Der Zeitrahmen meiner Betrachtung beginnt nach dem Ende des Nationalsozialismus 1945, schließt die Zeit nach der Wiedervereinigung ein und endet bei aktuellen Debatten, wobei der Schwerpunkt auf den Jahren zwischen 1945 und 1990 liegt. Ich werde verschiedene Diskursstränge aufzeigen, in die das Thema Abtreibung eingebettet war und ist. Dabei gehe ich davon aus, dass in Diskursen symbolische Ordnungen, wie etwa die Ordnung der Geschlechter, produziert und reproduziert werden und ihr aktueller Gehalt nur verstanden werden kann, wenn man ihre Geschichte rekonstruiert. Dafür will ich im Zeitverlauf zeigen, wie verschiedene Diskursstränge wie der bevölkerungspolitische Diskurs, der Modernisierungs- und Individualisierungsdiskurs sowie feministische und Geschlechterdiskurses miteinander verwoben sind und zu spezifischen Deutungen zum Thema Abtreibung beitragen. Das der Analyse zugrundeliegende Material besteht überwiegend aus historischen, juristischen und medizinischen Texten zum Thema, das zwischen 1945 und der Mitte der 1990er Jahre publiziert wurde sowie Literatur zu bevölkerungs- und familienpolitischen Fragen. Für die Zeit danach betrachte ich die thematischen Entwicklungen auf der Grundlage von Zeitungsartikeln und Publikationsanalysen.

 

AUSGANGSLAGE NACH 1945

In der Zeit zwischen 1945 und 1990 gab es zwei gesellschaftliche Umbrüche, die von großen politischen, ökonomischen, demografischen und sozio-kulturellen Veränderungen begleitet waren. Ich will zunächst die Ausgangslage nach 1945 kurz skizzieren.

  • Nach der kriegsbedingten Teilung befand sich Deutschland an der Schnittstelle zweier politischer Weltsysteme. Mit der Übernahme der Regierungsgewalt durch die Alliierten begann eine Zuordnung zu politischen Systemen und eine Einordnung in das bipolare Weltsystem, das bis 1989 Bestand hatte. Damit war stets auch ein symbolischer Kampf um das bessere gesellschaftliche System verbunden.  
  • Mit der Teilung ging eine Auseinanderentwicklung der Wirtschaftsverhältnisse in Ost- und Westdeutschland einher, wobei sich der westliche Teil in ein marktwirtschaftliches Umfeld integrierte und der östliche unter sowjetischen Einfluss kam. Die wirtschaftlichen Folgen des Krieges waren in Ostdeutschland dramatischer als im Westen. Vertreibung, Flucht, Abbau von Industrieanlagen und Abwanderung in den Westen erodierten die Wirtschaft im Osten.  
  •  Nach Kriegsende gab es große demographische Disproportionen. Diejenigen, die aus der DDR abwanderten, waren überdurchschnittlich hoch qualifiziert. Hunderttausende von Akademiker_innen und Handwerker_ innen verließen das Land bis zum Mauerbau 1961. Während im Westen die Bevölkerung zunahm, blieb im Osten die Bevölkerung trotz der umfangreichen Abwanderungen in den Westen bis 1949 relativ stabil, weil sehr viele aus den ehemaligen deutschen Gebieten zuwanderten. Nach 1950 sank die Zahl der Bevölkerung wieder rapide. Insbesondere kranke und schwache Personen verblieben auf dem sowjetisch besetzten Territorium, während die physisch stärkeren in die westlichen Gebiete abwanderten. 1946 ergab eine Volkszählung in der sowjetischen Besatzungszone einen ›Umsiedleranteil‹ von 20,5 Prozent.  
  •  Viele Wohnungen waren im Krieg zerstört worden; in den Städten bis zu 50 Prozent. Es gab essentielle gesundheitliche Probleme und große Mühen, die physische und psychische Gesundheit beziehungsweise auch Leistungsfähigkeit der Bevölkerung wiederherzustellen.
  • Im Zuge der Besatzung und auch in der Folgezeit kam es zu einer Vielzahl von Vergewaltigungen durch alliierte Soldaten. Die demographische Verschiebung zugunsten eines überpropor tional hohen Anteils an Frauen vor allem im Osten war von mehreren relevanten sozialen Entwicklungen begleitet. Mit der in Kriegszeiten notwendigen Selbständigkeit von Frauen ging ein Bedeutungsverlust des Mannes als Ernährer einher, der durch die demographische Situation in der Nachkriegszeit fortgesetzt wurde. Es gab 1946 mit 19,3 Prozent im Osten einen relevanten Anteil illegitimer Kinder, die nicht in die traditionelle Familienform hineingeboren wurden. In beiden Ländern war man bestrebt, in den Nachkriegsjahren ein stabiles Sozialgefüge wiederherzustellen, unter anderem um die verschobene Bevölkerungsstruktur wieder in funktionsfähige Strukturen zu transformieren. Dazu gehörten im Westen die Wiederherstellung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und die Stärkung des bürgerlichen Familienmodells. Die Etablierung der Berufstätigkeit der Frau wurde als Gefahr für die Familie gewertet und als gesellschaftliche Bedrohung diskursiviert. Im Osten war die Berufstätigkeit von Frauen existenziell.

Ich werde mehrere Diskursstränge darstellen, in denen Abtreibung eine zentrale Rolle spielt. Im Zentrum steht die Frage, wie Wahrnehmungs- und Deutungsmuster als selbstverständliche, legitime diskursiv aktiviert und reproduziert werden und wie gesellschaftliche Veränderungen auch neue Diskursstränge hervorbringen. Ich beginne mit dem bevölkerungspolitischen Diskurs, den ich zuerst für den Westen, im Anschluss daran für den Osten ausführe. Danach gehe ich kurz auf Modernisierungs- und Individualisierungsdiskurse ein, stelle Bezüge zum feministischen und Geschlechterdiskurs bis zur Mitte der 1990 Jahre her und schließe mit Entwicklungen der letzten Jahre.

 

DER BEVÖLKERUNGSPOLITISCHE DISKURS IM WESTEN

Die rechtliche Situation in der Nachkriegszeit stellte einen starken Einschnitt dar. Unsicherheit und Rechtszersplitterung kennzeichneten die Situation um den Schwangerschaftsabbruch nach Kriegsende. Durch Kontrollratsbeschluss wurde zwar die im Nationalsozialismus für Verhütung und Abtreibung eingeführte Todesstrafe aufgehoben, die Himmlersche Polizeiverordnung blieb jedoch bestehen. Diese war am 21. Januar 1941 erlassen worden und verbot alle Verfahren, Mittel und Gegenstände zur Unterbrechung und Verhütung von Schwangerschaften. Mit der Verordnung wurden mit radikaler Gründlichkeit Verbotsmöglichkeiten ausgeschöpft, um jegliche Geburten beschränkende Maßnahmen zu verhindern. Im März 1943 wurden die Doppelparagrafen 218 und 219 des Strafgesetzbuches verschärft und sahen sodann für die Abtreibung und Empfängnisverhütung die Todesstrafe vor. In den Wirkungsbereich des § 219, der bis dahin zur Schwangerschaftsunterbrechung geeignete Mittel und Gegenstände einschloss, gelangten mit dieser Gesetzesänderung nun auch empfängnisverhütende Mittel. Die rechtliche Situation zum Schwangerschaftsabbruch für das westliche Besatzungsgebiet nach 1945 war in den Bundesländern sehr heterogen. Gültig blieb der § 14 I des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, der eine Abtreibung aus medizinischer Indikation erlaubte. Die Umsetzung dieser rechtlichen Regelung war in den verschiedenen westlichen Bundesländern teils mit Meldepflicht versehen und musste von sogenannten Indikationskommissionen genehmigt werden.

Nach 1945 stieg die Zahl der Abtreibungen an. Zahlreiche Stimmen brachten diesen Anstieg mit der Lockerung des Abtreibungsverbotes durch den oben genannten Kontrollratsbeschluss in Zusammenhang. In diesem Kontext und ungeachtet der sozialen Lebenssituation von Frauen in den Nachkriegsjahren wurden mit dem Argument eines in düsteren Farben beschriebenen Notstandes der Bevölkerung Vorschriften gefordert, die eine weitgehende Überwachung aller erlaubten Abtreibungen sowie der verbotenen und entdeckten Versuche ermöglichen sollten. Diese Verordnung gab es dann ab 1951. Ärzt_innen hatten danach Fehl- und Frühgeburten zu melden, die auf strafbare Handlungen deuteten. Praktisch jedoch kamen diese Fälle selten zur Anzeige und führten kaum zu strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, weil Ärzt_innen sich weigerten, die Frauen anzuzeigen. Vielmehr votierten sie für die Abschaffung der ärztlichen Anzeigepflicht. Hier war der Versuch unternommen worden, eine Regelung zu implementieren, die jedoch wenig Unterstützung fand.

In der Not der Nachkriegszeit waren die Strafandrohung und ausgefeilte Kontrollmechanismen für alle medizinisch nicht indizierten und damit illegalen Abtreibungen schwer zu rechtfertigen. Die paternalistische Schutzpflicht des Staates wurde auch damit begründet, dass Frauen ›gewissenlosen Männern‹ ausgeliefert waren. Damit waren aber diejenigen Männer gemeint, die Abtreibungen vornahmen. Mit dem Verweis auf das Schutzbedürfnis von Frauen, deren Leben und deren Gesundheit hier als gefährdet eingeordnet werden, rückt der Aspekt der Fürsorge in das Zentrum der Argumentation. Damit ist der Bevölkerungsdiskurs auch mit einem Diskurs über Geschlechter verbunden, in dem das Bild der hilfebedürftigen Frau belebt wurde, die den paternalistischen Schutz des Staates braucht. Zu Wort kamen meistens Juristen, Mediziner oder Genetiker; Frauen, das heißt Juristinnen und Medizinerinnen, spielten dabei keine Rolle.

In den 1950er Jahren rechtfertigte keine außer einer medizinischen Indikation einen Abbruch. Dieser galt nur dann als begründet, wenn ein Risiko für das Leben der Mutter bestand, weil diese dann im Todesfall erstens ihre eigenen Kinder nicht mehr aufziehen und zweitens keine weiteren gebären könnte.

Im medizinischen Diskurs der 1950er Jahre in Westdeutschland wurde die Gefahr der wachsenden Selbstständigkeit von Frauen thematisiert, die unabhängig darüber entscheiden wollten, ob sie ein Kind austragen oder nicht und zu welchem Zeitpunkt dies geschehen solle. Zu Beginn der 1950er Jahre begann sich die Argumentation allmählich zu verändern. Frauen sollten »durch Erziehung und Belehrung, durch Selbstdisziplin und feste Haltung« zum schwanger Bleiben geführt oder gar angehalten werden. Dazu wurde auch ein neues Methodenrepertoire entwickelt – wie ein Monolog, in dem der Fötus als eigenständiges Subjekt auftritt und der an das Gewissen der Frauen appellieren sollte. Mit dem Tagebuch der Kleinen, das in ›geeigneten‹ Fällen unerwünschter Schwangerschaften den Frauen ausgehändigt wurde, bedachte man junge Frauen. An Frauen, die entweder älter waren und ihre Gebärpflicht schon erfüllt hatten oder Frauen, deren Geburten aus anderen Gründen eher unerwünscht waren, richtete sich dieser moralische Zeigefinger nicht. Vor allem junge Frauen sollten auf diese Weise angehalten werden, ihre ›naturgegebene‹ Gebärpflicht nicht zu vergessen beziehungsweise sich schlecht zu fühlen, wenn sie sich gegen die Beendigung einer Schwangerschaft entschieden.

 

EIN AUSSCHNITT AUS DEM BUCH, GESCHRIEBEN AUS DER POSITION DES FOTUS:

Das Tagebuch der Kleinen

1. V. Aus Liebe haben mich meine Eltern heute ins Leben gerufen.

15.V. Meine ersten Adern entstehen – und mein Körper formt sich sehr schnell.

19.V. Ich habe schon einen Mund.

21.V. Mein Herz fängt an zu schlagen. Wer will bezweifeln, dass ich lebe.

22.V. Ich weiß gar nicht, weshalb sich meine Mutter eigentlich Sorgen macht.

28.V. Meine Arme und Beine beginnen zu wachsen. Ich recke und strecke mich –

8.VI. Aus meinen Händen sprießen kleine Finger. Das ist schön! Bald damit greifen können.

15.VI. Erst heute hat meine Mutter erfahren, dass ich bei ihr bin. Ich habe mich sehr darüber gefreut.

20.VI. Jetzt ist es sicher, dass ich ein Mädchen bin.

24.VI. Meine sämtlichen Organe sind vorgebildet. Ich kann bereits Schmerzen empfinden.

6.VII. Ich bekomme Haare und Augenbrauen. Das schmückt mich!

8.VII. Meine Augen sind schon lange fertig, wenn auch die Lider noch geschlossen sind. Aber bald kann ich alles sehen – die ganze schöne Welt und vor allem meine liebe Mutter, die mich noch bei sich trägt.

19.VII. Mein Herz schlägt wundervoll. Ich fühle mich so geborgen und bin sehr glücklich.

20.VII. Heute hat mich meine Mutter umgebracht.

(vgl. Gesenius 1961, zit. n. Hahn 2000: 70).

 

In dieser Darstellung wurde der sprechende Fötus der Mutter gegenübergestellt und konnte die Schwangere als Mörderin konstruiert werden. Dieses ist auch heute noch ein legitimes und verbreitetes Deutungsmuster. Im Westen gab es auch keine Indikation, die Abbrüche nach Vergewaltigungen erlaubte, stattdessen wurden diese Abbrüche so interpretiert, dass sie als medizinisch induziert galten: Als Grund wurden beispielsweise reaktive Depressionen angegeben. Es war zwar auch zu dieser Zeit anerkannt, dass Vergewaltigungen zu ernsten seelischen Schäden führen können, die Gefahr eines offeneren Zugangs zu Abtreibungen wurde dennoch als bevölkerungspolitisch brisanter eingeordnet.

Bis in die 1960er Jahre hinein blieb eine aus dem Krieg kommende Argumentationsfigur im Bevölkerungsdiskurs zentral, um die Legalisierung ebenso wie die Legitimierung der Abtreibung zu verhindern. Dabei ging es um einen befürchteten Rückgang der Bevölkerung, der als bedrohlich für deren Existenz dargestellt wurde. Bereits in den 1950er Jahren kam die Metapher einer Überalterung hinzu, die uns heute überall begegnet und das Bild des Aderlasses in der Argumentation ergänzt:

Dass aber vom Standpunkt des Volksbestandes aus gesehen ein solcher Aderlass an der Volkssubstanz, die ja schon durch die Kriegs- und Nachkriegsverluste erheblich geschwächt wurde, nicht gleichgültig hingenommen werden kann, ergibt der gleichzeitige Hinweis auf die zunehmende Überalterung unseres Volkes (Doerfler 1953, zit. n. Hahn 2000: 73).

Regulierung der Bevölkerung bedeutet aber nicht nur dafür zu sorgen, dass möglichst viele Kinder geboren werden, sondern auch, dass bestimmte nicht geboren werden. In den Nachkriegsjahren geschah dies nicht durch eugenische Abtreibungen, die explizit abgelehnt und argumentativ mit den Massentötungen im Rahmen des ›Euthanasieprogrammes‹ der Nationalsozialisten und die individuelle Handlung einer Abtreibung mit dem Genozid gleichgestellt wurden (anders als in der SBZ und DDR). Durch diese Argumentation wurden Frauen, die eine Abtreibung wünschten, als potenzielle Massenmörderinnen dargestellt. Dabei ging es aber nicht darum, eugenische Regulierungen abzulehnen, sondern nur darum Abtreibungen zu verhindern. Dies zeigt sich daran, dass nach 1945 bis Ende der 1960er Jahre diverse Versuche unternommen wurden, eugenische Sterilisationen wieder gesellschaftsfähig zu machen. Anders als im Osten Deutschlands war im Westen das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses noch in Kraft, was zur Folge hatte, dass es ein rechtliches Regulativ gab, den als unerwünscht gesehenen Nachwuchs zu verhindern. Es wurde erst 1974 endgültig aufgehoben.

In den 1950er und 1960er Jahren trat das Argument des ›Volkswohls‹ allmählich in den Hintergrund, es war als Legitimationsmuster weitgehend desavouiert und wurde durch andere ersetzt. In den Vordergrund schoben sich Argumente, die an der individuellen Belastung von Frauen und deren Gesundheit ansetzten. Gleichermaßen wie sich die Argumentation auf die individuelle Belastung verschob, verschwand der Begriff der eugenischen Indikation. Auch dieser schien zu stark an der volksgesundheitlichen Begründung angelehnt und wurde durch den Begriff der ›kindlichen‹ Indikation ersetzt. Dabei ging es in den Argumentationen darum, Leiden für das Individuum – das heißt für die nachfolgende Generation – zu vermeiden.

Volksgesundheitliche Verknüpfungen verschwanden aus dem nationalen Bevölkerungsdiskurs.

Seit den 1960er Jahren wurden bevölkerungspolitische Debatten stattdessen zunehmend in einen globalen Bezugsrahmen gestellt. Die Gefahr der aussterbenden Nation war im bevölkerungspolitischen Diskurs in den 1960er und 1970er Jahren in der Bundesrepublik ein zentrales Thema (vgl. Beck-Gernsheim 1984). Abtreibungen und Empfängnisverhütung wurden damit nicht nur bezogen auf die eigene Bevölkerung, sondern als ein Aspekt des Diskurses weltbevölkerungspolitisch eingeordnet. Die damals bezeichnete Bevölkerungsexplosion in anderen Ländern und die damit verbundene Vorstellung des eigenen Niedergangs durch ein nicht-kontrollierbares Wachstum und Übergreifen anderer und vor allem fremder Religionen sowie anderer und fremder Kulturen vermischten sich mit den Argumenten im nationalen Bevölkerungsdiskurs und beeinflussten ihn auch. Die Aussage aus dem Jahr 1967 illustriert die unterschiedliche Bewertung:

[W]enn es sich um eine rasche Senkung einer hohen Geburtenrate in einem übervölkerten Lande handelt, führt offenbar eine Freigabe der Interruptio viel eher und schneller zum Ziel als eine noch so nachdrückliche Empfehlung der Verwendung antikonzeptioneller Mittel (Nachtsheim 1967, zit. n. Hahn 2000: 122).

Das auch im Vergleich mit der DDR düster gemalte Bild der westdeutschen Bevölkerung als ›sterbendes Volk‹ war in den 1960er Jahren mit einer Angst vor der Unkontrollierbarkeit der Sexualität und Fruchtbarkeit von Frauen verbunden. Damit ging die Befürchtung einher, Frauen könnten mit dem Zugang zu Verhütungsmethoden und der Möglichkeit, sexuelle Lust auszuleben, das Kindergebären vergessen.

Ab Ende der 1960er Jahre, zunächst im Zusammenhang mit der Pille, dann mit der Sterilisation und noch später mit der Abtreibung, tauchte in diesen Diskursen ein Aspekt auf, der noch heute eine zentrale Rolle spielt: Die psychischen Folgen eines Schwangerschaftsabbruches. Während bezogen auf den Umgang mit Zwangssterilisierten nach 1945 seelische Folgen vollständig abgelehnt wurden, wurden sie nun mehr und mehr zum Thema. Dabei hieß es, dass Frauen »viel zu früh um die Vollendung ihres Frauseins betrogen « wurden (Greve 1969, zit. n. Hahn 2000: 145) und ihre Seele leiden müsse. Das Argument begründete ein vielfältig einsetzbares und langfristig wirkungsvolles Argumentationsmuster – die weibliche Psyche und damit einhergehend die Antizipation der psychischen Folgen einer Abtreibung. Eingeordnet wird dieses Argument in den Gesundheits- und in einen Geschlechterdiskurs, in dem Frauen als hilfsbedürftige Personen eingeführt werden, die Unterstützung bei ihren unüberlegten Entscheidungen benötigen. In der Begründung dessen, was eine ›normale‹ psychische Reaktion sei und was eine kranke, wird deutlich, wie sehr sich die Diskursstränge hier verbinden. Psychische Probleme werden als normal bezeichnet und gesunden Frauen zugeordnet, Frauen, die keinerlei Verarbeitungsprobleme aufweisen, werden als unweiblich und unsensibel attribuiert. Damit wurde eine neue Verhaltensnorm konzipiert. Diese einmal eingeführte Argumentationsfigur hat sich bis heute als sehr wirksam erwiesen. Dieses erfolgreiche Deutungsmuster ist sehr eng mit dem feministischen Diskurs verbunden, auf den ich noch kommen werde.

In der Bundesrepublik bildete der Stern-Titel 1971 Wir haben abgetrieben einen Höhepunkt der Debatte und war ein Meilenstein in der Auseinandersetzung um den § 218. In der Folgezeit sprachen sich die SPD und die FDP für eine Fristenlösung aus, nach der Schwangerschaftsabbrüche bis zur zwölften Woche (also wie in der DDR) straffrei sein sollten. Mit knapper Mehrheit wurde am 26. April 1974 für diese Regelung gestimmt, die jedoch bereits am 25. Februar 1975 nach einer Klage der CDU vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig erklärt wurde. Das Gericht vertrat die Auffassung, dass der Embryo nicht nur Teil des mütterlichen Organismus, sondern ein selbständiges menschliches Wesen sei und dies schwerer wiege als das Recht der Schwangeren auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Davon waren vier Indikationen ausgenommen: die medizinische, eugenische, soziale sowie ethische Indikation. Als Kompromiss verabschiedete der Bundestag im Mai 1976 eine modifizierte Indikationsregelung, die diese vier Indikationen aufnahm.

Ich mache an dieser Stelle einen Sprung zurück ins Jahr 1945 und rekonstruiere den bevölkerungspolitischen Diskurs für den Osten Deutschlands.

 

DER BEVÖLKERUNGSPOLITISCHE DISKURS IM OSTEN

In der Sowjetischen Besatzungszone wurden Anfang 1946 alle Gesetze aufgehoben, die mit der Zwangssterilisation in Verbindung standen. Damit gab es – anders als auf dem Besatzungsgebiet der westlichen Alliierten – keinerlei legale Grundlage mehr für Sterilisationen und die im Gesetz geregelte medizinische Indikation zum Schwangerschaftsabbruch. Das Gesetz wurde hier als »faschistisch tendenziös« und antiwissenschaftlich charakterisiert. Auch hier wurde es allerdings auf eine Art und Weise gedeutet, die dem Gesetzgeber Spielraum für spätere Gestaltungen und Neuinterpretationen ließ. Der Geltungsbereich des Gesetzes wurde im Osten mit seiner primären Anwendung für die Unfruchtbarmachung politisch Oppositioneller erklärt und als eine der Kampfformen des Faschismus gegen politische Feinde interpretiert.

Regelungen zur Abtreibung lassen sich nicht losgelöst von den gesetzlichen Normen zur Unfruchtbarmachung betrachten. Beide nehmen oder geben Frauen das Verfügungsrecht, über ihre Fortpflanzung selbst zu entscheiden. Ihre disziplinierende Rolle, Frauen immer wieder und auch gesetzlich auf ihre biologische Rolle zu verweisen, steht in enger Verbindung zu anderen Formen, die Bevölkerung zu regulieren. Zunächst gab es im Osten nach 1945 theoretisch die Chance, die während der Weimarer Republik entstandene Reformbe wegungen um den § 218 wieder aufzugreifen und die Reformvorschläge zur Entkriminalisierung der Abtreibung in die Realität umzusetzen, insbesondere auf einem Territorium, dessen Regierung sich in dieser Tradition verstand. Dies geschah jedoch nicht. Unmittelbar nach Kriegsende wurde Frauen durch Verwaltungsanordnungen in den einzelnen Ländern der Sowjetischen Besatzungszone das Recht zugesprochen, unter bestimmten Voraussetzungen einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen. Entscheidungen der Landtage untersagten den Strafverfolgungsbehörden bis zur Neuregelung des Zuganges zum Schwangerschaftsabbruch Verfahren nach § 218 StGB einzuleiten. Noch im Jahr 1945 erließ Thüringen als erstes Land ein Gesetz über die Unterbrechung der durch Sittlichkeitsverbrechen verursachten Schwangerschaft. Die anderen Länder folgten mit gesetzlichen Regelungen, die weitergehende Indikationen enthielten wie die medizinische bei Gefahr für Leben und Gesundheit der Schwangeren, die ethische Indikation nach Sittlichkeitsverbrechen sowie die soziale Indikation. Gleichzeitig fixierten alle Länder sehr restriktive Bedingungen für die Abtreibung, wobei das Verfahren bei ethischen Indikationen nicht nur einen engen Zeitrahmen vorsah, in dem eine Anzeige erfolgen musste, sondern auch eine Glaubwürdigkeitsprüfung der beantragenden Frau. Bei der sozialen Indikation – und das war eine Voraussetzung sie kurze Zeit später wieder zurücknehmen zu können – richtete sich die Begründung nicht auf individuelle, sondern nur auf gesellschaftliche Notsituationen wie fehlende Nahrungsmittel oder Wohnraummangel, die primär dazu dienten, den sozialen Frieden nicht zu gefährden.

Alle Regelungen enthielten Strafandrohungen für Selbstabtreibungen und sahen für Abbrüche durch Dritte zwei Jahre Gefängnis vor. Eingriff und Kontrolle sollten sich ausschließlich auf autorisierte Ärzt_innen beschränken. Die Legitimierung einer Abtreibung musste durch Gutachterkommissionen bestätigt werden, die je nach Indikation unterschiedlich zusammengesetzt waren. Dieses Verfahren war in der Praxis mit ungewissem Ausgang verbunden, weshalb viele Frauen ihre Abtreibung unabhängig von staatlicher Kontrolle organisierten und einen Schwangerschaftsabbruch beispielsweise im benachbarten Polen durchführen ließen.

Interessant ist außerdem, dass in die landesrechtliche Regelung in Mecklenburg-Vorpommern eine eugenische Indikation eingefügt worden war, die mit dem Begriff des »seelischen Schadens« umschrieben wurde. Sich einerseits vom nationalsozialistischen Regime abzugrenzen und dennoch nicht auf bevölkerungspolitische Maßnahmen zu verzichten und sich bevölkerungspolitische Gestaltungsmöglichkeiten vorzubehalten bedeutete auch für den Osten, sich eine Tür offen zu halten. Die Begründung, dass diese Form der eugenischen Bevölkerungskontrolle weiterhin mitbedacht werden müsse, nahm Argumentationen aus dem Diskurs im Westen auf, die hier nun für die Legitimierung und Legalisierung der eugenischen Abtreibung aufgegriffen wurden. Das Gesetz von Mecklenburg- Vorpommern sah eine Einwilligungsregelung für gesetzliche Vertreter vor, wenn der betreffenden Frau wegen »Störung der Geistestätigkeit die Bedeutung der Maßnahme nicht verständlich gemacht werden« konnte (Regierungsblatt für Mecklenburg. 1948, zit. n. Hahn 2000: 181). Die Formulierung im Gesetzestext unterschied sich von der als nationalsozialistisch apostrophierten kaum.

Einerseits ging die Zahl der illegalen Abtreibungen nicht zurück, andererseits stieg die Anzahl der legalen an, was der auf Zuwachs orientierten Bevölkerungspolitik widersprach. Die Beurteilung der Lage zeigt ein Zitat, das die Angst vor der Unkontrollierbarkeit der Fruchtbarkeit der Frauen auch im Osten Deutschlands deutlich macht: »Die großzügige Lockerung der Indikation führte zu einer Veränderung der Mentalität der Schwangeren, die man als Abortsucht beschreiben kann« (Mehlan 1960, zit. n. Hahn 2000: 214). Der Begriff der Sucht impliziert pathologisches Verhalten, das unter Kontrolle gebracht werden muss, wobei die Kontrolle hier am weiblichen Körper und seiner Fruchtbarkeit ansetzte. Während bis 1950 auch körperliche Erschöpfung als Grund für eine medizinisch induzierte Abtreibung anerkannt wurde, wurden ab 1950 die gesundheitlichen Auswirkungen einer Schwangerschaft positiv und als gesundheitsförderlich gedeutet. Somit galten Tuberkulose oder Schizophrenie, um nur zwei Beispiele zu nennen, kaum noch als Grund für einen Abbruch.

Die wirtschaftliche Notsituation als ein Argument für die Legalisierung hatte sich bis zum Ende der 1940er Jahre auch in Ostdeutschland so weit verbessert, dass der Zugang zu Nahrungsmitteln deutlich leichter und damit die Grundlage für die Abschaffung der sozial indizierten Abtreibung geschaffen war. Dies geschah mit dem fundamentalsten Gesetz, das es in der DDR zur Regulierung der Bevölkerung gab: Das Gesetz über den Mütter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau von 1950. Diesem Gesetz kommt auch eine übergreifende Bedeutung für die Abtreibung zu. In seiner Präambel war die Förderung des Kinderreichtums festgelegt und damit die Grundrichtung für die weitere Bevölkerungspolitik vorgegeben. Eingeschränkt wurden damit die vorher vergleichsweise liberalen Länderregelungen. Zugelassen waren nur noch zwei Indikationen: die medizinische Indikation und die ›erbmedizinische‹, die sprachlich den Begriff der Medizin aufnahm und die Verwendung des Begriffs ›eugenisch‹ ersetzte. In der begrifflichen Abgrenzung wurde der Unterschied daran festgemacht, dass unter ›eugenisch‹ eine Veränderung des Erbgutes der Rasse, des Volkes, der gesamten Menschheit verstanden wurde, während der Begriff der ›erbmedizinischen‹ Indikation das individuelle Leidensschicksal betraf. Damit wurde ebenfalls frühzeitig argumentativ an die Interessen der Individuen angeknüpft, die erstens nicht leiden und zweitens nicht einem ungeplanten Schicksal ausgesetzt sein sollten.

Die Nichtaufnahme der sozialen Indikation in das Gesetz wurde damit legitimiert, dass durch die temporäre Schwäche des Staates die Reproduktion seiner Bürger_innen nicht abgesichert werden konnte:

Je vollkommener der Staat die Forderung seines wahren Sozialismus erfüllt, umso unmöglicher wird die soziale Indikation sein und werden, denn dies wäre ein Widerspruch in sich (Lax 1950, zit. n. Hahn 2000: 223).

Angelehnt an die internationale Diskussion – und die DDR wollte hier nicht isoliert sein – liberalisierte sich der Zugang zu Abtreibungen vor allem in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre. Der Anteil sogenannter sozialmedizinischer Indikationen – eine Erweiterung der medizinischen Indikation um soziale Aspekte – war kontinuierlich angestiegen und Alter, Kinderzahl, physische und psychische Zustände konnten nun einen Abbruch rechtfertigten. Die Zahl illegaler Abtreibungen blieb weiterhin hoch, der Gesetzgeber nahm gesundheitliche Schäden durch illegale Abtreibungen – im Verhältnis zu den antizipierten Folgen für die Bevölkerung durch geringere Geburtenzahlen – aber weiterhin in Kauf.

Der gesamte medizinische wie juristische Diskurs ließ eine Indikationsregelung, wie sie 1972 in der DDR in Kraft trat, nicht erwarten. Weder in der medizinischen noch in der juristischen Debatte deutete sich dies an. Zwar wurden in den medizinischen Artikeln die Vor- und Nachteile der Regelungen anderer Länder intensiv diskutiert, nicht aber deren Übertragung. Das Gesetz zu Unterbrechung der Schwangerschaft wurde im Dezember 1971 zur Beratung vorgelegt und am 9. März 1972 in der Volkskammer verabschiedet.

Warum kam es nun aber dazu? In der Frage der Legalisierung trafen Faktoren der DDR-Identität mit ihrer Außenorientierung zusammen. Als großes Medienereignis hatte die im Stern im Sommer 1971 veröffentlichte Selbstbezichtigungskampagne von Frauen in der Bundesrepublik einen grundlegenden Meinungsumschwung ausgelöst, der die Debatte zum Schwangerschaftsabbruch nachhaltig beeinflusste. Im Zuge dieser Kampagne häuften sich die Vorstöße zur Aufhebung des § 218 im Strafgesetzbuch. In den Führungsgremien der SPD zeichneten sich Mehrheiten für eine Fristenlösung ab. Unterstützt wurde sie durch eine Beschlussfassung der FDP zur Einführung einer solchen Lösung. Im November 1971 tagte ein außerordentlicher Parteitag der SPD, in dem die Mehrheit diesem Modell zustimmte. Damit war der Weg für eine Fristenlösung geebnet und eine gesetzliche Regelung rückte in greifbare Nähe. Für die DDR war dies der Impuls, ohne Vorbereitung ein eigenes Gesetz zum Schwangerschaftsabbruch zu formulieren. Die Freigabe der Abtreibung als vormaliges Ziel der Kommunistischen Partei, in deren Traditionslinie sich die SED sah, konnte keinesfalls der Bundesrepublik überlassen bleiben. Das Gesetz kam für die meisten überraschend. Die Begründungen für das Gesetz wiederum waren in den offiziellen Verlautbarungen sowie den medizinischen und juristischen Kommentaren in vorhandene Diskussionsstränge eingebettet. Ein wesentliches Argument in dem dann nach der Verabschiedung des Gesetzes einsetzenden Legitimationsdiskurs war die Selbstbestimmung der Frau, die nun noch konsequenter als durch Empfängnisverhütung möglich, über Zeitpunkt und Zahl der gewünschten Kinder entscheiden, generative Vorgänge nun noch planmäßiger als zuvor gestalten und biologische Zufälle ausschließen könnte. Die Fristenlösung setzte eine bewusste und verantwortungsvolle Handlungsweise in diesem Feld voraus, wo noch Jahre zuvor von »Abtreibungssucht« die Rede war. Das Gesetz knüpfte an die gestalterischen Kräfte der Planbarkeit an und nutzte Argumente aus dem Modernisierungs- und Individualisierungsdiskurs. Es wurde nun als gesundheitspolitischer Fortschritt verbucht – auch im Systemvergleich mit der Bundesrepublik – weil weitere illegale Abtreibungen und gesundheitliche Probleme von Frauen dadurch verhindert werden könnten. Was in diesem Diskurs nirgendwo auftaucht, sind mögliche psychische Folgen durch eine Abtreibung. Dieses Argument spielte in der DDR nur in dem Zusammenhang eine Rolle, dass psychische Belastungen durch unglückliche partnerschaftliche Beziehungen oder unterbrochene Karrierewege entstehen könnten und es dann die bessere Lösung wäre, sich gegen eine Schwangerschaft zu entscheiden

 

MODERNISIERUNGSDISKURS UND INDIVIDUALISIERUNGSDISKURS

Der bevölkerungspolitische Diskurs zeigt, wie sehr die Überlegungen zum Schwangerschaftsabbruch durch die Angst vor Verlust an Bevölkerung geprägt waren. Das Bild der aussterbenden Nation war nach 1945 immer weniger gesellschaftsfähig, um damit Reglementierungen zu begründen. Im medizinischen Diskurs der 1950er Jahre in Westdeutschland wurde bereits die Gefahr der wachsenden Selbständigkeit von Frauen thematisiert, die unabhängig entscheiden wollten, ob sie ein Kind austragen wollen oder nicht, und zu welchem Zeitpunkt dies geschehen soll. Man muss sich also vorstellen, dass es einerseits rechtlicher Regelungen wie den gültigen § 218 und andererseits überzeugender Argumente bedurfte, um den Zugriff auf die weibliche Fruchtbarkeit nicht zu verlieren. Die zuvor geltenden sehr restriktiven rechtlichen Regelungen gab es in der Form nicht mehr. Bereits zu Beginn der 1950er Jahre richtete sich die Argumentation stärker darauf, durch »Erziehung und Belehrung, durch Selbstdisziplin und feste Haltung« (Naujoks 1952, zit. n. Hahn 2000: 70) Frauen zum schwanger Bleiben zu bewegen. In Ost- wie Westdeutschland löste aus modernisierungstheoretischer Perspektive betrachtet die individuelle Verantwortung für das eigene Leben, für die eigene Gesundheit zunehmend Regelungen von außen ab. Das Argument der aussterbenden Nation als zentrales Bild im Bevölkerungsdiskurs war weitestgehend delegitimiert und durch das individuelle Leidensschicksal abgelöst.

Wenngleich die Fristenlösung in der DDR in direkter Konsequenz westdeutscher Bestrebungen verabschiedet wurde, veränderte sie doch die faktische Möglichkeit für Frauen, autonom über den Zeitpunkt und die Zahl ihrer Geburten zu entscheiden, machte damit das eigene Leben plan- und gestaltbarer – zumindest bezogen auf den reproduktiven Bereich. Das Gesetz erlaubte für die Frauen in der DDR neue Wahlmöglichkeiten und Handlungsspielräume. Für die Frauen im Westen entstanden diese reproduktiven Wahlmöglichkeiten in anderen Bereichen wie durch den Zugang zur Pille seit Mitte der 1960er Jahre oder durch den nach 1969 zunehmend leichteren Zugang zur Sterilisation als Methode der Familienplanung. Modernisierungstheoretisch sind damit in Ost und West Individuen entstanden, die kompetent ihre Wahl zwischen verschiedenen Handlungsoptionen treffen können und auch müssen, das heißt auch die Folgen ihrer Handlungen immer mitdenken.

 

GESCHLECHTERDISKURS/ FEMINISTISCHER DISKURS

In den Diskursen zu Abtreibung, wie zu generativer Reproduktion insgesamt, wird auch die Ordnung der Geschlechter produziert und reproduziert. Gerade die Definitions- und Legitimationsmacht der Wissenschaften und die Zuschreibung von wissenschaftlich begründeten natürlichen Eigenschaften und Verhaltensweisen trug dazu bei, die hierarchische Geschlechterordnung zu reproduzieren und auch strukturell zu verankern. Diese Diskurse führten nicht nur dazu, dass Männern und Frauen unterschiedliche Verhaltensweise zugeschrieben wurden, sondern dass sie von diesen auch jeweils anders erfahren wurden. Die Deutung von dramatischen psychischen Folgen nach einer Abtreibung fügt sich daher gut in Vorstellungen der Frau als emotionaleres, sensibleres Geschlecht ein, das seine fürsorgerischen Eigenschaften nach einer Abtreibung nicht ausleben kann. Die Gedankenverbindung von Natürlichkeit, Schwangerschaft beziehungsweise Geburt gleich Gesundheit und von Abtreibung gleich Krankheit, produzieren wissenschaftlich legitimierte Kausalitäten, die ihre Macht in den Vorstellungen über die Folgen einer Abtreibung entfalten. Mit der Frauenbewegung in den 1970er Jahren etablierte sich ein feministischer Diskurs, der für die Abtreibung und für das Thema Selbstbestimmung bedeutsam war. Dieser feministische Diskurs stellte mit seiner Kritik an den patriarchalen Strukturen der Gesellschaft auch die stereotypen Vorstellungen von Mütterlichkeit und Weiblichkeit in Frage und setzte sich seit den 1970er Jahren für Selbstermächtigung über den eigenen Körper ein. Selbstermächtigung über den Körper richtet sich allerdings auch auf körperliche Individualisierung sowie Selbstzwang und macht damit gerade Frauen zu engagierten Nutzerinnen von Angeboten, die sich um die Psyche zentrieren und die präventiv angelegt sind. Die Auseinandersetzung mit sich selbst, die Selbstbestimmung in Verbindung mit den von außen zugewiesenen aber auch verinnerlichten weiblichen Eigenschaften, machte Frauen anfällig für das Argument psychischer Folgen. Es ist bis heute sehr wirkmächtig.

 

DISKURSE NACH 1989 – WELCHE THEMEN WERDEN WEITERVERFOLGT?

Sowohl die Fristenlösung der DDR als auch die Indikationsregelung galten bis nach der Wiedervereinigung. Im Zuge der Rechtsangleichung aufgrund des bevorstehenden Beitritts der DDR zur Bundesrepublik bestand auf einmal die Möglichkeit, dass die bundesdeutsche Regelung zum Schwangerschaftsabbruch auf das Gebiet der DDR ausgedehnt wird, während die neue Regierung forderte, die Fristenlösung im gesamten Bundesgebiet anzuwenden. Die historische Wende 1989 wurde von vielen ostdeutschen Frauen als besonders einschneidend erfahren; sie wurden oft als Verliererinnen der Wende apostrophiert. Ende 1992 lief das Gesetz aus, wonach eine Schwangerschaft legal, ohne Pflichtberatung und kostenlos in den ersten 12 Wochen beendet werden kann. Nach der Wende wurde die Debatte um Themen wie Abtreibung, Verhütung, Sterilisation, der angebliche Gebärstreik im Osten in beiden Teilen Deutschlands so plural geführt, wie es im Westen vorher schon der Fall war. Während von ostdeutschen Vertreter_innen vor allem die Autonomie und Entscheidungsfreiheit von Frauen betont wurde, beton ten Westdeutsche vor allem das Bild der unmündigen Ostfrau, die leichtfertig auf ihre Fruchtbarkeit verzichte und die Bedeutung der Mutterschaft für ihre individuelle Entwicklung nur unzureichend verinnerlicht habe. Die Auseinandersetzung zwischen Ost und West spiegelte sich hier auch in der Differenz von Ost- und Westfrauen wider. Mit Blick auf den Modernisierungs- und Individualisierungsdiskurs wurde den Ostfrauen von Westfrauen fehlendes Körper- und Frauenbewusstsein attestiert und dem Bild der ›frauenbewussten, starken, flexiblen Westfrau‹ gegenübergestellt. Ostfrauen blieben damit rückständig, Tradionellem verhaftet; westdeutsche Frauen waren modern und zukunftsorientiert. Hier wurde ein Modernisierungsvorsprung für die Frauen aus dem Westen formuliert und die Frauen aus dem Osten sollten das, was als Vorsprung galt, nachholen. Diese als Ost-West-Differenz geführte Debatte trug auch nicht zu einem gemeinsamen Handeln im Sinne einer Regelung bei, wie sie in der DDR existierte hatte.

Aktuelle wissenschaftliche Analysen öffentlicher Diskurse zur Abtreibung in den 1990er und 2000er Jahren zeigen zweierlei: Einmal die große Überrepräsentanz von Parteien oder parteipolitisch begründeter Präsenz in der öffentlichen Debatte, während Organisationen sozialer Bewegungen kaum zu Wort kommen (Gerhards und Neidhardt 1998). Das bedeutet, dass nicht alle gleichermaßen am öffentlichen Deutungsprozess teilhaben. Zum zweiten zeigen diese Analysen, dass im Abtreibungsdiskurs grob zusammengefasst dem ›Prinzip des Rechtes des Fötus‹ oder ›Fötus als Leben‹ die Hegemonie zukommt, während Frauen das Recht zum Schwangerschaftsabbruch überwiegend über Ausnahmezustände wie soziale, medizinische und eugenische zugestanden wird.

Dieses Ergebnis spiegelt sich auch in einer Leser_innendebatte der ZEIT wider. Ich habe mir vor einiger Zeit als Spiegel der Debatte die Reaktionen auf einen Artikel der ZEIT aus dem Jahr 2013 mit dem Titel Tabu Abtreibung sowie die umfangreichen Kommentare zum Artikel angeschaut. Im Artikel geht es um das Leiden an der Entscheidung für eine Abtreibung. Diese thematische Ausrichtung findet sich auch in anderen Zeitungen und Zeitschriften. Die vielen Kommentare spiegeln die aktuelle Spannbreite der Argumente zur Legitimität und zum erwarteten Umgang mit einer Abtreibung wider. Als nicht legitim wird eine Abtreibung dann betrachtet, wenn das Kind gesund ist. Häufig wird auf Seiten der Gegner der Abtreibung das Lebensrecht des Fötus als Argument eingebracht, ebenso die Selbstsucht und Bequemlichkeit von Frauen sowie auch die gravierenden psychischen Folgen für die Frau, die man davor schützen müsse. Auf Seiten derjenigen, die Abtreibungen befürworten, wird demgegenüber das Entscheidungsrecht der Frau, die psychischen Folgen der ungewollten Kinder, die sogenannte ›Fehlstart-Hypothek‹ betont.

Bei Amazon findet man aktuell (2018) unter den Suchbegriffen ›Abtreibung‹ und ›Bücher‹ 721 Quellen. Als ich das letzte Mal 2013 suchte, waren es 556 Quellen. Davon finden sich 200 Ratgeber, 18 belletristische Bücher, 301 Fachbücher aus Recht, Psychologie, Medizin, Soziologie, 40 aus Religion und Glauben, zwei Geschenkbücher (österreichisches Strafrecht und ein Erinnerungsalbum), vier Kinder- und Jugendbücher wie Cyankali von Friedrich Wolf. Auf die Jahre verteilt, werden jährlich 30-40 neue Bücher angeboten.

In medizinischen, psychologischen oder sozialwissenschaftlichen Datenbanken findet sich eine Unmenge an Artikeln zum Thema; eine kurze Recherche in der Süddeutschen Zeitung erbrachte 1797 Einträge und 645 bei der Bildzeitung. In der Süddeutschen Zeitung sind sie ab 2015 gestiegen. Waren es bis 2015 jährlich etwa 100, stieg die Zahl im letzten Jahr auf über 300. Der Anstieg folge einer Wiederaufnahme der Debatte zum § 219a. Wahrscheinlich gab es niemals mehr Möglichkeiten als heute, etwas über Abtreibung zu lesen. Es werden insbesondere psychische Probleme, Gründe für Spätabbrüche, internationale Diskurse – vor allem die Auseinandersetzung in den USA – thematisiert.

Die Grenzlinie der Debatten, also zwischen dem, was Gegenstand der Diskurse ist, und dem, was wirklich tabuisiert ist, liegt genau da, wo es um die Selbstbestimmung über eine Abtreibung und die freie Entscheidung von Frauen geht. Diese war in den Debatten kaum ein Thema.

 

Daphne Hahn

 

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BECK-GERNSHEIM, ELISABETH (1984): Vom Geburtenrückgang zur neuen Mütterlichkeit? Über private und politische Interessen am Kind. Frankfurt am Main.

GERHARDS, JÜRGEN UND NEIDHARD, FRIEDHELM (1998): Zwischen Palaver und Diskurs: Strukturen und öffentliche Meinungsbildung am Beispiel der deutschen Diskussion zur Abtreibung. Wiesbaden.

HAHN, DAPHNE (2000): Biopolitik und Modernisierung. Sterilisation und Schwangerschaftsabbruch in Deutschland nach 1945. Frankfurt am Main und New York.