"Das Problem Auschwitz besteht nicht darin, ob wir sozusagen einen Schlußstrich darunter ziehen oder nicht; ob wir es im Gedächtnis bewahren sollten oder in der entsprechenden Schublade der Geschichte versenken; ob wir für die Millionen von Ermordeten Mahnmale errichten und wie sie beschaffen sein sollten. Das wirkliche Problem Auschwitz besteht darin, daß es geschehen ist und daß wir an dieser Tatsache mit dem besten, aber auch mit dem schlechtesten Willen nichts ändern können." Imre Kertesz, 2002

 

Wenn nun die Vergangenheitspolitik der Berliner Republik endgültig und international etabliert, die über die letzten zwanzig Jahre betriebene moralische Aufrüstung der Bundesrepublik also abgeschlossen ist, stellt sich die Frage, was von der Aufarbeitung der Vergangenheit noch bleibt: Nachdem der kritische Glamour von der Chiffre Auschwitz abblätterte, lässt mehr und mehr auch der schulterklopfende Konsens nach, irgendwie leiste man etwas, wenn man der Pflicht zur Erinnerung nachkomme.

 

Zu dieser Gelegenheit ist der vielbeachtete Band »Gefühlte Opfer«von Ulrike Jureit und Christian Schneider erschienen, eine Kritik an der Eingemeindung der Opfer, deren Grund eine bis dato von Ich-fremden moralischem Druck geprägte Erinnerungskultur sei. Dagegen wendet sich das Buch mit dem »Plädoyer, den erinnerungspolitischen Diskurs aus seiner von Über-Ich-Positionen bestimmten Form zu befreien. Denn nur als Ich-Leistung, die sich durch kritische Realitätsprüfung auszeichnet, wird soetwas wie Trauer in der Geschichte überhaupt vorstellbar.« (Jureit/Schneider 2010: 16) An dem Buch ließe sich einiges diskutieren, hier soll es nur als Stichwortgeber dienen: Denn das, was in der Kritik an der Berliner Republik häufig als eine subtilere Form der Schuldabwehr und damit als Kontinuität zum bundesrepublikanischen Schweigen über den antisemitischen Massenmord hervorgehoben wurde, begreifen Jureit und Schneider als für die Erinnerung der zweiten Generation paradigmatisches Erlösungsversprechen, das aufzugeben wäre.

 

Nun scheint solche Kritik bereits deutlich überholt – verspricht man sich die Erlösung doch längst nicht mehr, sondern versichert sich ihrer Einlösung. Ein Beispiel hierfür mag die Verdauung der Schriften Jean Amérys sein. Dafür muss man nicht erst auf solche Kuriositäten zurückgreifen wie die Gedenk-Homepage der Plettenberger Protestanten, die doch tatsächlich ein Améry-Zitat unter eine Liste gefallener Wehrmachssoldaten setzen und es damit zum »Versöhnungs- und Friedensspruch« degradieren. Doch auch der Klett-Cotta-Verlag wirbt für die in den letzten Jahren erschienene Werkausgabe mit dem Zitat einer Rezension aus der Frankfurter Rundschau: »Die Zukunft wird Jean Améry zu den Gründungsvätern der Bundesrepublik zählen.« (Rutschky 2008: o.S.) Dabei war doch gerade Améry der Denker der Unversöhnlichkeit, der in seinem 1966 erschienenen Band »Jenseits von Schuld und Sühne« unter dem Titel »Ressentiments«nicht etwa eine Analyse des erfahrenen Antisemitismus anstellte, sondern versuchte, seine Unfähigkeit zur Versöhnung mit den Deutschen als eine »sowohl moralisch als auch geschichtlich der gesunden Geradheit gegenüber ranghöhere Form des Menschlichen« (Améry 2002a: 127) zu erhellen.

Der Rezensent Michael Rutschky beansprucht jedoch ausgerechnet besagten Essay als eine Art Gründungsdokument für jene »Bundesrepublik, die in den sechziger Jahren zu entstehen begann und von der todtraurigen, manisch fleißigen, hitzig um Vergessen und Normalisierung bemühten der Restaurationsperiode sich abhob.« (ebd.) Er folgt damit einer Geschichtsschreibung, auf die man sich mittlerweile nicht ganz grundlos, aber mit verdächtiger Einvernehmlichkeit geeinigt hat: Die bleierne Zeit der frühen Bundesrepublik wurde durch die Neue Linke revoltierend dynamisiert und das auf den Weg gebrachte neue Deutschland ist in Berlin schließlich zu sich selbst gekommen. Ordnet man Amérys Essay hier ein, dann sind es Umstände wie »die bis dahin undenkbare Kanonisierung von Auschwitz« (ebd.) und die Tatsache, »dass eine die DDR enthaltende Bundesrepublik in ihrer Hauptstadt ein monumentales Denkmal zur Erinnerung an die ermordeten Juden« (ebd.) errichtet hat, die den Konsens das Ressentiment in voller Würdigung kassieren lassen.

 

Um solcherart würdigenden Absichten zu widersprechen, die sich in der Abgrenzung gegen alte Reaktionäre gefallen, wäre vielleicht einmal die Nachsicht herauszustreichen, mit der Améry, schon vor der Revolte, der Bundesrepublik auch begegnet. Denn er beginnt seinen Essay mit Einsichten wie der, Deutschland gebe»der Welt nicht nur das Beispiel wirtschaftlicher Blüte, sondern auch demokratischer Stabilität und politischer Mäßigkeit.« (Améry 2002a: 119) Beim deutschen Publikum setzt er keineswegs nur aggressive Abwehr voraus, sondern notiert ein »gedämpftes Verständnis für meinen reaktiven Groll« (ebd.): »Was kann unsereins denn auch mehr verlangen, als daß deutsche Zeitungen und Funkstationen uns die Möglichkeit einräumen, deutschen Menschen grobe Taktlosigkeiten zu sagen und sich hierfür honorieren zu lassen?« (ebd.: 146)

Solchen Konzessionen ans Publikum mag man zustimmen oder nicht, hier seien sie als Eingrenzung verstanden. Denn Améry selbst beruhigt sich bei solch nachsichtigem Verständnis seiner Ressentiments gerade nicht:

 

»Meine Aufgabe wäre leichter, wollte ich das Problem abdrängen in den Bereich der politischen Polemik. (...) Ressentiments, so würde sich dann ergeben, sind in den Opfern lebendig, weil auf der öffentlichen Szene Westdeutschlands immer noch Persönlichkeiten agieren, die den Peinigern nahestanden, weil trotz der Verlängerung der Verjährungsfrist für Schwer-Kriegsverbrechen die Verbrecher eine gute Chance haben, in Ehren alt zu werden und uns (...) zu überdauern. Was aber wäre mit solcher Polemik gewonnen? So gut wie nichts.« (ebd.: 120)

 

Améry hat zwar solche Polemik durchaus geübt, gerade auch gegen Altbraune wie den Tagebuchschreiber Speer. Nur hier finden die Ressentiments offenbar nicht ihren Grund und gehen nicht auf in der Anklage prominenter Nationalsozialisten und Henker. »Die Sache der Gerechtigkeit« - Améry denkt wohl an die zuvor begonnenen Auschwitzprozesse - »wurde von ehrenhaften Deutschen in unserem Namen geführt, besser, nachdrücklicher, auch vernunftvoller, als wir es selbst zu tun vermöchten. Mir aber geht es gar nicht um eine in diesem geschichtlichen Einzelfall ohnehin nur hypothetische Gerechtigkeit.« (ebd.: 120f)

Trotz solchen Entgegenkommens lösen sich die Ressentiments also nicht auf und Améry lässt keineswegs in der Sache nach: Er beharrt auf dem, was er »andeutend die Kollektivschuld« (ebd.: 134) nennt, der Tatsache also, dass sich die deutsche Bevölkerung im Nationalsozialismus nicht von Volksgemeinschaft und der Vernichtung der europäischen Juden trennen lässt. Und er weiß, dass solch schlechterdings nicht zu sühnende Schuld weder durch barbarische Rache zu tilgen wäre, noch gerichtlich bearbeitbar ist. Weit davon entfernt bloß in politischen und juristischen Kategorien zu denken, zielen die Ressentiments offenbar noch auf etwas anderes, das sich gesellschaftlicher Handhabe entzieht: Denn zuallererst bezeugen die Ressentiments die Erfahrung des Opfers.

 

An Amérys Verhältnis zum von Rutschky ausgemachten geistigen Aufbruch wird vielleicht noch deutlicher, dass sich das Ressentiment nicht bloß an die Endmoränen des Nationalsozialismus heftet und die in den 60ern anhebende nationale Katharsis keineswegs als ihr Sinn verstanden werden kann.

Im Buch »Unmeisterliche Wanderjahre«von 1971 befindet sich auch das Kapitel »Expeditionen jenseits des Rheins«, als welche der in Brüssel lebende Améry seine Reisen in und durch die BRD verstand. Darin formuliert er seine Irritation über die »geistige Geschäftigkeit, die an Realisation und Potential der ökonomischen kaum nachstand« (Améry 2002b: 301f) und deren »Büchergebirge« Deutschland nach dem wirtschaftlichen Wunder auch zu intellektuellem Status verhalfen. Was ihm dabei »zur großen Überraschung wurde, war die zugleich erleichternde und fremdartige Tatsache, daß dieses Landes in Betracht kommende Köpfe nach links hin ausgerichtet waren.« (ebd.: 306)

Zur Neuen Linken, das ist vielleicht bekannt, stand Améry auch deshalb in einem angespannten Verhältnis, weil er sich genötigt sah, mit Verve dem 1967 aufflammenden Antizionismus zu widersprechen, in dem der Antisemitismus enthalten ist »wie das Gewitter in der Wolke« (Améry 2005: 133). Der Ruck im deutschen Zeitgeist brachte aber dennoch – oder besser: gerade deshalb – das Vermögen mit sich, mit der Vergangenheit fertig zu werden. Die »Expeditionen«, die man wie einen Nachtrag zu den »Ressentiments« lesen kann, nehmen dabei sämtliche Motive einer Kritik vorweg, die in den letzten Jahrzehnten an der Berliner Republik geübt wurde:

 

»Durchaus wäre es unsinnig gewesen zu sagen, sie hätten ‘verdrängt’ und hätten nicht auch Zeit gefunden, mitten im Vorwärtsrasen, gewisse Unbeschreiblichkeiten so nebenbei noch zu verarbeiten. Sie taten es mit der Gründlichkeit, die sie auszeichnet vor den Völkern der Erde. Sie machten tabula rasa, zeichneten ihr Ich von gestern - oder Vaters, Großvaters Ich - nach dem Simplicissimus-Permaneder-Modell und lachten sich eins: so blöde war einstens man hierzulande, weiß Gott, es war ein Jammer! Auch so gemein (denn mitnichten entzogen sie sich der moralischen Diskussion). Doch das ist abgetan. Wir kennen unsere Faschisten, seid unbesorgt und kehrt vor eigenen Türen. (...) So, sagte ich. Und: Natürlich, lieber Herr, verehrte Dame, entschuldigen Sie die Einmischung. Bitterkeit, die sich immer wieder eindrängt in deine Zeugenschaft und sie verfärbt. Es könnte ja beinahe so aussehen als hätte man dich arrogant im Vorzimmer verabschiedet. Das Gegenteil war doch der Fall. Allerwegen ließ man dich höflich vor, zeigt sogar überstürzte Bereitschaft, dich aufzunehmen. (...) Ich gebe zu: die Leute waren, sind, so anständig, wie man das nur hat sein können. Nachher. Und das Rennen war nicht nur ihr Talent, sondern auch das über sie verhängte Geschick. Daß sie auf meinesgleichen nicht warten konnten, liegt im Tempo, das ihnen vorgeschrieben war von der Geschichte.« (Améry 2002b: 304ff)

 

Hier wird das Unbehagen an einer »Kanonisierung von Auschwitz« deutlich, die nicht zum von Améry erhofften Selbstmisstrauen führt: Obwohl ihre Moral dem Sachzwang entspringt, endet sie in überlegener Selbstgewissheit. Fern vom zufriedenen Stolz des Gründungsvaters beschließt Améry die »Expeditionen« mit den eigenartigen Sätzen: »Deutschland gibt es nicht, flüsterte ich, entgegen der Tatsachen allgemeiner Erfahrung. (...) Ich hielt ein und dachte die einzige, zwar nicht erhärtbare, aber als Evidenz von mir erspürte Wahrheit: Mich gibt es nicht. – Welche Erleichterung – quel soulagement.« (ebd.: 321) Denn im unter diesen Umständen auch von ihm gefragten »Veteranenschwatz« (ebd.: 305) findet sich die Erfahrung nicht wieder, auf der Améry mit seinen Ressentiments beharrt.

 

Er wehrt sich scharf dagegen, diese Erfahrung des Opfers als traumatische Last psychologisch abzutun. Die »Bewältigungsversuche eines Überwältigten« so der Untertitel von »Jenseits von Schuld und Sühne« erhalten in der Reihe vorliegender Überlebendenliteratur auch insofern ihre Besonderheit als Zeugnis des Intellektuellen, als sie sich beständig im Widerspruch zwischen der Inkommensurabilität der Erfahrung und philosophischer Reflexion bewegen (Vgl. Scheit 2006 und 1998). Améry betreibt dabei weder Faschismustheorie, noch liefert er einen Überlebendenbericht, sondern schreibt stets als »der Gefangene ... der moralischenWahrheit des Konflikts« (Améry 2002a: 130).

Insofern sie aber von der Erfahrung der Untat herrühren, lassen sich die Ressentiments nicht an Zustand und Verfassung der Deutschen messen. Die Ressentiments beruhigen sich weder bei Westintegration noch bei linksintellektueller Wende – und ihren von Améry beanspruchten moralischen Rang wird man auch durch ein monumentales Mahnmal nicht entkräften können. Améry ist also auch insofern Gefangener der moralischen Wahrheit, als sich seine Ressentiments gar nicht aus der Welt schaffen lassen: »Es ist meinem Nachdenken nicht unentdeckt geblieben, daß das Ressentiment nicht nur ein widernatürlicher, sondern auch ein logisch widersprüchlicher Zustand ist. Es nagelt jeden von uns fest ans Kreuz seiner zerstörten Vergangenheit. Absurd fordert es, das Irreversible solle umgekehrt, das Ereignis unereignet gemacht werden.« (ebd.: 128)

Dieser logisch widersprüchliche Kern der Ressentiments, dessen sich Améry ja bewusst ist, wäre einmal als ihr Stachel ernst zu nehmen: dass die Bedingung ihrer Gültigkeit nicht die unausgesetzte Identität der Deutschen mit der Volksgemeinschaft ist. Denn damit ist keineswegs gesagt, dass Améry nicht doch einen Anspruch an sie binden würde: »Das Erlebnis der Verfolgung war im letzten Grunde das einer äußersten Einsamkeit. Um die Erlösung aus dem noch immer andauernden Verlassensein von damals geht es mir.« (ebd.: 131) Ein Anspruch, der aufs Innerste an ihrer absurden Forderung hängt.

 

In den »Expeditionen« kehrt nun auch ein Motiv wieder, das in der Rezeption eine eher untergeordnete Rolle gespielt hat. Hier reflektiert Améry genau den Widerspruch zwischen der Verfassung der Deutschen und seinem anti-deutschen Ressentiment:

 

»Der Grenzstreifen zwischen den Guten und den Bösen war vielleicht in der spezifischen Beleuchtung der Zeit von Drittem Reich und Exil auszunehmen, während andere Zeitlichter andere optische Effekte erzeugten. Jeu de mirages. (...) Verlaß ist nur auf die Zeit als den Agenten der Verwandlung, Zeit die man aber nur mit Gewaltsamkeit dem Begriff geschichtlichen Werdens gleichsetzen kann. Das Richtige wird als solches bestimmt von der jeweiligen Gegenwart: das Heute hat allerwegen recht gegen das Gestern. Gib hin die emotionell fixierten Systeme, die schon zur idée fixe sich tödlich kristallisieren. Sie taugen nichts mehr. (...) Ein Rest ist Widerstand. Die Utopie und das Prinzip Hoffnung sind rückwärts projizierbar. Darf ich denken und handeln auf das hin, was sein soll, dann darf ich auch zumindest erwägen, was hätte sein müssen. Menschenwürde ist der Aufstand gegen ein so und so Gegebenes, ist aber auch die Revolte wider ein schon ins Sein eingesunkenes Vergangenes. Widerstand ist erlaubt nicht nur gegen das, was geschieht; auch was geschah, muß nicht hingenommen werden.« (Améry 2002b: 313)

 

Der der Logik widersprechende Kern der »Ressentiments« liegt also in ihrem Bezug auf Zeit, Widerstand. Was das bedeutet, wird drastisch deutlich in der harschen Abgrenzung Amérys gegen andere Überlebende, die sich in Sachen Versöhnung und Begegnung engagieren:

 

»Wer seine Individualität aufgehen läßt in der Gesellschaft und sich nur als Funktion des Sozialen verstehen kann, der Stumpffühlige und Indifferente also, vergibt in der Tat. Er läßt das Geschehene gelassen sein, was es war. Er läßt, wie das Volk sagt, die Zeit seine Wunden heilen. Sein Zeitgefühl ist nicht ver-rückt, will sagen: nicht herausgerückt aus dem biologisch-sozialen Bereich in den moralischen.« (Améry 2002a: 132)

 

Die Ressentimentsaber, die sich dem Wundheilungsprozess verweigern, brechen aus genau diesem biologisch-sozialen Zeitgefühl aus, in dem sich Naturtatsache und gesellschaftlicher Zweck liieren. Der Widerspruch des Ressentiments ist deshalb keiner, der in den Irrsinn abgleitet, sondern es ist der Bruch mit dem Sachzwang zugunsten des Moralischen:

 

»Recht und Vorrecht des Menschen ist es, daß er sich nicht einverstanden erklärt mit jedem natürlichen Geschehen, also auch nicht mit dem biologischen Zuwachsen der Zeit. Was geschah, geschah: der Satz ist ebenso wahr wie er moral- und geistfeindlich ist. Sittliche Widerstandskraft enthält den Protest, die Revolte gegen das Wirkliche, das nur vernünftig ist, solange es moralisch ist. Der sittliche Mensch fordert Aufhebung der Zeit - im besonderen, hier zur Rede stehenden Fall: durch Festnagelung des Untäters an seine Untat. Mit ihr mag er bei vollzogener moralischer Zeitumkehrung als Mitmensch dem Opfer zugesellt sein.« (ebd.: 133f)

 

Der sittliche Mensch fordert Aufhebung der Zeit: So ist es also gelungen, die Ressentiments, die Unfähigkeit zur Versöhnung ins schöne Licht von Moral zu rücken?

Améry, der ohne Zweifel zu den Unversöhnlichsten gehört und sich vehement aller Sinnstiftung verweigert, argumentiert im gleichen Atemzug mit Begriffen, die nach Auschwitz einen schalen Klang bekommen haben: Moral, Utopie, Menschenwürde, Sittlichkeit.

Amérys Humanismus beweist sich aber daran, dass er nicht in das menschelnde Versöhnungspathos einstimmt, das die Menschen so nimmt wie sie sind, sondern eine Idee als Maß hat, nach der sie sich von Natur- und Sachzwang emanzipieren können und moralisch in Verantwortung zu nehmen sind – sich also nicht der Zeit als Agentin der Versöhnung überlassen müssen. Gegen solche falsche Versöhnung hält das Ressentiment den Bruch der Allgemeinheit fest, auf die diese Begriffe sich sämtlichst beziehen, letztlich die der Menschheit. Der Gegensatz von Tätern und Opfern ist nicht vermittelbar, weil er sich durch genau diesen Bruch vollzieht: Der Mitmensch ist zum »Gegen-Menschen« (ebd.: 131) geworden. Der Titel Jenseits von Schuld und Sühne drückt das gut aus, der ja gerade nicht Schuld, sondern ihr Jenseits meint: Der Bezug auf ein Allgemeines, der eine irgendwie äquivalente Sühne noch zuließe ist unmöglich. Das Ressentiment richtet sich insofern weniger auf Erbschuld, sondern darauf, ausgerechnet die Deutschen zum Medium der Versöhnung zu machen.

 

Gleichzeitig rekurriert Améry aber auf eine moralische Verantwortung, die selbst von einer Idee des Guten, letztlich der Versöhnung angetrieben sein muss. In diesem Sinne ist auch der womöglich trendsetzenden Forderung von Jureit und Schneider nach reiner »Ich-Leistung, die sich durch kritische Realitätsprüfung auszeichnet«, mindestens aber einem ihrer Fluchtpunkte zu misstrauen. Gegenüber der nüchternen Realitätsprüfung des restlos aufgeklärten Ich ist noch die naive Erlösungssuche, sogar Abwehr als subjektiver Impuls realitätsgerechter: Flucht aus einer Welt in der man Auschwitz als Tatsache und Möglichkeit anzuerkennen hat.

Deshalb ist das Ressentiment nicht so absurd, wie es scheinen mag. Améry richtet sich gegen beide Formen gesellschaftlicher Handhabe des Problems Auschwitz: Abgeklärte Aufklärung historischer Fakten wie Lösung durch rituelle Versöhnung. Wo die Ergebenheit in geschichtliche Sinnlosigkeit so gut mit kollektiver Sinnstiftung einhergeht, da hält das Ressentiment den Widerspruch fest: Die Vergegenwärtigung des Bruchs in den Kategorien, vor denen Moral noch Sinn macht, wie deren Erhalt im Protest.

 

Die Frage, wozu heute noch anti-geschichtlicher Protest nötig sei, ist dabei ebenso schwer zu beantworten wie offenkundiger Unsinn. Seine Notwendigkeit resultiert aus dem Problem, das mit Auschwitz hinterlassen wurde, und richtet sich nicht nach dem Stand deutscher Vergangenheitsbewältigung: »Es geht euch nichts an, was geschah, denn ihr wußtet nicht oder wart zu jung oder nicht einmal auf dieser Welt? Ihr hättet sehen müssen und eure Jugend ist kein Freibrief und brecht mit eurem Vater.« (ebd.: 170)

 

Johannes Rhein

 

*.lit

Jean Améry (2002a): Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. In: Werke. Bd. 2, Gerhard Scheit (Hg.), Stuttgart, S. 7-177.

ders. (2002b): Unmeisterliche Wanderjahre. In: Werke. Bd. 2, a.a.O., S. 179-349.

ders. (2005): Der ehrbare Antisemitismus. In: Werke. Bd. 7, Stephan Steiner (Hg.), Stuttgart, S. 131-140.

Ulrike Jureit/Christian Schneider (2010): Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung. Stuttgart.

Imre Kertesz (2002): Heureka! Rede zum Nobelpreis für Literatur.URL: http://nobelprize.org/nobel_prizes/literature/laureates/2002/kertesz-lecture-g.html (17.3.2011).

Michael Rutschky (2008): Dunkel strahlender Ruhm.In: Frankfurter Rundschau, 28.6.2008. URL: http://www.fr-online.de/kultur/dunkel-strahlender-ruhm/-/1472786/3320832/-/index.html (6.3.2011).

Gerhard Scheit (2002): Nachwort zu Jenseits von Schuld und Sühne.In: Werke Bd. 2,a.a.O., S. 629-692.

ders. (1998): Antideutsche Ressentiments.In: Bahamas Nr. 27/1998. URL: http://redaktion-bahamas.org/auswahl/web06.html (23.2.2011).

ders. (2006):Dialektik und Erfahrung. Jean Améry, Theodor W. Adorno und der kategorische Imperativ nach Auschwitz.In: Stephan Grigat (Hg.): Feindaufklärung und Reeducation.Freiburg, S. 99-114.

 

*.notes