Es wird mal wieder gezählt. Der Zensus steht vor der Tür, ins Haus und zwar ganz wörtlich. Der große Aufschrei darüber ist ausgeblieben, so dass die kritischen Reaktionen sich vor allem damit beschäftigen, die Gründe dafür aufzuzählen. Die Schwäche der Bewegungen, die Abgestumpftheit der jungen Generation, die im Internet »ihre Daten« sowieso schon massenhaft streut... Das mag zwar alles sein, blendet aber die Frage aus, ob die Kritik am Zensus überhaupt (noch) besonders überzeugend ist. So ist die Besorgnis um den Datenschutz – der wesentliche Punkt der Zensuskritik – zwar nicht unwichtig, aber sie ist erstens ganz offensichtlich lediglich eine liberale Kritik und lässt dadurch auch zweitens einige Aspekte unhinterfragt, die aber im Fokus einer linken Kritik am Zensus stehen müssten. Was die Datenschutzkritik nämlich systematisch ausblendet, ist, wie das, was da geschützt wird, überhaupt entstehen kann. Anders formuliert: die Datenschutzkritik bleibt einer juridischen Perspektive auf Macht verpflichtet, dessen Matrix das berühmte »Volkszählungsurteil« des Bundesverfassungsgerichts von 1983 über das Recht auf »informationelle Selbstbestimmung« ist. Aber was wird unsichtbar, wenn man durch diese juridische Brille schaut?

 

Totalisierung

Das Bundesverfassungsgericht bemerkt in seinem Urteil Informationen, wie sie beim Zensus entstehen, seien das »Abbild sozialer Realität«. Nimmt man jedoch die Perspektive der Theorie produktiver Macht ein, dann muss man diese Aussage umdrehen und feststellen, dass der Zensus »soziale Realitäten« nicht bloß abbildet, sondern zuallererst hervorbringt. In seinem Buch Imagined Communities, in dem es um die Entstehungsbedingungen des modernen Nationalismus geht, identifiziert Benedict Anderson den Zensus, die Karte und das Museum als die drei entscheidenden Medien, die die »Grammatik« des Nationalismus konstituiert haben. Erst durch die Zählung konnte sowohl der Staat sein »Volk« als solches erkennen und erst dadurch war es auch den so Gezählten möglich, sich als Teil dieser Nation zu fühlen. Wenn auf den Werbeplakaten für den Zensus Studierende und Schiffscontainer in Schwarz-Rot-Gold abgebildet werden, dann deutet das bereits darauf hin, dass hier nation building betrieben wird. Aber auch wenn davon ausgegangen werden kann, dass jede x-beliebige Fußballmeisterschaft oder Sängerinnenkonkurrenz dem Deutschnationalen mehr Auftrieb gibt als solch bürokratische Zensusveranstaltungen, darf darüber nicht die prinzipielle Totalisierungsoperation übersehen werden, die wesentlicher Effekt und Vorraussetzung der politischen Macht in der Moderne ist. Wie Michel Foucault stets betont hat, ist die Aufteilung der, wie er es nennt, »Multiplizitäten« oder wie wir heute sagen würden »Multitude« – also ein vielfältiges Ensemble von Körpern, Prozessen, Strömen, Kräften und Begehren – in zwei homogene Einheiten – Individuum, Subjekt, Staatsbürger und Bevölkerung, Volk, Gesellschaft – die fundamentale Operation der politischen Macht der westlichen Moderne. Voraussetzung für diese Operation der Macht ist wiederum eine Technik des Wissens, nämlich u.a. die Zählung, die Erfassung der »Bevölkerung«, die erst durch diesen Akt zum feststehenden und festgesetzten Objekt der Regierung werden kann. Wenn »wir« als Individuen und Bevölkerungen aber zuallererst Produkt der Macht sind, dann kann es dem Widerstand heute nicht mehr darum gehen, zu entdecken, wer wir sind, vielmehr geht es darum »abzuweisen, was wir sind. Wir müssen uns das, was wir sein könnten ausdenken und aufbauen, um diese Art von politischem ›double-bind‹ abzuschütteln, der in der gleichzeitigen Individualisierung und Totalisierung moderner Machtstrukturen besteht.« (Foucault)

 

Individualisierung

Die liberale Datenschutzkritik geht aber zumeist von einem souveränen Subjekt vor dessen Zählung aus, das bestimmte Daten oder Informationen sein Eigen nennen kann und als seine Habe versteht: »Meine Daten gehören mir.« Was dadurch übersehen wird, ist, dass das »Ich« und »seine Daten« in einem bestimmten Sinn überhaupt erst durch den Akt der Zählung entstehen. Das Recht auf »informationelle Selbstbestimmung« einzufordern deartikuliert allzu schnell ein für uns mittlerweile geläufiges Bild vom dem Selbst, das sich da bestimmen soll. Darüber hinaus wird aber auch ein bestimmtes Konzept der Information (die das Selbst bestimmen) übernommen. Streng genommen ist eine Information ein Ereignis, das, einmal geschehen, seinen Wert als Information bereits eingebüßt hat. Neuerdings – und ausgehend von der modernen, mathematischen Informationstheorie seit dem 2. Weltkrieg – wird Information aber immer mehr als feststehende Größe verstanden, die als Habe, als Eigentum appropriierbar, patentierbar, kommodifizierbar und damit handelbar, aber eben auch schützenswert und kostbar ist. So konnte auch die genetische Information, der Gencode, zum Identifizierungsmerkmal schlechthin werden und den physischen Leib, wie noch in der Forderung der Feminist_innen »Mein Bauch gehört mir«, ersetzt werden durch Information bzw. Daten.

 

Normalisierung

Das Bundesverfassungsgericht bemerkt lapidar:»Wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen.« Damit wird aber ausgeblendet, wie der Maßstab, an dem abweichendes Verhalten gemessen wird, überhaupt zustande kommt. Denn tatsächlich hat auch die gewöhnliche, »normale« Datenerhebung des Zensus einen intrinsischen Bezug zur Normalität. Zunächst einmal haben spätestens seit dem 19. Jahrhundert statistische Zählungen ein besonderes Augenmerk auf Devianzen gelegt: Krankheit, Selbstmord, immer wieder Armut, damals als Syndrom des Pauperismus adressiert, Perversion, Kriminalität etc. Diese besondere Aufmerksamkeit für das scheinbar Anormale und Andere kommt auch beim aktuellen Zensus zum Tragen. Etwa darin, dass Wohnungslose und Flüchtlinge besonders gezählt werden. Gleichzeitig wurden und werden durch statistische Techniken Normen aber auch erst geschaffen, und zwar mit den unterschiedlichen Techniken der Mittelwertberechnung. Diese Mittelwerte sind zwar erst einmal nur Beschreibungen einer bestimmten, durchschnittlichen Eigenschaft der gezählten Grundgesamtheit. Aber historisch wurden sie häufig auch als Ausdruck für »normales« – d.h. gesundes, anständiges – etc. Verhalten bzw. die Normalität einer Gesellschaft angesehen. Die statistische Normalität konnte so zu einer scheinbar neutralen Brücke zwischen Sein und Sollen, Deskriptivem und Präskriptivem werden. In der Normalisierung findet die gleichzeitig individualisierende und totalisierende Tendenz moderner Macht seinen einen scharfen Ausdruck. Hat man einen entsprechenden Durchschnittswert etabliert, kann stets von der Normalität der gezählten Grundgesamtheit auf die Abweichungen der gezählten Individuen geschlossen werden. Die normalisierende Überwachung erstreckt sich vom Individuum, das gezählt wird, bis zur Population, als dessen Teil das Individuum figuriert, und von dort aus wieder zurück.

 

Subversion

Die tschechische Artivist_innengruppe Ztohoven hat jüngst mit einer Aktion auf sich aufmerksam gemacht, die diesen Zusammenhang von Totalisierung, Individualisierung und Normalisierung aufdeckt und zugleich subvertiert. Ihre Zielscheibe ist der biometrische Ausweis. Die Biometrie ist eine Wissenschaft, die im 19. Jahrhundert mit dem Ziel angetreten ist, die grundlegenden Lebensmerkmale des Menschen zu vermessen. Ausgehend von unzähligen Messungen menschlicher Körper wurde gefragt: wie groß sind die Menschen durchschnittlich, wie viel wiegen sie im Durchschnitt, aber auch: welche Größe ist schön, welches Gewicht gesund. Bis heute ist die Biometrie ein bedeutender Wissenszweig. Jede_r kennt wohl den Body Mass Index (BMI), der auf den französischen Statistiker Adolph Quetelet zurückgeht. Noch wichtiger ist die Biometrie heute aber vielleicht als Wissenstechnik zur Personenidentifizierung. Bereits im 19. Jahrhundert hat der berühmt-berüchtigte Wissenschaftler Francis Galton (eine entscheidende Figur der modernen Eugenikbewegung) Techniken zur Identifizierung des Fingerabdrucks entwickelt. Derselbe Galton hat aber auch Verfahren entwickelt, mit denen er Fotos von verschiedenen Strafgefangenen so miteinander synthetisieren konnte, dass, wie er glaubte, die idealtypische Physiognomie des Kriminellen sichtbar wurde. Eine ganz ähnliche Technik, nämlich das Ineinandermorphen von Fotos, hat auch die Gruppe Ztohoven verwendet; aber nicht um Identitätserkennung zu gewährleisten, sondern um sie zu unterlaufen. So haben sie zwei Fotos ihrer Mitglieder ineinander gemorpht, um anschließend einen Ausweis für die fiktive Person »Bürger K.« zu beantragen – natürlich eine Anspielung auf Kafka. Mit diesem Ausweis konnten nun beide Personen reisen, aber auch heiraten und den Trauzeugen für den jeweils anderen spielen. Bürger K. ist weder eine Einheit noch Viele, sondern ein seltsames Zwischending, das so gewohnte Sicht- und Zählweisen durcheinander bringen kann.

 

Demonstration

Wem das zu technisch oder zu künstlerisch ist, kann aber auch einfach demonstrieren gehen. Denn was ist eine gelungene Demonstration anderes als eine Präsentation einer abweichenden Meinung, die sich nicht auf die Einigkeit des Volks zurückführen lassen will? Jenseits der repräsentativen Demokratie, die ohne Zensus nicht denkbar wäre, gilt es also mit Nachdruck und lauter Stimme die Zählung der Zahllosen einzufordern.

 

Andreas Folkers