Im Juni 2011 fand in Frankfurt die internationale Nachwuchstagung Colonial Legacies, Postcolonial Contestations des FRCPS am Exzellenz-Cluster Normative Orders statt. Angekündigt waren auch zwei Panels zur Frage nach den Postcolonial Perspectives After Auschwitz. Interessant nicht nur, weil der Nationalsozialismus als blinder Fleck postkolonialer Theorie gilt, sondern auch, weil dieser akademische Zweig mitunter dafür kritisiert wird in seinem Forschungsprogramm Antizionismus zu verankern. Sollte man nun die überfällige Reflexion oder den vorprogrammierten Skandal erwarten?

Christell Gomis stellte am Beispiel Frankreichs die Situation der Opferkonkurrenz dar. Die Erinnerung an den Holocaust beherrsche die Öffentlichkeit, sei »focus of a real memorial obsession«, wobei für die an den Kolonialismus kein Platz bliebe. Dieses öffentliche Gedächtnis diene außerdem dem rassistischen Ausschluss, weil das Bekenntnis zur Geschichte des Holocaust längst Integrationsideologie des weißen Europas sei.

Das Problem solcher Zustandsbeschreibung ist aber offenbar das mangelnde Vermögen, sich auf die Sache einzulassen. Wenn man sich unkritisch auf das öffentliche Gedächtnis als letztlich leere, durch Kämpfe befüllbare Hülse bezieht, kommt man nicht darüber hinaus, Erinnerungen in Konkurrenz um öffentliche Gelder und Aufmerksamkeit zu setzen. Die Fragen, warum was wie erinnert wird, können kaum diskutiert werden, wenn nur vom Subjekt, nicht auch vom Gegenstand der Erinnerung her gedacht wird. Dass dabei das zweifelsohne mitunter zur Doktrin geronnene Gedenken der Shoah auch im Sinne einer Auseinandersetzung mit der Shoah kritisiert werden kann, bleibt dann ebenso verborgen wie Unterschiede in der Sache. Umso mehr, als Gomis bei der Funktionalisierung historischen Bewusstseins bleibt, begreift sie doch die Erinnerung an den Kolonialismus als Mittel, etwa die Kids aus den Banlieues zu integrieren.

Den Befürchtungen an das Panel mehr als gerecht wurde der Beitrag von Cengiz Barskanmaz, der mit seinem Begriff des »german exceptionalism« die Abwehr von Antisemitismuskritik explizit machte. Weil in Deutschland der Begriff zu eng an den Nationalsozialismus gekoppelt sei, wäre es unmöglich von »Rasse« zu sprechen und damit, sinnvoll Rassismus zu kritisieren. Dagegen berufe sich der »german exceptionalism« auf den »german context« um Rassismuskritik zu verunmöglichen. Der Widerspruch, einen spezifisch deutschen Kontext einerseits zu attestieren und gleichzeitig als bloße Ideologie zu kritisieren, stört ihn dabei wenig. Sein Punkt, die Deutschen noch so eindeutig als Tätervolk zu begreifen, drohe die nationalsozialistische Definition dessen fortzusetzen, was deutsch sei, ist interessant. Will man aber, wie er vorschlägt, die als Juden Ermordeten auch einfach als Deutsche verstehen, unterschlägt man nicht nur, dass deren Mehrzahl eben nicht aus Deutschland kam, sondern vor allem das Spezifische der Shoah, den Antisemitismus. Das ist aber nicht Fehler, sondern Zweck der Übung: Alle Begriffe deutscher Besonderheiten seien als Ideologie zu kritisieren und zugunsten einer allgemeinen Rassismuskritik außer Acht zu lassen, schließlich sei Auschwitz zu »dekonstruieren«. Denn erst jetzt rückt Barskanmaz mit seiner eigentlichen Pointe raus: Wegen des »german exceptionalism« seien die deutschen Postcolonial Studies unfähig, den Kern der postkolonialen Theorie zu rezipieren, Edward Saids Israelkritik nämlich. Barskanmaz bestätigte somit die Kritik, das eigentliche Programm der postkolonialen Theorie sei Antizionismus.

Es ist jedoch wichtig, auch die Brüche im Panel zu registrieren. Das war zuallererst der chronologisch erste Vortrag von Eduard Freudmann und Lina Dokuzović aus Wien, die vor genau dem warnten, was die beiden folgenden einlösen sollten: Vorm konkurrenten gegeneinander Ausspielen der Grausamkeiten wie vor der vorschnellen Identitätsbehauptung. In Abgrenzung zu vereinseitigenden Perspektiven, die entweder in Antisemitismus und Antizionismus oder Rassismus abzudriften drohten, plädieren sie für eine Erinnerungspolitik »based on an intertwined post-colonial and post-Shoah reflection«. Hierfür seien, und das auch auf Ebene der Theorie, die »necessary relations and continuities« zu berücksichtigen, wie aber eben auch »the various differences and historical ruptures«. Man muss nicht alles teilen, was die beiden vortrugen; ohne Zweifel war der Beitrag jedoch der einzige, den man wohltemperiert nennen könnte. Dabei taten die beiden doch eigentlich nicht mehr, aber eben auch nicht weniger, als an intellektuelle Standardtugenden zu appellieren: Die Vermögen Unterscheidungen zu treffen und Zusammenhänge herzustellen.

Nun sind dies drei Positionen, deren Diskussion aus Zeitmangel ausblieb. Eine Vierte bleibt hier sogar unberücksichtigt, weil der Vortragenden keine Zeit gelassen wurde bis zur Pointe zu kommen. Es gilt jedoch, auch wenn es nur vereinzelt zu Wort kam, das Publikum miteinzubeziehen. So zog der Vortrag von Freudmann und Dokuzović sofort genau die ablehnenden Reaktionen nach sich, die anschließend auf dem Podium entfaltet wurden: Die Gewalt des Kolonialismus und in deutschen Konzentrationslagern sei ein und dieselbe gewesen und die Erinnerung an die Shoah längst Mittel rassistischer Ausgrenzung. Bezeichnend scheint das sich wohl als moderat verstehende Angebot zu sein, man solle doch einfach »every Holocaust in history« erinnern, ganz gleich ob es sich um Hungertod oder Massenvernichtung handelt. Vom Prinzip, die nationalsozialistische Vernichtung mit kolonialer Gewalt und ihren Folgen unmittelbar in eins zu setzen, scheint man nicht abrücken zu können. Dagegen wäre – wie in der Einleitung von der Moderatorin Liliana Feierstein auch getan – fürs Erste und noch zu allgemein an die von Horkheimer und Adorno getroffene Unterscheidung zwischen Rassismus und Antisemitismus zu erinnern. Den Unterschied zur organisierten Massenvernichtung als Selbstzweck will man partout nicht sehen.

Der Tiefpunkt der Veranstaltung war aber erreicht, als Liliana Feierstein die moderateste Anmerkung zu Barskanmaz' Vortrag machte: Dieser sei polemisch gewesen und habe das Thema der Veranstaltung verfehlt, das sei schließlich nicht der Nahost-Konflikt gewesen. Barskanmaz war sich daraufhin nicht zu schade, Feierstein drohend für ihre »speaking position« zurechtzuweisen, kurz, sie solle hier doch besser die Klappe halten. Nach akademischer Gepflogenheit klopfte das Publikum zustimmend für diesen Abschied aus der argumentativen Auseinandersetzung. Dabei wäre es gelogen, nicht auch vom Unmut zu sprechen, der im Saal zu spüren war. Nach ausgefallener Diskussion fanden sich überall kleine Grüppchen zusammen und debattierten heftig: Die einen sahen Barskanmaz vom rassistischen Sprechverbot bedroht, die andern regten sich über dessen Polemik auf. Die öffentliche Diskussion blieb und bleibt weiter aus, war, wie Eduard Freudmann bemerkt hatte, mit Barskanmaz auch nicht mehr möglich.

War das Panel nun aber Beitrag zur Reflexion oder Skandal? Ihr Verlauf mag ein Schlaglicht auf den formulierten Anspruch setzen. Der einzige Weg, solcher Diskussion einen irgendwie produktiven Rahmen zu geben, wäre, sich – wenn schon nicht vorab, dann im Nachhinein – deutlich abzugrenzen von einem Cengiz Barskanmaz und seinem Antizionismus aus dem Lehrbuch. Solange es dem postkolonialen Milieu erträglich ist, also als nicht notwendig zu kritisieren gilt, wenn als Perspektive nach Auschwitz Antizionismus propagiert wird, kann keine Reflexion einsetzen. Umso mehr, wenn dem antizionistischen Konsens der Mehrheit und seiner Drohung mit der antirassistischen Kampagne nicht mit der ihm unerträglichen Kritik begegnet wird. Solange Ansätze wie der von Freudmann und Dokuzović alleine bleiben, wird eine Reflexion, auch da wo sie sich innerhalb der Postcolonial Studies regt, keine Folgen haben.

 

Johannes Rhein