Das größte Problem unserer politischen Kultur derzeit scheint darin zu liegen, dass die Verhältnisse ihrer eigenen Karikierbarkeit davonlaufen. Eine Zeit lang war für dieses Phänomen der etwas schwurbelige Begriff »Realsatire« im Schwang. Die Praxis und die komische Übertreibung würden demnach ineinander verschwimmen. Das mag bei einzelnen Personen oder Ereignissen sehr treffend einer Selbstverzerrung zur Kenntlichkeit entsprechen. Wie aber, wenn ein Großteil einer Gesellschaft die eigene Verfasstheit, die eigene Regierung ohnehin, nur noch als »Realsatire« wahrnimmt? Oder, noch einen Schritt weiter: Was, wenn sich Gesellschaft und Staat bereits vorwiegend als Realsatire inszenieren?

Ironie und Satire sind notwendige Begleittechniken der Aufklärung und sie sind Überlebensmittel in finsteren wie in grauen Zeiten. Ihr großer Nachteil liegt darin, dass sie, im Übermaß eingesetzt, von der Kritik zum Fatalismus führen – und aus dem bei Bedarf sich öffnenden Ventil von Lachen über die Verhältnisse werden die gewaltigen Schornsteine der affirmativen Lachindustrie. Der demokratische Fürst gibt sich durchaus gerne der Lächerlichkeit preis, wohl wissend, dass die strukturelle und massenhafte »Majestätsbeleidigung« nicht das Geringste an der Macht ändert. Politik, Wirtschaft, Kultur und Medien als großen Witz zu verstehen, ist eine doppelte Erleichterung; es verwandelt Entfremdung in einen (bescheidenen) Lustgewinn und es erklärt eine gewisse Distanz. Wer über sie lacht, macht die Verhältnisse doch nicht einfach mit, oder?

So etwas scheint das allgemeine Empfinden zu belegen: Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst. Weltgeschichte und Politik, Sprache und Kultur, Ethik und Ästhetik: Vor unseren Augen hebt sich das auf als großer Witz. Der mächtigste Mann der Welt, die mächtigste Frau der Welt: Der eine hat von nichts gewusst, und für die andere ist das Internet noch Neuland. Idole und Führer, Vorbilder mithin, es genügen ein paar Daten-CDs und man sieht sie, wie sie sich die Taschen füllen und nicht genug bekommen können. Fundamentalopportunist_innen rudern mal dahin und mal dorthin, nur eine Linie wird nie verloren, die der eigenen Macht. Man kann gar kein noch so albernes Vorurteil über Menschen mit politischer und ökonomischer Macht haben, das nicht stantepede übertroffen wird. Nein, ernst nehmen kann man diese Mächtigen wirklich nicht mehr. Und das macht uns wohlig und gerade richtig temperiert erregt, dass der Kaffee noch schmeckt. Gerade haben wir noch »gewählt«. Pruuust!

Wir haben es uns nämlich, ob wir es nun »Postmoderne« nennen oder nicht, in einer Kultur bequem gemacht, in der man lernt, nichts wirklich ernst zu nehmen. Menschen, die mit heiligem Eifer ein hehres Ziel, die Weltrevolution oder die Rettung des Sauwaldschlösschens, verfolgen, oder die sich noch »richtig« aufregen können, bekommen leicht etwas unfreiwillig Komisches. Man sieht solchen Menschen dabei zu, wie sie sich verrennen, wie sie zu Karikaturen ihres Engagements, wie sie grotesk werden in diesem asymmetrischen Kampf zwischen einem System, das selbst seine Protagonist_innen bescheißt, und seinen_ihren Kritiker_innen, die man gerne schon einmal in der Psychiatrie verschwinden lässt oder anderswie zum Schweigen bringt. Wer sich ernsthaft aufregt, beweist nur seine Ahnungslosigkeit.

Oh, dieser Eifer, der zur Selbstgerechtigkeit mutiert! Dieser heroische Aufbruch in die selbstorganisierte Tütteligkeit. Gelten lassen könnten wir nur jene Formen des Protestes, die selber Spektakel werden, selber Ironie, Unernst und Distanz aufnehmen. Kein Wunder, dass die einzige gemeinhin verbreitete und akzeptierte Form der fundamentaleren Dissidenz und der politischen Opposition im angewandten Kabarettismus liegt. Die Kritik in der Kultur des Unernstes ist, wie man so sagt, zur Kleinkunst geworden. In unseren Leitmedien kommt ein wahres Bild unserer Verhältnisse nur in Form der Satire vor. Und wie das Kabarett die Aufgaben der politischen Kritik hat übernehmen müssen, so wurde Gesellschaftskritik oder, ganz allgemein gesprochen, Ethik zur Sache launiger Kolumnen, die von jedem Blödsinn handeln können und doch immer nur von einem: dem Recht des Subjekts, sich über allen gesellschaftlichen Wahnsinn erhaben zu fühlen. Der Kolumnist, die Kolumnistin erklären unter dem Beifall ihrer Leser_innen die Welt zwischen Kleinbürgeralltag und Weltgeschichte zum Tollhaus, von dem man sich, mindestens für die Lektürelänge, entfernt fühlen darf. Als einzige Rettung haben sie ihre elegante, sarkastische und, wenn es sein muss, auch durchaus nihilistische Ironie zu bieten. Wie auch anders? So wenig man nämlich dem Gegner machttechnisch gewachsen ist, so wenig ist er kulturell auch nur satisfaktionsfähig. In Deutschland, sagt man, genügt es, um Erfolg zu haben nicht, ein Arschloch zu sein – man muss auch noch ein dummes Arschloch sein. Und in solchen Überdrehungen von Kabarettismus und Kolumnismus hat man innerlich mit dem System abgeschlossen, das man »eigentlich« als unerträglich empfindet.

Kabarettismus und Kolumnismus sind die angemessenen Formen der Kritik in einer Gesellschaft des Unernstes. Gegen deren Protagonist_innen ist im Übrigen ganz und gar nichts zu sagen – viele von ihnen machen ihren Job ausgezeichnet. Und manche von ihnen sogar so gut, dass sie auch noch öffentlich darüber nachdenken können, dass sie unterm Strich selber als »Ventilöffner« eben diese Kultur des Unernstes unterstützen, die im Wesentlichen einer Gesellschaft entspricht, die sich nicht ändern will, oder wenigstens nicht merken will, wie sie sich ändert. Das Unernste, Unleidenschaftliche, Unkämpferische ist allerdings nicht nur die lustvollste Art der Kapitulation vor den Verhältnissen, es beinhaltet auch die Verachtung des Leidenschaftlichen, Kämpferischen und Ernsten. Es ist indes eben das Gebot des Unernstes zu übersehen, dass Veränderung durchaus stattfindet. Allerdings ohne uns.

Kabarettismus und Kolumnismus erklären die Verhältnisse zwar als absolut wahnsinnig und durchschaubar korrupt, sie erklären aber zur gleichen Zeit, dass man ihnen nicht »ernsthaft« zu Leibe rücken wird. Der Unernst markiert mithin nicht nur einen Bruch zwischen den Mächtigen und den Ohnmächtigen, sondern auch einen Pakt. Der Unernst generiert eine Illusion der Freiheit, die es in Wahrheit nicht gibt. Wird das, was kabarettistisch oder kolumnistisch gesagt werden darf, »im Ernst« wiederholt, reagieren Gesellschaft und Staat gleich ganz anders. Vom Shitstorm über ökonomischen Druck bis zum Geheimdienst, man hat da so seine Mittel.

So wird die Kultur des Unernstes zum Käfig des politischen Bewusstseins. Hier darf es sich austoben, wenn es die Grenzen dieser abgezirkelten Kultur nicht verlässt. So ist, nur zum Beispiel, eines der wenigen Dinge, die dem Kabarettismus strikt verboten sind, eine kritische Reflexion der Abhängigkeiten in den eigenen Medien.

Die Kultur des Unernstes ist ein probates Mittel, um mit der Entfremdung umzugehen. Jedes Format, in dem sich Mächtige und mehr oder weniger Ohnmächtige miteinander verständigen, erhält sein parodistisches Echo. Und in der Kultur des Unernstes schrauben wir, merklich oder unmerklich, unsere moralischen und intellektuellen Erwartungen an die »Leader« in Politik, Wirtschaft und Kultur herunter.

Auch Oma, die sich darüber wundert, wie Politiker_innen etwas tun und das Gegenteil davon sagen, ist zweifellos nicht von dieser Welt: Oma! Das weiß doch jeder, dass man die nicht ernst nehmen darf! Es weiß doch jeder, dass wir belogen, ausgetrickst und bespitzelt werden. Es weiß doch jeder, dass unsere billige Nahrung mit Blut und Tränen anderswo bezahlt wird. Es weiß doch jeder, dass wir nichts dagegen machen können. Das Gebot von Unernst und Abklärung geht so weit, dass »rationalisierende« und analysierende Kritik an herrschenden Zuständen, an Kulturwaren, an Ausbeutung erhebend lächerlich wirkt. Rechthaberische Spaßverderber! Es genügt eine Allusion zum »Lehrerhaften« herzustellen, um sich Kritik vom Leib zu halten, was im Übrigen ein Seitenlicht auf das zutiefst gestörte Verhältnis der Kultur des Unernstes zur »Bildung« wirft. Distanziert und ironisch zu bleiben, neben sich und neben der Welt, jeden Aufschrei mit einem sarkastischen »Als ob wir das nicht wüssten« zu beantworten, statt auf Marx und auf die »Simpsons« zu verweisen, die Ambivalenz von allem und jedem zu genießen, das scheint die adäquate Einstellung für eine Gesellschaft, in der es unschicklich scheint, Subjekt der Geschichte werden zu wollen. Wer aber macht die Geschichte, wenn wir sie nicht machen?

Ich bin gespalten. Ich wünsche mir keine Rückkehr der Sauertöpfe und der Rechthaber_innen, schon gar keine der Stalinist_innen und Seminarist_innen. Zu Recht misstraut die Kultur des Unernstes den großen Welterzählungen und heroischen Mythen der Geschichte, zu Recht misstraut sie Lösungen, Modellen, Projektionen, Held_innen und Vordenker_innen; zu Unrecht aber glaubt sie, man könne sich durch Ironie, Moderation und Distanz von der Verantwortung für den Lauf der Dinge befreien. Zu Unrecht glaubt sie an eine Möglichkeit, sich rauszuhalten und trotzdem alles zu sehen. Zu Unrecht glaubt die Kultur von Abklärung und Unernst, den Mächtigen sei am besten mit taktischer Nachgiebigkeit und einem Hauch von Subversion zu begegnen. Leidenschaftliche und zornige Gesten erscheinen in dieser Kultur als kindisch, vulgär und unangenehm. Höchstens ein paar Greise dürfen sie noch einfordern. Leute mit ernsthaften Überzeugungen tun ansonsten vor allem eines: Sie gehen uns auf die Nerven.

Und das hat natürlich seine Gründe. Bislang hat doch noch ein jeder zu Ende gedachter Gedanken nichts als Terror oder Wahn mit sich gebracht. Bislang ist aus jeder Überzeugung eine Ideologie, und aus dieser ein neuer Unterdrückungsapparat geworden. Bislang waren Meinungen vor allem Waffen. Menschen ohne Meinungen aber mit einem Gespür für den richtigen Geschmack, auch in der Politik, sind angenehme Zeitgenossen. Und was hatten »die 68er« von ihrer Besserwisserei und ihrem missionarischen revolutionären Eifer? Dass sie jetzt an allem, wirklich an allem Schuld sind: an der Finanzkrise, an schlechten deutschen Filmen, an der Bildungsmisere und an Angela Merkel. Ja, genau besehen sind sie sogar daran schuld, dass wir jetzt nichts mehr Ernst nehmen können.

Unsere Kultur ist beileibe nicht die erste Kultur, die sich die Kunst, nichts wirklich Ernst zu nehmen, zum Fluchtpunkt wählt. Im vorrevolutionären Frankreich zum Beispiel war eine solche Kultur verbreitet, in der ein Kerl wie Jean-Jacques Rousseau einen sonderbaren Schrecken verbreitete, nur weil er die Dinge, das Theater, die Pflanzen im Garten oder die Erziehung etwa, plötzlich wieder ernst nahm. Aber das hatte er ja dann auch von seinem Eifer, dass man seine Bücher verbrannte, ihn verfolgte und als Puppe aufhängte. Und der Ernst kehrte auf blutige, falsche Weise zurück.

Immer geht es darum, das »Involvieren« zu vermeiden. In der Kultur des Unernstes spaltet sich die Gesellschaft in eine Minderheit, die zu viel involviert ist, die zu viel Verantwortung, zu viel Besorgnis, zu viel Ernst, womöglich sogar zu viel Moral zeigt, und in eine Mehrheit, die sich aus allem raushält. Es ist nicht der Leidenschaftliche und Zornige, der absurd und komisch wird in der Kultur des Unernstes, es ist der sich immer weiter öffnende Abgrund zwischen ihm und dem Zentrum dieser Kultur. Der_die Kritiker_in, der_die sich und seinen_ihren Gegenstand bedingungslos ernst nimmt, kann nur verrückt sein.

Die Kultur des Unernstes ist entstanden aus berechtigter Skepsis gegenüber Dogmen, Welterklärungsmodellen, Verschwörungstheorien, moralischem Eifer, Propaganda etc. Aber sie ist auf dem besten Weg, eine Gesellschaft der grausamen Gleichgültigkeit zu werden, eine Gesellschaft, die aus lauter Ironie und Moderation der politischen Leidenschaften gar nicht mehr erkennt, dass sie selber zu etwas von dem geworden ist, was sie fürchtet. Denn auch die Abklärung hat so ihre Dialektik, auch sie kann zum Dogma und zum Wahn werden. Im Namen der Moderation, im Namen des »Alles-nicht-so-schlimm« oder des »Alles-Dogma-außer-uns« kann man genau so tückisch, intolerant, gewalttätig argumentieren wie im Namen einer Ideologie. Diese Form der spöttischen Affirmation, der ironischen Mitmacherei (wie sie sich so trefflich in der Sprache des Spiegels ausdrückt), der besserwissenden Konventionalität ist selber zum Mainstream-Dogma der Gesellschaft des Unernstes geworden. Wie eine schief laufende Aufklärung, so kann auch eine schief laufende Abklärung die Menschen blind machen. Wie eine schief laufende politische Passion, so kann auch eine matte Leidenschaftslosigkeit in den Abgrund führen. Und wie falsches Tun, kann auch falsches Nichtstun Verrat an den Hoffnungen auf eine menschliche Zukunft sein.

Der Abschied von der politischen Kultur des Unernstes kommt bestimmt. Es wäre zu wünschen, ihn in vollem, oder wenigstens in Dreiviertel-Bewusstsein zu vollziehen. Und wenn wir den Mächtigen erklären, dass wir sie und ihre Worte nicht mehr ernst nehmen, dann soll das nicht mehr heißen, dass sie getrost so weiter machen können wie bisher.

 

Georg Seeßlen