»Nazis haben keinen Humor«
diskus: Sie haben sich zuletzt ausführlich mit der NS-Schülerzeitschrift »Hilf mit!« beschäftigt. Diese Zeitschrift haben Sie und ihre Mitarbeiter_innen unter dem Stichwort »Indoktrination« analysiert. Inwiefern ist Humor eines der Mittel, die zu diesem Zweck verwendet wurden?
Ortmeyer: Der Begriff des Humors steht in diesem Kontext als erstes zur Debatte. Was die Nazis gemacht haben, war mit Sicherheit zu versuchen, Menschen lächerlich und dadurch verächtlich zu machen. Das ist nicht unbedingt Humor – ja eigentlich gar kein Humor – aber die technischen Mittel, die Humor – der echte Humor – nutzt, die haben auch die Nazis benutzt.
In der »Hilf mit!« wurden etwa Karikaturen verwendet, um Gegner des NS-Systems lächerlich zu machen. An ein Beispiel dafür hat sich ein Leser dieser Zeitschrift noch 40 Jahre später, im Internet, erinnert: Es gab in dieser Zeitschrift eine Zeit lang »lustige« Geschichten von einem Till, der durchs Land zieht. Dieser Till diskutiert mit Zeitgenoss_innen, die noch nicht ganz vom NS-System überzeugt sind. Zum Beispiel trifft er auf jemanden, der sagt: »Aber es gibt doch auch anständige Juden«. In typischer Nazi-Ideologie wird dies widerlegt mit dem Argument: »Es gibt doch auch keine anständigen Wanzen.« Das Ganze wird begleitet mit einer Karikatur, in der dieser Till mit einer Lampe bei Sonnenschein durch die Straße läuft. Ein Mann fragt ihn: »Was suchst du denn mit der Lampe bei hellem Licht?« Die Antwort: »Einen anständigen Juden.« Das ist ein Beispiel dafür, wie die mündliche und schriftliche Indoktrination durch Gedächtnisanker, wie einer Karikatur, festgehalten wurde.
Der Witz am Humor besteht – wie Freud schon in seiner großartigen Schrift über den Witz herausgearbeitet hat – immer darin, dass man jemanden hat, der einen Witz erzählt; jemanden, der einen Witz hört und entsprechend reagiert; und in Fällen wie diesem eben auch Leute, über die man sich lustig machen kann. Und nun gibt es zwei extrem unterschiedliche Formen des Witzes. Der Witz kann sich gegen »die unten« richten, aber er kann sich auch gegen »die Oberen«, gegen die Herrschenden richten. Diese beiden Arten des Witzes werden von Freud sehr genau unterschieden. Damit will ich sagen, dass es im Grunde einerseits um Witztechnik geht und andererseits um den viel größeren und wichtigeren Begriff des Humors.
diskus: Freud beschreibt Humor als ich-stabilisierend. Wenn man davon ausgeht, dass im NS die Einzelnen ihr Ich aufgeben und in der Volksgemeinschaft aufgehen, wie ist diese Einsicht Freuds dann zu übertragen? Trotz dieses Aufgehens im Volk, wurden ja beispielsweise antisemitische Witze erzählt. Verschiebt sich diese Funktion des Humors, die Freud beschrieben hat, dann?
Ortmeyer: Humor ist eine Stabilisierung des Selbstbewusstseins, aber – und das ist meine Grundthese: Nazis haben keinen Humor, können keinen Humor haben, weil sie an Aufklärung nicht interessiert sind. Weil sie an der Stärkung eines bewussten Ichs – es heißt ja Selbstbewusstsein – auch kein Interesse haben. Was die Nazis mit ihrer Witztechnik allerdings gestärkt haben, das ist eine bestimmte Gruppendynamik: das Gefühl der Stärke. Weil man über den Anderen steht, wenn man sich über sie lustig machen kann, wenn man sie verfolgt, weil man dann konkret auch stärker ist als andere Gruppen in einer bestimmten Situation. Dieses Gefühl der Stärke ist auch in den Nazi-Witzen bzw. ihrer Witz-Nutzung enthalten. Der Einzelne, der sich gerade mit lautem Lachen über jemand lustig macht, fühlt sich danach stärker, geht fünf Zentimeter größer durch die Gegend, hat das Kinn oben. Aber eben das kann gerade nicht die Stärkung eines wirklich selbstbewussten Ichs sein, weil nach Freud und auch nach Marx klar ist, dass der andere Mensch nicht die Grenze für die eigene Entwicklung ist, sondern eine Bereicherung – und dass das gemeinsame Sich-Entwickeln die Voraussetzung für ein wirkliches Selbstbewusstsein eines Menschen darstellt, der Teil der Menschheitsgattung ist. Genau das Gegenteil findet sich bei dieser Gruppendynamik und bei der Nazi-Witztechnik.
diskus: Wenn Sie den Begriff der »Witztechnik« stark machen: Lassen sich denn auf der Ebene der Form Witze unterscheiden? Gibt es – wenn man vom Inhalt absieht – Unterschiede zwischen Witzen in der »Mickey Mouse« und der »Hilf mit!«?
Ortmeyer: Der Begriff Witztechnik enthält ja schon die Grundidee, dass diese Technik zum Guten wie zum Schlechten verwendet werden kann. Ein Beispiel für Witztechnik: Die Karikatur überzeichnet. Das ist an und für sich einfach ein Stilmittel, eine Technik. Ich würde daher nicht sagen, dass durch die Witztechnik allein – ohne Inhaltsanalyse – festgestellt werden kann, ob ein Witz dazu dient, aufzuklären oder verächtlich zu machen. Das entscheidet sich am Inhalt. Die Technik ist diesem Inhalt gegenüber nicht völlig, aber weitgehend unabhängig. Deswegen kann ein guter Karikaturist, der seine Meinung gewechselt hat – zum Beispiel ein Wendehals, der in der NS-Zeit judenfeindliche Karikaturen gezeichnet hat –, später durchaus auch mit seiner guten Technik politisch aufklärerische Witze zeichnen, wenn er dafür Geld bekommt und ein charakterloser Mensch ist, der eben macht, was ihm befohlen wird.
diskus: Sie haben gerade antisemitische Karikaturen angesprochen. Kann man davon sprechen, dass diese Karikaturen ein Feld sind, in dem neue Bilder und Ressentiments entstehen oder werden letztlich bestehende Bilder in Witze gegossen?
Ortmeyer: Ich denke, es gibt hier eine zu verfolgende Wechselwirkung. Bestimmte Argumentationsstränge der Judenfeindschaft werden in den Köpfen der Menschen verankert durch die Witztechnik der Karikaturen – werden aber dann selbstredend durch die Karikaturen auch noch weiter entwickelt, verfeinert, vergröbert und mit dramatischen Untertönen belegt. Ein Beispiel ist der Begriff der Judensau: natürlich sind die entsprechenden Karikaturen und auch die im Straßburger Münster eingemeißelte Darstellung der so genannten Judensau fester im Gedächtnis der Menschen verankert als bestimmte Schriften. Das heißt, die Wichtigkeit dieser Karikaturen mit dieser Witztechnik und dieser Verächtlichmachung ist natürlich enorm, aber das Gedankengut ist nicht durch diese Karikaturen hervorgebracht worden, sondern die Karikaturen sind ein Popularisierungselement für solche Vorurteile und solche judenfeindlichen Klischees.
diskus: Hat Humor eine pädagogisch – oder politisch – wertvolle Funktion? Wenn ja, woran lässt sich diese Funktion festmachen, wenn man von einer zunächst neutralen Witztechnik ausgeht?
Ortmeyer: Damit ist die Dialektik des Witzes angesprochen. Und es gibt eine lange Debatte mit reaktionären Erziehungswissenschaftler_innen, Pädagog_innen, die behaupten, dass Humor für Kinder gar nicht gut sei. Ich bin ganz entgegengesetzter Meinung und denke, auch sehr kleine Kinder können durch Humor schon lernen. Vor allem auch lernen, ihn nicht zu benutzen, um sich über andere – Schwächere vor allen Dingen –, andersartig Aussehende oder sonst wie stigmatisierungsanfällige Kinder lächerlich zu machen.
Ich möchte folgendes Beispiel geben: Es gibt für Kindergartenkinder das durchaus pädagogisch sinnvolle Spiel »Alle Vögel fliegen hoch«. Auf einmal heißt es »Alle Elefanten fliegen hoch«. Das ist lustig, weil es eine Verwechslung enthält, eine Absurdität, und Kinder lieben den Sinn und den Unsinn. Die Wechselwirkung von Sinn und Unsinn bei diesem Elefanten, der hochfliegt, führt dazu, dass kleine Kinder etwas über Tiere lernen: nämlich dass sie fliegen können oder nicht fliegen können – was nicht jedem Kind bei jedem Tier sofort klar ist. Gleichzeitig kann dieser aufklärerische Witz – der dazu dient Humor auch ein Stück weit zu erlernen, indem man mit Sinn und Unsinn spielt – dazu führen, dass jemand, der die Hände hochhebt und denkt, dass ein Elefant fliegt, furchtbar ausgelacht wird. Darin besteht dann sozusagen genau das soziale Element der Gruppe: ob man diese Witztechnik dazu benutzt, dass die Dinge sich klären, also eine aufklärerische Wirkung entfalten, oder ob sie benutzt wird, um jemanden lächerlich zu machen, zu stigmatisieren und sich selbst besser zu fühlen. Vermutlich ist die große Mehrheit von Witzen in der Schule, die Schüler_innen untereinander erzählen – das liegt am Minderwertigkeitsgefühl – dazu da, andere schlecht zu machen und sich gut darzustellen. Das müsste man empirisch untersuchen. Wenn Menschen sich minderwertig fühlen – und das ist bei Kindern und Jugendlichen regelmäßig der Fall –, dann besteht die Funktion solcher Witze eben darin, sich selbst zu stärken, um sich besser zu fühlen. Der wirkliche Humor, der gerade für Kinder und Jugendliche so wichtig ist, der besteht nun darin, dass man sich über Sachverhalte, über Dinge lustig macht; dass man Unsinn aufklärt, manchmal durch Übertreibung, und auch Unsinn der Sache nach denunziert.
diskus: Spielt dabei aus Ihrer Sicht Selbstironie eine Rolle?
Ortmeyer: Die hohe Kunst des Humors ist in der Tat, dass man damit spielt, welche Fehler man selbst hat, welche Schwächen man hat. Damit kann man kokettieren – dann hofft man meist auf Widerspruch, der einem genehm ist. Aber es kann auch ernsthaft dazu führen, in einer Gruppe klarzumachen, welche Schwächen man selbst als Angehöriger einer bestimmten Gruppe oder auch nur als Einzelperson hat. Es ist eigentlich ein Zeichen von Ichstärke, von Selbstbewusstsein, dass man durch den Humor bestimmte egozentrische Verhaltensweisen entschärft und diesem Eigenlob entgegenwirkt, das heute in der Gesellschaft zunehmend von jeder Person im Konkurrenzkampf untereinander gefordert und gefördert wird.
diskus: Progressiver Humor ist dann einer, der sich über Sachverhalte und Situationen lustig macht? Würden Sie dann sagen, dass eine solche Entpersonalisierung von Witzen eine progressive Wirkung befördert oder gibt es auch Witze, die sich über Personen lustig machen – von der Selbstironie einmal abgesehen – und dennoch progressiv wirken?
Ortmeyer: Wer sich über einen Sachverhalt lustig macht, ist schon einmal nicht in der Gefahr, Menschen verächtlich zu machen. Aber auch das entwickelt Freud sehr genau: Es ist auch nötig, sich über Autoritäten lustig zu machen. Über die Halbgötter in Weiß, wie man Ärzte nennt, um ihre Arroganz anzukratzen. Oder Pippi Langstrumpf, die mal eine Schule besucht und zur Lehrerin auf deren Frage »Was ist denn zweimal acht?« sagt: »Wenn Sie das nicht wissen, wieso sind sie dann Lehrerin geworden?«. In diesem kleinen Witz steckt Humor und gleichzeitig wird eine Struktur aufgedeckt – dieses Frage-und-Antwort-Spiel, wo keine echten Fragen aufgeworfen werden sollen, sondern abgefragt wird, rhetorische Fragen von einer Lehrerin, von einer Pädagogin gestellt werden. Ich würde an dieser Stelle vom zentnerschweren Witz sprechen, weil sich in dem Witz eine eigentlich tragische Situation verdichtet. In diesem Fall: dass die ganze Abfragerei in der Schule irgendwie lächerlich ist.
Hier würde der Humor natürlich die Lehrerin treffen. Wenn sie keinen hat, wird sie nicht mitlachen – wenn sie Humor hat, würde sie mitlachen, weil Pippi Langstrumpf hier recht schlau war und etwas Kluges entdeckt und aufgedeckt hat.
diskus: Sie haben gerade ausgeführt, dass eine progressive Funktion von Humor auch darin besteht, sich über Autoritäten lustig zu machen. Kann aber nicht gerade darin eine herrschaftsstabilisierende Wirkung liegen, wenn solche Witze nur einer kurzfristigen Abfuhr dienen, aber die Verhältnisse als solche gerade nicht angetastet werden?
Ortmeyer: In diesem Fall bin ich für die Einzelfallprüfung. Charlie Chaplin hat zum Beispiel den Film »Der große Diktator« gemacht, um Hitler lächerlich zu machen – das ist gar keine Frage. Er hat sich später von diesem Film distanziert und hat deutlich gesagt, das war eine ganz blöde Idee von mir. Warum? Nicht einfach wegen des stabilisierenden Charakters, sondern weil personalisiert wurde, weil das Problem auf eine einzige Person sogar reduziert wurde – wie auch nach 1945 eine ganze Riege von Historikern versucht hat, das Problem auf eine Person, auf Hitler, zu reduzieren. Gleichzeitig ist es manchmal auch Notwehr. In manchen Fällen dient der Witz weder der Lächerlichmachung noch der Aufklärung über andere Personen, sondern man wehrt sich gegen einen Angriff. Wenn ein nicht sehr fortschrittlicher Gewerkschaftsfürst zu einem jugendlichen Vertrauensmann sagt: »Du bist ja viel zu jung«, und der dann antwortet: »Das stimmt, ich bin jung, aber das ändert sich. Du bist doof, das bleibt.« Dann hat er sich gegen einen Angriff gewehrt und sozusagen auf einen Schelm noch zwei Schelme draufgesetzt, wie man das in der Witztechnik als Verdopplung bezeichnet. Natürlich steht dieser Gewerkschaftsfürst dann blöd da, aber das ist unvermeidlich in der Situation. Die stabilisierende Funktion beginnt da, wo ein grundlegendes gesellschaftliches Problem auf einzelne Personen zurückgeführt wird. Das ist dumm, das ist falsch. Oft ist das gar nicht böse, sondern fortschrittlich gemeint, aber hat genau die Funktion, dass damit gesellschaftliche Verhältnisse nicht wirklich beleuchtet werden.
diskus: Damit wären wir bei Humor als Selbstermächtigungsstrategie. Welche Funktion hatten eigentlich jüdische Witze über Hitler in der NS-Zeit?
Ortmeyer: Der Gemeinplatz »Es ist jeweils eine Einzelfallprüfung notwendig« – der ist auch beim jüdischen Witz gültig. Um was für einen Witz es sich handelt, müsste man im Einzelnen diskutieren. Nichtsdestotrotz kann man, denke ich, mit Sicherheit feststellen, dass selbst Witze, die einen Bezug zu einzelnen Personen haben, dennoch aufklärerische Wirkung haben können. Dann, wenn gleichzeitig oder sogar vorrangig, ein Grundproblem aufgedeckt wird. Auch hier wieder ein Beispiel: Wenn in der NS-Zeit gefragt wird, wie denn ein Arier aussieht, wird die Antwort erwartet: »Blond und blauäugig.« Der Befragte sagt aber: »Ja, dann schau Dir doch mal Göring, Hitler und Goebbels an. Dann weißt Du, wie Arier aussehen.« Da müssen wir erst einmal schmunzeln. Dann denken wir nach. Dahinter steht natürlich die Absurdität einer Rassentheorie, die an diesem Beispiel deutlich wird: Dass die führenden Köpfe des NS-Regimes nun wahrlich nicht in das Ideal des typischen SS-Mannes hereinpassen, wie er auf den Zeitungen abgebildet ist. Sodass hier zumindest eine Bresche geschlagen wird, die zum Nachdenken anregen kann. Ich sage nicht, dass dadurch automatisch die Rassentheorie bei den Leuten im Kopf ausgeräumt werden kann, das wäre eine grobe Überschätzung. Aber es ist eine Pointe, die man sich vielleicht merkt, und bei der man spürt, dass die ganze Rassentheorie ein einziges Lügengebäude ist.
diskus: Findet sich das Muster, dass Witze nur einzelne Personen aufs Korn nehmen, gesellschaftliche Verhältnisse aber gar nicht thematisieren, auch heute wieder? Wenn man etwa an die zahlreichen Hitler-Komödien der letzten Jahre denkt, wie verhält sich denn der Helge-Schneider-Film über Hitler zu einem unpolitischen Flüsterwitz in der NS-Zeit?
Ortmeyer: So sehr ich Helge Schneider als Musikclown mag, so unangenehm ist mir natürlich ein Film, der dem Ernst dieses Massenmörders und dem Ernst des massenmörderischen Systems in keiner Weise gerecht wird. Es ist eine Infantilisierung, eine Bagatellisierung, derart mit den größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte umzugehen. Das ist für mich eindeutig. Gleichzeitig denke ich, dass in der heutigen Comedy-Szene sehr oft und zu Unrecht Richtiges mit Falschem verbunden wird. Nehmen Sie einen Witz über Goebbels und den Klumpfuß, der gegen Behinderte geht, nehmen Sie die Witze über Frau Merkel, die gegen Frauen gehen, nehmen Sie Witze über Herrn Wowereit, die gegen Homosexuelle gehen. All das wird politisch-aufklärerisch vielleicht sogar mit einer richtigen Kritik verbunden und trotzdem ist es unerträglich. Das heißt die Schwierigkeit besteht insbesondere da, wo fortschrittlich-aufklärerische politische Inhalte ihre Macht verstärken, indem sie auf klassische Klischees zurückgreifen, die in der Bevölkerung weit und breit verankert sind.
Das sind Fälle, die von Ihrem Helge Schneider ein bisschen ablenken, aber die mir am Herzen liegen: Hier werden Richtiges und Falsches so verbunden, dass die falsche Seite auf jeden Fall überwiegen muss, denn das kann man nicht einfach rechnerisch abwägen. Halbwahrheiten sind immer schlimmer als volle Lügen.
diskus: Wenn man davon ausgeht, dass Witze in einer Welt, in der alles Sinn haben muss, Platz für den Unsinn schaffen, ist man bei der Frage nach dem Begriff der Realsatire. An einem konkreten Beispiel: Das Studentenwerk hat anlässlich des 100. Jubiläums der Goethe-Universität ein Mensa-Menü kreiert, das die Geschichte der Institution widerspiegeln soll. Eines der Menüs soll die Gleichschaltung der Universität kulinarisch nachempfinden. Serviert werden Pilze, das Menü heißt »Rauchende Köpfe«. Zunächst glaubt man da ja an ein satirisches Flugblatt, die Kritik am Umgang der Uni mit der eigenen NS-Geschichte wäre durchaus treffend. Dann stellt sich heraus: das ist ernst gemeint. Kann Humor im Umgang mit solcher Realsatire noch ein Mittel sein?
Ortmeyer: Phänomene, die einen erst einmal sprachlos lassen, wie dieses Faltblatt, wo dann im Kontext von 1932, kurz vor der Bücherverbrennung, »Gebackene Bücher« steht, und wo unter der NS-Zeit von »rauchenden Köpfen« die Rede ist – solche Phänomene, die einen erst einmal sprachlos lassen, müssen möglichst genau beschrieben werden. Allein eine dichte Beschreibung dessen, was da passiert, kann darüber aufklären, wie ein Mensch überhaupt auf eine solche Idee kommen konnte, die uns zunächst völlig peinlich berührt. Nur wenn man das im Detail einzeln analysiert, wird klar, dass Menschen, die so etwas schreiben, in Wahrheit noch nie über die NS-Zeit nachgedacht haben. Ich möchte an dieser Stelle nicht davon ausgehen, dass die Urheber_innen solcher Dummheiten Neonazis sind. Der Sache nach könnten es Neonazis sein – drunter steht dann aber »Amnesty Studentengruppe Frankfurt«. Also müssen wir davon ausgehen, dass hier Menschen meinen, sehr pädagogisch wertvoll mit einem Witz die Zeitgeschichte zu kommentieren. Und es zeigt sich, dass ein guter Witz voraussetzt, dass man irgendetwas verstanden hat. Ein Mensch, der sich in einer Dummheit verrennt, kann keinen guten Witz machen. Ein Mensch, der sich nicht wirklich gut auskennt, kann in einer Sachfrage keinen guten Witz machen. Dieses Blatt Papier zeigt also in bedeutsamer Weise, wie oberflächlich und falsch mit dieser wichtigen Frage der NS-Geschichte und der Goethe-Universität umgegangen wird. Insofern verdichtet sich in diesen zwei Seiten ein großes Problem der Gesellschaft überhaupt und der Goethe-Universität im Besonderen: das Problem des oberflächlichen, ohne Empathie durchgeführten, letztlich wirklich rückschrittlichen Denkens.
diskus: Haben Sie einen Lieblingswitz?
Ortmeyer: Ich habe nicht einen Lieblingswitz, sondern aus der Situation heraus fällt mir etwas ein, was eine Situation trifft, und dann freue ich mich, aber ein guter Witz dauert auch etwas länger. Trotzdem möchte ich einen kurzen Witz zum Besten geben. Nazis stehen um einen alten jüdischen Mann herum und brüllen ihn an: »Wer hat den Krieg angefangen?« Der Mann antwortet: »Die Juden und die Radfahrer.« Der verblüffte Schläger, dieser SA-Mann, fragt zurück: »Warum die Radfahrer?« Und der alte Mann antwortet: »Warum die Juden?« – Das ist ein zentnerschwerer Witz.