, einfach verloren ist. Der Verlust ist zum einen libidinös besetzt und wiegt zum anderen schwerer als die Hoff nung oder Sehnsucht, die sich mal mit dem verlorenen Objekt verbunden hat. Fisher bezieht sich dabei auch auf Sigmund Freud und seine Texte über Trauer und Melancholie. Dabei geht es um die Frage, ob man um das verlorene Objekt trauern kann, weil man anerkennt, dass es verloren wurde oder, ob man an ihm festhält und es in einer bestimmten Form bewahrt. Das ist die melancholische Form. Im einführenden Text von Gespenster meines Lebens gibt es einen längere Passage, in der Fisher (2015) seine Idee der Hauntology erklärt. Der Begriff geht auf Jacques Derrida zurück und meint die Suche nach dem, was noch herumspukt, was gespensterhaft weiterhin anwesend ist. Diese Suche grenzt Fisher allerdings ab von bloßer Nostalgie, der reinen Sehnsucht nach Vergangenheit. Vielleicht ist das auch keine schlechte Unterscheidung: Die Nostalgie, die Fisher kritisiert, ist eine, die sich nach der Vergangenheit zurücksehnt, während die Trauer, die ihn motiviert, die um die verlorene Zukunft ist. Er blickt aus Trauer um die verlorene Zukunft in die Vergangenheit, nicht weil er etwas aus der Vergangenheit wiederherstellen möchte.

 

D: Woher kommt dieser Verlust der Vergangenheit? Beziehungsweise welche Gründe findet Fisher für das Verschwinden der Utopie, der Sehnsucht und dem Willen nach dem politisch Neuen?

 

R: Einerseits gibt es Entwicklungen und eine Veränderung von Verhältnissen, die durch das, was Fisher Neoliberalismus nennt, vorangetrieben wird. Der Neoliberalismus, also die Zeit seit den frühen Siebziger Jahren, geht einher mit der Schließung des Zukunftshorizonts. Die Erwartungen schleifen sich ab. Bestimmte ideologische Kernelemente des Neoliberalismus, eine Flexibilisierung, eine bestimmte Form von Mobilität, eine bestimmte Form von Informalität, verspricht ja, mehr Dinge gleichzeitig tun zu können. Und zugleich verunmöglicht es diese auch: Verunmöglicht, Dinge richtig oder überhaupt zu tun. Flexiblere Arbeitszeiten führen ja nicht dazu, dass man mehr Freizeit hat, sondern dazu, dass sich die Lohnarbeit in das, was mal Freizeit war, hineinfrisst. Es gibt einen schönen Text von Fisher über Langeweile mit dem Titel Niemand ist gelangweilt, alles ist langweilig. Denn die Zeit, in der man tatsächlich gelangweilt sein konnte, weil es freie Zeit, losgelöst vom Zwang zur Produktion, gab, die gibt es kaum noch. Zumindest in einer bestimmten Schicht ist alles eins. Langeweile setzt die Trennung von Zeitsphären voraus, die im Neoliberalismus nicht mehr gegeben ist. Und gleichzeitig gibt es eine Statik des Kulturellen und der Lebenswelt, in der im Grunde, so Fisher, alles langweilig ist, weil nichts Neues mehr entsteht.

 

D: Du hast über den Beginn des Neoliberalismus gesprochen und dass der Zeithorizont oder die Unterteilung in verschiedene Zeitlichkeiten für Fisher in den frühen Siebziger Jahren verloren geht. Ähnlich wie für das Archiv lässt sich derzeit auch eine gewisse Faszination für die Siebziger feststellen, die jene für die Sechziger langsam einholt. In eigentümlicher Weise erhofft man sich in diesem Jahrzehnt vergangene Antworten auf gegenwärtige Fragen zu finden.

 

R: In der unvollendeten Einleitung zu dem Buch Acid Kommunismus, an dem Fisher gerade arbeitete, als er sich 2017 das Leben nahm, heißt es, der ikonische Rückgriff auf die Sechziger Jahre funktioniere nicht mehr, weil uns dieses Jahrzehnt nur noch als ständige Wiederholung ihrer Bilder gegeben ist. Es ist eine medial und kulturindustriell überformte Zeit, die dadurch zu etwas wie ihrer eigenen Simulation geworden ist, die immer als Beginn von allem Guten oder allem Schlechten aufgerufen wird. Fisher meint, man müsse eigentlich in die Siebziger schauen. Denn das, was er mit den Sechzigern verbindet, nämlich eine bestimmte Form von Aufbruch, Fortschritt, politischen Allianzen, vollziehe sich an vielen Orten erst in den Siebzigern. Eines seiner Beispiele ist das Lied Psychedelic Shack von The Temptations. Mehrere Momente sind da für ihn wichtig: Das Psychedelische, das er zwar auch, aber nicht nur mit Drogen verbindet, steht da für eine Art ästhetisch-politischer Phantasie. Dann ist da der im Text angesprochene »shack«, also ein Schuppen, der direkt um die Ecke ist. Alles ist ganz nah, alle können reinkommen, die Armen und die Reichen. Und im Inneren herrscht eine unaufdringliche Leichtigkeit und Offenheit, es geschieht nichts Exzessives. Im Songtext heißt es: Du kannst dich hinsetzen, wo du willst, du kannst aber auch stehen. Leute können sich unterhalten oder nicht. Die Atmosphäre wird ganz locker und unaufgeregt als eine kollektive beschrieben, die gar nicht davon lebt, dass irgendetwas aus dem Inneren geholt oder etwas befreit wird und man in eine ganz andere neue Welt eintritt. Sondern das Neue steckt als eine gewisse Form von Alltäglichkeit im Gegenwärtigen. Darin steckt natürlich auch ein Hauch Hippie-Romantik, aber ohne den Hang zum Esoterischen und Inwendigen. Das ist ein ganz gutes Beispiel für die Art und Weise, wie Fisher sich ästhetischen Phänomenen widmet. Er nimmt in diesem Fall ein Werk, in dem gerade keine ganz exaltierte, wilde, neue Welt evoziert wird, sondern etwas ganz Alltägliches, das »nur« anders arrangiert wird und dadurch etwas Neues zum Ausdruck bringt. Das finde ich sympathisch.

 

Das Gespräch mit Robert Zwarg führten Laura Schilling, Lenz Koppotsch und Louis Pienkowski.