Vor genau 80 Jahren und quasi in letzter Minute emigrierte der 82-jährige, todkranke Sigmund Freud vor seinen Nazi-Häschern nach London. Er hatte sich lange dagegen gesträubt, seine Heimat zu verlassen. Ein Jahr zuvor hatte Erich Fromm, damals schon in seinem Exil in den USA lebend, seine sozialpsychologische Studie Zum Gefühl der Ohnmacht geschrieben. Sie ist ein kritisches Zeitdokument, und wir können annehmen, dass sie durch ein Gefühl angeregt wurde, das damals angesichts der Entwicklung in Europa, ein Jahr vor der Annektierung Österreichs, zwei Jahre vor dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges und weit nach Beginn der Judenverfolgung in der Luft gelegen haben muss. Auch wenn der deutsche Barbarismus darin nur angedeutet wird, dürfte Fromms letzter Text in deutscher Sprache auch verarbeitender Niederschlag von Ohnmachtsgefühlen eines deutschen Juden, eines liberalen Sozialpsychologen und eines marxistisch orientierten Psychoanalytikers gewesen sein.  

Fromm hatte schon vor 1937 angefangen, sich in zentralen Punkten von der psychoanalytischen Theorie Freuds abzuwenden, insbesondere mit der Ablehnung des Triebkonzeptes. Für ihn war die Persönlichkeitsentwicklung nicht durch individuelle Triebschicksale bestimmt, sondern durch gesellschaftlich Kräfte, die über die Familie vermittelt wurden. Das brachte ihn in Polarität zu seinen Kollegen am Institut für Sozialforschung, die am Triebkonzept festhielten und darin sogar eine wichtige Widerstandskraft des Individuums gegen gesellschaftliche Einflüsse sahen. Außerdem erlebte Fromm das klassische psychoanalytische Behandlungssetting als starr, autoritär und eindimensional (Funk 1983; Hardeck 2005). Er sympathisierte mit der mutativen Psychoanalyse Ferenczis, in der die Rollen zwischen Patient und Psychoanalytikerin wechselten und war von Sullivans Theorie der interpersonalen Beziehung beeinflusst. Gegen den Strom schwimmend und mit dem Vorwurf des ›Revisionismus‹ konfrontiert, wurde Fromm zu einem psychoanalytischen Re-Visionisten und organisierte sich später mit Kolleg_innen in einer sogenannten neofreudianischen Gruppierung, die dem zunehmend dogmatisch werdenden Mainstream der amerikanischen Ich-Psychologie gegenüberstand. Erst heute werden, vor allem auch durch die Anerkennung von Intersubjektivität, Brücken zwischen den Nachfolgern dieser gegenläufigen Strömungen sichtbar, (vgl. Bohleber 2018). Fromm wies mit seiner Haltung über seine Zeit hinaus, nicht zuletzt auch mit seinem Interesse für die Intersektion der individuellen und kollektiv-gesellschaftlichen Dimension. Deswegen kann sein Text als Ausgangspunkt für eine neuerliche psychoanalytische Untersuchung von Ohnmacht herangezogen werden. 

 

Der Neurotiker und die Ohnmacht

Zum Gefühl der Ohnmacht lässt sich als eine Art allgemeine Psychopathologie des Neurotikers unter dem Aspekt von Ohnmacht lesen.

Das Ohnmachtsgefühl ist bei neurotischen Menschen so regelmäßig vorhanden und stellt einen so zentralen Teil ihrer Persönlichkeitsstruktur dar, dass sich vieles dafür sagen ließe, die Neurose geradezu von diesem Ohnmachtsgefühl her zu definieren (Fromm 1980: 190).

Fromms Text stammt aus einer Zeit, in der die Psychoanalyse noch primär als Sicht einer/s beobachtenden, außenstehenden Psychoanalytiker_in auf das Intrapsychische seines Objektes, den/die Neurotiker_in verstanden wurde – hierfür wurde sehr viel später der Begriff Einpersonen-Psychologie gefunden. Es geht also um ein Verhältnis zwischen Psychoanalytiker_in und Neurotiker_in, das hierarchisch strukturiert ist und sich damit selbst zwischen Macht und Ohnmacht aufspannt. Acht Jahrzehnte später gibt es den Neurotiker nicht mehr, und die Idee des neurotischen Patienten auf der einen und des nicht neurotischen Psychoanalytikers auf der anderen Seite, erscheint geradezu verwegen. Das neurotische Paradigma ist durch das traumatische, und das Einpersonen-Denken durch ein Denken in Beziehungen und gegenseitiger Beeinflussung ersetzt worden. Um dieses Verhältnis zu fassen ist die Bezeichnung intersubjektive oder Zweipersonen-Psychologie geschaffen worden. Das konnte Fromm 1937 noch nicht wissen, es hätte ihn aber, so dürfen wir vermuten, gefreut.

Es gibt heute verschiedene psychoanalytische Schulen mit Konkurrenzen und Kakophonie. Vor allem aber sind wir Psychoanalytiker_innen unsicher geworden, was unser Wissen und was Wahrheit (oder eher: was Wahrheiten) angeht. Wahrheiten und Wissen haben sich in Relativierungen und Ambiguitäten verflüchtigt. Die Analytiker_in ist längst vom Sujet savoir zum Sujet supposé savoirLacans geworden (vgl. Evans 2002: 293ff.) – zum Subjekt, das nicht Wissen hat, sondern dem Wissen unterstellt wird. Der/ Die wissende Analytiker_in ist eine Spezies, die irgendwann in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts auszusterben begonnen hat – auch wenn diese Erkenntnis sich noch nicht restlos herumgesprochen hat. All diese Veränderungen zu ertragen und zu bewältigen, ist für Psychoanalytiker_innen mit dem Aufgeben von realer wie illusionärer Macht verbunden – in einem fortlaufenden Prozess, der schmerzhaft und nicht frei von Ohnmachtsgefühlen ist.

 

Ein Gefühl mit verschiedenen Gesichtern

Ohnmacht kann ein ganz akutes Gefühl sein, etwa in einer demütigenden und/oder traumatischen Situation. Sie kann aber auch ein anhaltendes Gefühl sein oder zu einer Haltung werden und über Jahre bestehen. Ihre anhaltende Form ist diejenige Ohnmacht, die Fromm beschreibt: Es handelt sich darum,

dass ein Mensch nicht imstande ist, bestimmte Funktionen auszuüben, dass er etwas nicht tun kann, was er können sollte, und dass diese Unfähigkeit mit einer tiefen Überzeugung von der eigenen Schwäche und Machtlosigkeit einhergeht (Fromm 1980: 190).

Fromms Neurotiker_in formuliert das so:

Ich kann nichts beeinflussen, nichts in Bewegung setzen, durch meinen Willen nicht erreichen, dass irgendetwas in der Außenwelt oder in mir selbst sich ändert, ich werde nicht ernstgenommen, bin für andere Menschen Luft (ebd.: 190).

Ohnmacht ist ein lähmendes Gefühl, sie passiviert, kann in Resignation und Lethargie münden. »Man ergibt sich« einem Umstand/ einer Autorität/ einer Instanz. Ohnmacht ist das Gefühl Kafkas, ein labyrinthisches Schloss, ein auswegloser Prozess. Deswegen ist Ohnmacht immer auch in einen sozialen Raum eingefasst, in dem es eine/n reale/n oder imaginäre/n Andere/n gibt, die/der Macht ausübt.

Das Verhältnis zwischen Macht und Ohnmacht ist wechselseitig. Wir können uns beide als Pole vorstellen, zwischen denen sich ein Feld ausbreitet, in dem das Individuum sich in Bezug auf ein Gegenüber beziehungsweise einen sozialen Raum verorten und austarieren muss. In diesem Feld eine Balance zu finden, ist ein delikater Prozess ständiger Anpassungen. Die extremen Pole sind für die meisten Menschen unerträglich, zumindest gilt das für die Seite der Ohnmacht. Vollkommene Ohnmacht ist extremes Ausgeliefertsein, etwa im Erleben von Folter. Der Bericht Reemtsmas (2001) Im Keller, benannt nach dem Ort seiner Entführung, legt darüber Zeugenschaft ab:

Vielleicht wird Übermächtigung immer von Gefühlen der Scham begleitet. […] Eine Übermächtigung macht einen klein, reduziert einen, liefert einen aus, ist stets auch dann eine Schändung und Schmach, wenn für den Außenstehenden scheinbar gar nichts Peinliches dabei ist.

In dieser Beschreibung wird deutlich, wie sehr Ohnmacht ein relationales Verhältnis darstellt. Ohnmacht ist gerade nicht als ein isoliertes Gefühl zu verstehen, sondern als ein Konglomerat aus verschiedenen Gefühlen durchweg ›negativer‹ Natur: Ohnmacht setzt sich zusammen aus und verbindet sich mit: Angst, Scham, Schuld, Demütigung, Schmach und so fort.

Wenn vom Pol der Ohnmacht ein Schrecken ausgeht, kann aber auch die andere Seite des Feldes, die Seite der Macht, ängstigen. Macht ist nur um den Preis zu haben, andere auf Abstand zu bringen. Macht macht einsam. Sie macht vulnerabel und fragil und führt deshalb in letzter Konsequenz, wie Mario Erdheim uns gezeigt hat, in ein paranoides Erleben (Erdheim 2005).

 

Der Vektor Lebensgeschichte

Die Situation ist kompliziert, denn das Feld, in dem sich innere und äußere Beziehungen zwischen den Polen von Macht und Ohnmacht aufspannen, ist zu großen Teilen unbewusst und wird von inneren und äußeren Vektoren beeinflusst. Dazu gehören lebensgeschichtliche Erfahrungen, die sich als Muster organisiert haben und sich im sozialen Feld als Bereitschaft zur Übertragung neue Aktualisierungen suchen.

Lebensgeschichtlich ist Ohnmacht mit der Situation des Neugeborenen verbunden, der unreif auf die Welt kommt und so in eine Situation von existentieller Hilflosigkeit und Angewiesensein hineingeboren wird. Existentielle Angst und Ausgeliefertsein spielen besonders dann eine Rolle, wenn die Bezugspersonen nicht ausreichend sicher zur Verfügung stehen. Das Verhältnis des Kindes zu Macht und Ohnmacht wird aber auch da verhandelt, wo es um die Entwicklung von Autonomie geht, um das erste Nein, um eigene Position und Selbstmächtigkeit. Hier ist ein vulnerabler Punkt markiert, an dem Erfahrungen von unterdrückender elterlicher Macht und Dominanz möglich sind. Auch in ödipalen Konflikten werden Machtkonstellationen verhandelt, die mit Gefühlen von Demütigung, Zurückweisung und Niederlage verbunden sind.

Und bei alledem steht uns der Tod als eine anthropologische Gewissheit gegenüber, als die existentielle Erfahrung von Ohnmacht.

Nach Fromm ist das überdauernde Gefühl von Ohnmacht mit der lebensgeschichtlichen Erfahrung verbunden, als Kind von den Eltern nicht ernstgenommen worden zu sein. Das Kind hat dann nicht die Erfahrung machen können, die Eltern in ihren Entschlüssen beeinflussen und selbständig etwas erreichen zu können. Er bezieht sich auf unterdrückende und willkürliche, aber auch auf verwöhnende Erziehungsmuster. Das gilt besonders dann, wenn »die Freundlichkeit der Eltern das Kind an der Entfaltung jeder prinzipiellen Opposition hindert und es nur umso hilfloser und ohnmächtiger macht« (Fromm 1980: 201). Fromm veranschaulicht das mit dem Bild des Spieltelefons:

Es sieht aus wie ein richtiges Telefon, das Kind kann den Hörer abnehmen und die Nummern wählen, nur verbindet es mit niemandem. Das Kind kann niemanden erreichen, und obwohl es genau dasselbe tut wie der telefonierende Erwachsene, bleibt seine Handlung ohne jede Wirkung und ohne jeden Einfluss (ebd.: 202).

Lebensgeschichtliche Erfahrungen und Verarbeitungen von Macht-Ohnmacht-Konstellationen können als Haltungen von Unterlegenheit oder Überlegenheit in den Charakter eingehen und mit sozialen Strebungen in Richtung von Unterwerfung oder von Dominanz verbunden sein. Dabei spielen immer auch kompensatorische Gegenregulierungen und Gegenbesetzungen eine Rolle. Wir erleben immer wieder, wie ein vermeintlich schwacher, ohnmächtiger Mensch einen scheinbar starken Menschen in die Ohnmacht treiben kann. Der Film Ein seltsames Paar von Gene Saks (1968) erzählt die amüsante Version, in der Felix (alias Jack Lemmon) Oskar (alias Walter Matthau) an den Rand des Wahnsinns bringt. Felix, ein zwanghafter Parade-Neurotiker, ist gerade von seiner Frau verlassen worden. Aus Furcht, Felix könne sich umbringen, nimmt sein Freund Oskar, selbst geschieden, ihn in seiner Wohnung auf. Dort entfaltet Felix derart kontrollierende und übergriffige Züge, dass dem Zuschauer schnell klar wird, warum seine Ehefrau ihn hinausgeworfen hat. Felix Ohnmacht enttarnt sich als Schein; tatsächlich bringt er Oskar in die Position von Ohnmacht, bis dieser in einem Akt von Rage Felix aus der Wohnung wirft.

Felix Ohnmacht verdeckt sein aggressiv-sadistisches Kontrollverhalten. Er ist ohnmächtig, aber er ist auch sehr mächtig, indem er andere tyrannisiert und aggressiv macht. Auf diese Art schafft er es, die Aggression und die Position von Ohnmacht im Beziehungsfeld zu verwischen und sich selbst als unschuldiges Opfer fühlen zu können. Der Film ist ein Lehrstück dafür, wie Ohnmacht in der Lage sein kann, Aggressionen zu binden und damit eine für die Abwehr, aber auch für die Steuerung von Beziehungen wichtige Funktion übernehmen kann. Er ist gleichzeitig ein Beispiel dafür, dass die Verteilung von Macht und Ohnmacht nicht so eindeutig ist, wie sie auf den ersten Blick wirkt – ein Umstand, der schon in Hegels Metapher von Herr und Knecht und ihrer gegenseitigen Abhängigkeit angesprochen ist.

 

Ohnmacht politisch

Das Feld von Macht und Ohnmacht ist natürlich auch ein politisches. Das ist ein Punkt, der von der Psychoanalyse wenig in Augenschein genommen worden ist, obwohl sie selbst an Machtdiskursen und der Etablierung von Normen beteiligt ist. Lacan hat uns beispielsweise gezeigt, wie wir in Sprache hineingeboren werden. Vorgängig ist mit der Sprache dann auch die soziale Ordnung, mit der wir als Individuen, so die theoretische Perspektive, über die Bildung von Überich und Ichideal verknüpft werden und bleiben. Tatsächlich aber sollten wir uns vorstellen, dass die soziale Ordnung uns bis tief in unseren Körper hinein komplett durchdringt und wir – vice versa – sie dabei inkorporieren. Der Körper ist das Scharnier, an dem – von einer anderen Konzeptualisierung her – Diskurse und Dispositive Macht auf uns ausüben, sich unserer bemächtigen.

Ähnliche Gedanken tauchen auch schon bei Fromm auf:

Das Kind wird gelehrt, die Tugenden von Bescheidenheit, Anspruchslosigkeit, Nächstenliebe zu entwickeln. Für die große Mehrzahl der Menschen ist es nötig, dass sie sich fügen können, dass sie ihre Ansprüche auf eigenes Glück reduzieren und bis zu einem gewissen Grade tatsächlich jene Tugenden verkörpern (Fromm 1980: 202).

Fromm verweist darauf, dass der Wert des Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft an seiner ökonomischen Leistungsfähigkeit gemessen wird und dass er Mächten ausgeliefert ist, denen gegenüber er keinerlei Kontrolle hat.

Der durchschnittliche Erwachsene unserer Gesellschaft ist tatsächlich ungeheuer ohnmächtig, und diese Ohnmacht wirkt noch umso drückender, als er ja glauben gemacht wird, es müsste eigentlich ganz anders sein und es sei sein Verschulden, wenn er so schwach sei (ebd.: 203).

Daraus kann sich kompensatorisch eine Tendenz ergeben, Kontrolle und bestenfalls auch Macht überall da auszuüben, wo es irgend möglich ist. Demütigungen und Sadismus werden dann nach unten durchgereicht.

 

Ohnmacht verschwinden lassen

In diesem schwer durchsichtigen Feld ist es nicht leicht, eine Balance zwischen Macht und Ohnmacht zu finden, und es bedarf nicht selten auch einiger Tricks und Selbsttäuschungen, um darin nicht unterzugehen. Dazu gehört, dass das Gefühl von Ohnmacht zumeist verdrängt wird. Fromm geht hier besonders auf die Rationalisierung ein. Scheinerklärungen verdecken dann das Gefühl von Ohnmacht. Untätigkeit kann zum Beispiel auf körperliche Einschränkungen zurückgeführt werden. Ein Patient von mir litt an einem chronischen Fatigue-Syndrom und erklärte komplett damit den Stillstand in seinem Studium. Andere Erklärungen können bestimmte Erlebnisse sein, eine gescheiterte Ehe, ein finanzieller Zusammenbruch. Ohnmacht wird dann mit äußeren Verhältnissen begründet. So gibt es Menschen, die in ihren Gedanken so lange eine Schwierigkeit auf die andere türmen, bis die Bewältigung der Aufgabe komplett aussichtslos geworden ist und die Aussichtslosigkeit vollkommen begründet erscheint. Das kann noch gesteigert werden, wenn solche Schwierigkeiten real hergestellt werden und Selbstdestruktivität dafür in Kauf genommen wird. Auch der Glaube an Wunder oder das Vertrösten auf ein später oder irgendwann einmal gehört zu den Rationalisierungen.

Das Gemeinsame an all diesen tröstenden Illusionen ist immer, dass man selbst nichts zum gewünschten Erfolg zu tun braucht, auch gar nichts dazu tun kann, sondern daß eine außerhalb des Menschen stehende Macht oder Konstellation plötzlich das Gewünschte vollbringt (Fromm 1980: 195).

Eine andere Abwehrform ist die Reaktionsbildung: Geschäftigkeit soll dabei das Ohnmachtsgefühl unterdrücken. Es gibt dann ein Streben nach Kontrolle und Führung, oft auf die Fantasie beschränkt, in denen es sich in Form von Größenideen ausbreiten kann. Manchmal wird faktische Ohnmacht im Großen auch durch faktische Macht im Kleinen ersetzt: nach oben buckeln, nach unten treten. Die Welt wird dann in zwei Sphären aufgeteilt: eine, in der man sich ohnmächtig fühlt und eine, in der man sich als mächtig inszeniert.            

 

Ohnmacht behandeln

Ohnmacht hat in der psychoanalytischen Behandlung bei allen Formen von Traumatisierung naturgemäß eine zentrale Stellung. KarlGrabska (2005) geht darüber hinaus, wenn er dem psychoanalytischen Setting an sich einen traumatischen Charakter zuspricht. Die analytische Beziehung gründe sich in einer tiefgehenden Versagung, die sich (unterstützt durch das Setting im Liegen) im Verlust des Gegenübers und dem Gefühl extremen Ausgeliefertseins niederschlage. Er schließt dabei den/die Psychoanalytiker_in in die wechselseitige Abhängigkeitskonstellation ausdrücklich ein: Jeder der beiden Protagonisten erlebe den anderen als vermeintlichen Verursacher eigener emotionaler Ohnmacht und damit als potenzielles Trauma-Objekt. Das ist sicherlich pointiert formuliert, gleichwohl beschreibt Grabska eine Behandlung, in der er als Psychoanalytiker von einer umfassenden Ohnmacht heimgesucht wird, die er zunächst als solche gar nicht identifizieren kann. Ständige Verspätungen und Stundenabsagen seines Analysanden führen dazu, dass der Analytiker sich zurückzieht, die Motivation verliert, schon auf das Ende der Stunden wartet. Das hält so lange an, bis ihm bewusst wird, dass er den Patienten bereits ›abgeschrieben‹ hat. In diesem Moment gerät etwas in Bewegung, zunächst im Analytiker. Er beginnt zu erkennen, wie der Analysand eigene Ohnmachtsgefühle dadurch abgewehrt hat, dass er sie an den Analytiker weitergegeben beziehungsweise in diesen hineinverlegt hat. Verständnis hat sich hier zunächst an der Gegenübertragung entzündet und dann erst auf das Geschehen innerhalb der analytischen Paarbeziehung ausdehnen können. Dieses Stück Verständnis hat eindrucksvollerweise fast augenblicklich dazu geführt hat, dass der Patient seine Abwehrmauer abbauen und die Analyse wieder vorangehen konnte.

Auch von anderen Autor_innen wird beschrieben, wie sich Ohnmacht als ein Übertragungs-Gegenübertragungsphänomen inszeniert – immer wieder auch in einem »Handlungsdialog« oder »Enactment« zwischen beiden Behandlungspartnern (z. B. Kächele und Deserno 2009). Steiner (2011) beschreibt, wie ein Patient die Analyse so stark gelähmt und infrage gestellt habe, dass der Analytiker in eine aktive Geschäftigkeit gefallen sei, um seine Ohnmacht nicht spüren zu müssen. Hier hat der Analytiker erst diese Gefühle zulassen müssen, damit sich die festgefahrene Situation ändern konnte. Allen Behandlungen ist gemein, dass Ohnmacht stark abgewehrt wird, zugleich aber doch wieder in die Behandlung einsickert und dabei auch den Analytiker sowie die Gegenübertragung erfasst. Sobald die Ohnmacht sich dann zwischen dem analytischen Paar aufspannt, gibt es – vorausgesetzt, dass nicht an der Abwehr festgehalten werden muss - eine gute Chance, die Ohnmacht in der Übertragung und als eine gemeinsame Angelegenheit des analytischen Paars zu behandeln und zu bearbeiten. Dabei kann dann den verschiedenen Spuren nachgegangen werden, die in diese Haltung hineinwirken.

 

Was ist daraus geworden?

Fromms Studie über die Ohnmacht ist 80 Jahre alt, aber immer noch von überraschender Aktualität. Das beruht nicht nur auf der exzellenten Beschreibung der Phänomenologie von Ohnmacht, die Abwehr und die daraus entspringenden Gefühle von Angst und Wut eingeschlossen, sondern auch auf der sozialpsychologischen und damit auch politischen Einordnung von Ohnmacht. Fromm hat seine Arbeit 1937 geschrieben, nachdem die nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie längst ihre Arbeit aufgenommen hatte und er selbst als eines ihrer ersten Opfer in die Emigration geflüchtet war. Autoritäre Führung will Ohnmacht erwirken. Autoritäre Staaten haben ohnmächtige Bürger_innen, auch wenn die Bürger_innen Ohnmachtsgefühle abwehren und sich mit den ›starken Führern‹ identifizieren; denn die identifikatorisch gewonnene Stärke beruht auf einer Illusion von Macht.

Fromm skizziert den »bürgerlichen Menschen« von 1937 so, dass wir ihn fast nahtlos auf sein Konterpart anno 2018 übertragen können:

Er produziert eine Welt der großartigsten und wunderbarsten Dinge; aber diese seine eigenen Geschöpfe stehen ihm fremd und drohend gegenüber; sind sie geschaffen, so fühlt er sich nicht mehr als ihr Herr, sondern als ihr Diener. Die ganze materielle Welt wird zum Monstrum einer Riesenmaschine, die ihm Richtung und Tempo seines Lebens vorschreibt. Aus dem Werk seiner Hände, bestimmt, ihm zu dienen und ihn zu beglücken, wird eine ihm entfremdete Welt, der er demütig und ohnmächtig gehorcht (Fromm 1980: 189).

Der Psychoanalytiker Klaus Poppensieker (2018) hat in einem Vortrag über die Folgen von Globalisierung und Digitalisierung etwas Ähnliches über die heutige Zeit formuliert, nämlich

 […] dass durch die zunächst bejubelten, und oft tatsächlich grandiosen neuen Möglichkeiten auch etwas zerstört wird. Und zwar etwas Wesentliches. Fundamentaler Halt ist keine Kleinigkeit! Man wacht im Silicon Valley sozusagen mit einem Kater auf. Was haben wir da gebaut?

Poppensieker beschreibt mit Verweis auf Rosa, Türcke und Baumann, wie mediale Veränderungen auf das Individuum wirken, wie Beschleunigung und Überangebote Besinnung und Reflexion auslöschen. Besonders geht er auf den Verlust von tradierten Narrativen ein, die lange, insbesondere als religiöse Narrative, Bedeutung gegeben haben. Er erklärt mit diesem Verlust eine wachsende Haltlosigkeit. All diese gesellschaftlichen Veränderungen, zumeist als aufgezwungen erlebt, bewirken Gefühle von Ohnmacht in der Art, wie Fromm sie für jene Krisenjahre beschrieben hat. Die daraus erwachsene Überforderung wird mit individueller wie kollektiver Regression abzuwehren versucht. Mögliche Abwehrstrategien sind beispielsweise Identifizierung mit autoritären Strukturen, Polarisierung und Projektionen auf ›Sündenböcke‹.

 

Faisons travailler Fromm

Die Ohnmacht, die Fromm herausstellt, ist geronnene Ohnmacht, eine Ohnmacht, in die jemand sich ergeben hat, die zu einer Haltung geworden ist: die Ohnmacht des ›Neurotikers‹. Die Einengung auf diese ›neurotische‹ Form hindert allerdings, Ohnmacht auch dynamischer zu fassen. Ohnmacht ist ein Gefühl, das sich in offener oder verdeckter Form in einem Individuum niederschlägt; das Individuum ist dabei aber in ein Beziehungsgefüge eingeordnet. Die Ohnmacht kann Folge einer Beziehungsdynamik sein, oder aber ein Element, das in eine Beziehungsdynamik hineinfließt. In allen Fällen hat sie eine dynamische Wirkung, durch die das Beziehungsfeld verändert wird, was wiederum auf das Individuum zurückwirkt: Ohnmacht als ein relationales Gefühl. Ohnmacht kann anstecken, Mitleid wecken, Hilfsimpulse evozieren, sie kann ebenso Folge von Gewalt sein, wie sie auch sadistische Reaktionen auslösen kann. Die Geschichte von Felix und Oskar ist ein Beispiel dafür, wie Macht und Ohnmacht hin- und herspringen können.

Der dynamische und der relationale Charakter bergen das Potential für die Veränderung von Ohnmacht, gerade da, wo sie zu einer resignativen Haltung geronnen ist. In der psychotherapeutischen Situation scheint die Ohnmacht zunächst einmal ihre Wirkung entfalten zu müssen, um so eine Form von Anerkennung finden zu können. Dabei schreibt sie sich in die Beziehungssituation ein und wird Bestandteil des Übertragungs-Gegenübertragungsgeschehens. Die skizzierten Fallberichte beschreiben, wie die therapeutische Arbeit an der in das Beziehungsfeld getretenen Ohnmacht dann zu einem Ausgangspunkt für ihre Überwindung werden kann.

Als Fromm Zum Gefühl der Ohnmacht geschrieben hat, war er aus ›Hitler-Deutschland‹ emigriert; in einem noch fremden Land; Kriegsangst in der Luft; der Holocaust in Gang gesetzt; die jüdische Mutter in Deutschland zurückgelassen; er selbst an einer lebensbedrohlichen Lungen-Tuberkulose leidend; seine Position am Institut für Sozialforschung prekär. Sicherlich war Fromms Widerständigkeit ein guter Schutz gegen Ohnmacht, dennoch können wir uns fragen, ob er in dieser Situation nicht doch mit solchen Gefühlen gekämpft haben muss und seine Arbeit nicht auch ein Versuch gewesen sein könnte, per Verschiebung damit fertig zu werden. Auf jeden Fall ist ein wunderbarer Text entstanden, von dem aus wir noch heute über Ohnmacht nachdenken können.

 

Lutz Garrels

 

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Bohleber, W. (2018): Übertragung – Gegenübertragung – Intersubjektivität. Zur Entfaltung ihrer intrinsischen Komplexität. In: Psyche 72 (9): 702–733.

Erdheim, M. (2005): Das Traumatisierende an der Macht. In: Springer, A. und A. Gerlach und A. Schlösser (Hrsg.): Macht und Ohnmacht. Gießen: 11–26.

Evans, D. (2002 [1996]): Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse. Übers. Burkhart, G. 1. Aufl. Wien.

Fromm, E. (1980 [1937]): Zum Gefühl der Ohnmacht. In: Funk, R. (Hrsg.): Erich Fromm Gesamtausgabe in zehn Bänden. Stuttgart: 189–206.

Funk, R. (1983) Erich Fromm. (Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten). 1. Aufl. Reinbek bei Hamburg.

Grabska, K. (2005): Analyse als potentielles Trauma-Objekt: Ohnmacht als intersubjektiv geteilte Ausgangssituation des analytischen Prozesses. In: Springer, A., A. Gerlach und A. Schlösser (Hrsg.): Macht und Ohnmacht. Gießen: 219–230.

Hardeck, J. (2005): Erich Fromm. Leben und Werk. 1. Aufl. Darmstadt,

Kächele, H. und H. Deserno (2009): Macht und Ohnmacht in der psychoanalytischen Arbeit. In: Forum Psychoanal. 25: 161-183.

Poppensieker, K. (2018): Kann das Subjekt bestehen, wenn Erzählungen fehlen? Vortrag auf der Jahrestagung der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft. Hamburg

Reemtsma, J. P. (2001): Im Keller. 2. Aufl. Reinbek.

Steiner, J. (2011): Helplessness and the Exercise of Power in the