I Exposition des Endes

Die Gegenwart als Epoche zu begreifen mag auf den ersten Blick schwer fallen, da doch permanente Krise sich abwechselt mit Stabilitätspakten, Rettungsschirmen und vermeintlichen Ruhephasen, die Veränderung mitunter so schnell geht, dass sich gar nichts ändert. Die historische Zeit nähert sich der leeren Zeit immer mehr an, die Beschleunigung tendiert dazu, so schnell zu werden, dass alles nurmehr still steht. Dies steht jedoch im Widerspruch zur Bestimmung als Epoche, denn Stillstellung bedeutet die Sistierung der Gegenwart und ihre Perpetuierung als Ewigkeit – Epochen hingegen haben ein Ende. Insofern scheint Emmerich Nyikos zunächst Recht zu haben, wenn er irgendwo feststellt, dass die Versperrung des Auswegs schon in der Bezeichnung Post-Moderne steckt, denn post ist kein ante, der Vorschein auf ein Mögliches Anderes ist verschwunden. Allerdings wäre dies zu spezifizieren, denn das ante, das im post steckte, wurde ins post integriert und unschädlich gemacht. Wie bei jedem Epochenübergang gab es eine kurze offene Situation, ein Aufblitzen des Ante, das aber in der Radikalisierung der historischen Zeit einer allumfassenden Identifizierung wich. Gegen die Unterstellung unter die Zwecke der sich selbst perpetuierenden Vergangenheit des unendlichen Leidens und die allumfassende Identifizierung trat an der Schwelle zur Post-Moderne eine Bewegung an, die, mit Rimbaud im Kopf und der Gitarre in der Hand, sich selbst zur »Blank Generation« (Richard Hell and the Voidoids, 1977) erklärte. In der Umgebung von Flop Houses, den Elendsäußerungen inmitten der hochmodernen Urbanität, wurde dem Kleinbürgertum des suburbanen der Kampf angesagt mit konsequent antiidentitärer Haltung und gelebter Hybridität. Die Ablehnung der Identifizierung brachte negativ einen Kosmopolitismus hervor, der sich unter dem Bewusstsein von Auschwitz – auf die jüdischen Wurzeln des Punk wies Beeber (2008) hin – als Bewusstsein, dass es keinen Ort gibt, der der Identifizierung entgeht, darstellte. Dies Sichersein war das Gewahrwerden der Bedrohung durch Identität. Die Musik, selbst teilweise bedrohlich in Klang und Performance wie bei Suicide, war das Moment der Entortung, der Zurückweisung der Unterstellung unter fremde Zwecke durch die Zeit; es schien für einen kurzen historischen Augenblick die Möglichkeit von Emanzipation unter den Bedingungen globalisierter und effektivierter Warenförmigkeit und allumfassender Identifizierung »nach Weltuntergang« (Adorno 1951, 60) auf. Das Ende dieses Aufscheinens fiel fast zusammen mit dem Siegeszug des Begriffs »Postmoderne«; mit der US-Tour der Sex Pistols 1978 und dem Erscheinen des »Postmodernen Wissens« von Lyotard 1979. Durch die Integration des ante ins post wurde das Andere von jedem Schein entkleidet, es wäre auch noch was Anderes. Reinster Ausdruck ist die Entwicklung der Zeit: so wie Thompson die Durchsetzung der Zeit des Kapitals sozialgeschichtlich in Differenz zu vorgängigen Zeitformen, die sich in abweichendem Verhalten und Widerstand reproduzierten, beschrieben hat, müsste die Geschichte des Kapitals sozialgeschichtlich als permanenter Prozess ursprünglicher Akkumulation der Anpassung an seine Zeit aufgefasst werden.

 

II Geschwindigkeit und Raserei

»Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet.« (Benjamin 1974, 701)

 

Dem Kapital immanent war schon immer die Tendenz zur Verzeitlichung der Handlungen. Marx beschreibt dies insbesondere als Übergang von der formellen zur reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital, die Organisation der Kooperation unter den Imperativen der abstrakten Arbeitszeit als Substanz des Werts. »Die Zeit ist alles, der Mensch ist nichts mehr, er ist höchstens noch die Verkörperung der Zeit.« (MEW 4, 85) Die Subsumtion der Menschen unter die Zeit drückte sich in der Kooperation der modernen Industrie aus, in der auf der Ebene der Fabrik die Räume, d.h. im speziellen die Zeit, die es brauchte, etwas von a nach b zu bringen, so weit verringert wurden, dass eine Kooperation der Gleichzeitigkeit ermöglicht wurde (siehe MEW 23, 341ff.). Diese Entwicklung kulminierte bekanntermaßen im Fließband; gleichzeitig wurde die Zeitersparnis durch die möglichst große Reduktion körperlicher Bewegung auf einen Handgriff erweitert. Doch nicht vergessen werden darf, dass die Entwicklung der Industrie hin zur tayloristisch-fordistischen Kooperation von einer Tendenz begleitet wurde, das gesamte Leben der homogenen Zeit anzupassen. Das Kapital bedeutete nicht einfach ökonomisch Neues, sondern vielmehr eine neue Konstellation von Macht, Herrschaft und Ausbeutung, von Individuum und Allgemeinheit, die als Raketenantrieb für die Aufhäufung des Reichtums in Form von Waren (als Produktionsmitteln) und damit als Aufhäufung sowohl der Möglichkeit der Suspendierung der Menschheit vom Reich der Notwendigkeit als auch der Trümmer des menschlichen Leidens. Die immer neue Zusammensetzung von Produktionsmitteln aus diesen beiden Elementen ist Ausdruck der spezifischen Form geistiger Arbeit und ihrer Verknüpfung mit Herrschaft. So wie geistige Arbeit geronnen in der Maschine den Arbeiter_innen entgegentritt und deren Bewegungen kontrolliert, so kontrolliert geistige Arbeit als Planung des konkreten Produktionsprozesses die Zusammensetzung der Körper und deren Funktionieren. Sie ist hier Kontrolle über die Körper im Raum, deren Zusammensetzung durch die Imperative homogener, leerer Zeit bestimmt wird. Doch auch die Verknüpfung der einzelnen Produktionseinheiten zu einem gesellschaftlichen Ganzen durch die Etablierung der Vermittlung über herrschaftlich organisierte Apparate als öffentlicher Gewalt ist Teil des zur Gesellschaft gerinnenden Prozesses. Die Unterwerfung des Körpers unter die Zeit des Kapitals findet historisch nicht allein in den Produktionsstätten statt; vielmehr erprobt sich jene in den Institutionen der Klöster, Akademien, Schulen, Hospitäler, Gefängnisse. Dies betrifft sowohl den nach strikten Regeln organisierten Alltag in den Benediktinerklöstern, wie auch die jede noch so kleine Bewegung unterwerfende Form des militärischen Exerzierens und das Zusammentreffen von beidem in der Prüfung. Die fein ziselierte Zerlegung jeder Regung in zu kontrollierende Bewegungen in bestimmter Zeit nähert die Körperbewegungen der leeren Zeit an. Jene historische Phase, sowohl von Marx als auch Foucault beschrieben, zeigt sich im Nachhinein daher als jene, in der es darum ging, die homogene als bestimmende der historischen Zeit durchzusetzen und zum Maßstab aller Tätigkeit zu machen. So setzte sich ihre Dialektik in Gang; so musste also erst eine Verbindung des Raumes mit der neuen Zeit geschaffen werden; immer mehr Raum musste erobert und unterworfen werden. Homolog zur Unterwerfung des Körpers unter den Zeitimperativ war daher der Kolonialismus als außenpolitisch-militärische Entsprechung inklusive der Entwicklung des modernen Rassismus als Form der Gewalt gegen eine Abweichung, die aus der Gewalt begründet, das produzierte Andere als natur- und triebhaft und nicht der modernen Zeit unterworfen begriff – werttheoretisch ausgedrückt, sich auf dem Weltmarkt nicht als Arbeitskraft zu ihrem Wert verkaufen konnte aufgrund der militärischen Gewalt. Wissenschaftlich untermauert wurden körperliche Phänomene zur Begründung von Abweichung und zur Legitimation von Gewalt. Diese Bewegung fand ihren Höhepunkt schließlich im „Volk ohne Raum“, wobei der Höhepunkt zugleich einen Umschlag markiert: die Obsession des Raumes einer mythisch verklärten Vergangenheit, in der Arbeit, Boden und Raum in eins verschmelzen und reaktionär die »alte Zeit« zur nur durch Krieg und Vernichtung zu erreichenden Zukunft wird.

Nachdem dieser (Alb)Traum 1945 gestoppt wurde, war die Zeit der Raumeroberung durch die Verfestigung der Welt in zwei Großblöcke schließlich vorbei. Im Folgenden entwickelten sich die Deutschen, nach einem großen Essay von Lothar Baier, zu Vorreitern einer Bewegung, die gegenwärtig zu sich selbst kommt: dem Imperialismus der Zeit. Die Nachkriegszeit war nicht nur durch die territoriale Fixierung der beiden Großblöcke gekennzeichnet, sondern auch durch die endgültige Durchsetzung des Fordismus. Erst im so genannten Wirtschaftswunder vollendete sich die »innere Landnahme« (Burkhard Lutz), welche die verunmöglichte äußere Expansion zunächst ablöste. Doch auch die innere Landnahme stieß an ihre Grenzen, unter anderem auch durch hegemoniale Arbeitsverhältnisse, die sich als zu statisch und unflexibel erwiesen, als die Akkumulation stockte. Die innere Landnahme verabschiedete sich vom Raum und forcierte die oben beschriebene Unterwerfung des Körpers unter die Zeit als Verlagerung der totalen Institution auf die gesamte Gesellschaft. Der Raum hat als Ziel der (Kapital)Expansion ausgedient: »Die Zeit ist jetzt der Raum der Expansion.« (Baier 1990, 51) Hierbei hebt sich die Tradition der Obrigkeitshörigkeit in Deutschland, historisch zurückgehend auf ein spezifisches Verhältnis der Intellektuellen zu den Staatsapparaten, die als das allgemein vernünftige gegen den individualistisch grundierten Egoismus des Besitzbürgertums betrachtet wurden, auf in der führerlosen Anpassung an die homogene, leere Zeit. War die von Hannah Arendt beobachtete Geschäftigkeit, mit der die Deutschen kurz nach dem Krieg in den Ruinen umherwuselten schon eine Flucht vor der unmittelbaren nationalsozialistischen Vergangenheit, so konstituierte sich die Beschleunigung im Antrieb der Flucht in der Zeit. Diese spezifische Beschleunigung orchestriere perfekt die Flexibilisierung des Individuums, die Maßgabe des tendenziell absoluten Konformismus; die historische Tragödie eingedenkend, dass gerade die emanzipatorisch angetretene Bewegung von `68 dazu beitrug, die Starrheit aufzubrechen, auch wenn die passive Revolution nun nicht ihr selbst vollkommen angelastet werden kann. Die neue Form von Subjektivität der beschleunigten Anpassung rüttelt an der Basis des Subjekts schlechthin. Es fällt dabei in der Rückschau die Gleichzeitigkeit auf, mit der Theoretiker verschiedener Theoriestränge dies in den jeweils eigenen Überlegungen erkannten. Sowohl Althusser, Foucault als auch Krahl haben dies auf ihre jeweils spezifische Art zu begreifen gesucht. Während Althusser die Subjektkonstitution als »Anrufung« und die die Freiheit des Subjekts als »Illusion« begriff (1977), wurde bei Foucault das Subjekt zweifach unterworfen, unter äußere Kontrolle wie der eigenen Identität (1994, 246f). Während bei beiden Autoren diese Beobachtung ontologisch grundiert wurde, versuchte Krahl eine historische Bestimmung, indem er von der Feststellung ausging, dass sich das »Reproduktionssystem des organisierten Kapitalismus toto genere« (1977, 119) subjektiviere. Dadurch werde Subjektivität »an sich selbst heteronom« (ebd.). Die Angleichung der Ausrichtung des gesamten Lebens nach Maßgabe der leeren Zeit bringt die historische Zeit tendenziell zum Verschwinden; die historische Zeit als »Ort« der Abweichung wird negiert in der unbedingten Mobilität und Flexibilität. Damit erhält die Dialektik der Identität des Subjekts eine qualitative Wendung: Identität als in kapitalistischen Verhältnissen notwendig für Autonomie und gleichzeitig als Ausdruck der Identifizierung und Herrschaft wird zum Zwang der permanenten Veränderung von Identität; das Werden, notwendig immanent einer lebendigen Identität, wird zur einzigen Konstante, Nichtidentität wird eingesaugt und der Identität selbst unterworfen – Subjektivität nurmehr als flexible Körperuhr der Kapitalakkumulation. Menschliche Praxis wird identisch mit der leeren Zeit. Dies ist der Tiefengrund der Theorie des Verlusts der Möglichkeit von Erfahrung und der Entsubjektivierung. Geschichte als historische Jetztzeit stellt sich in der Geschwindigkeit soweit still, dass es tatsächlich keine Geschichte mehr gibt, sondern nur noch erfahrungsloses Leiden.

 

III Verlust der Kontingenz durch Auslöschung der Abweichung

»Es regnet.«“ (Althusser 2010, 21)

 

Um die intellektuelle Bearbeitung des Problems der Angleichung der homogenen an die historische Zeit (bzw. umgekehrt) zu betrachten, lohnt sich ein kurzer Blick auf die Ränder der intellektuellen Reflexion der Welt, so wie es beim Punk zu beginn angedeutet wurde. Konnte 1964 der (nun ja, nicht wirklich am Rand der Kulturindustrie beheimatete) Bob Dylan hoffnungsvoll »The times they are a-changing« singen, so war dies nach dem kurzen Jahr der Revolte und dem Ende des Fordismus und dessen Aufhebung in der schlechten Selbstperpetuierung der Unvernunft, bald vorbei. Auch der Punk war in gewisser Weise voller Hoffnung – trotz »no future«. Allerdings überdauerte auch nur letzteres und nicht die Hoffnung. Später, in den 1990er Jahren, reflektierte sich die Wende auf die Integration der Devianz in das Funktionieren ebenfalls in den Rändern der aus dem Punk entstandenen Musik. Hatte ästhetisch vorher die gesteigerte Wut sich in immer stärkere Formen des Tough-Guy-Machismo im Hardcore gesteigert, die deshalb das Bestehende vielmehr nachahmte, als ihm etwas entgegenzusetzen, so setzte eine Gegenbewegung ein, die unbewusst die gesellschaftliche Tendenz ästhetisch wendete. An die Stelle der Wut trat Verzweiflung und anstelle platter Anklagen das eigene Leid. Es war dies die Entwicklung des Emocore, und darin die Ränder, in denen Hardcore, Emo und Metal sich mischten und auch Langsamkeit und Monotonie zum Stilmittel erhoben wurden, was im Sludge- und Doomcore gegenwärtig von Bands wie Corrupted (beispielsweise im 70-Minuten-Song »El Mundo Frio«) auf die Spitze getrieben wird. Deren Monotonie, nebenbei, reflektiert die Beschleunigung der Reproduktion des Immergleichen und dessen Verfestigung in zäher, harter Langsamkeit und deren Brutalität. In der Wendung auf den Ausdruck des eigenen Leidens ist genau der Verlust des ante im post eingedacht und zugleich die negierte Hoffnung aufgehoben als wiederum selbst negative. 1996 drückte die Band Zorn dies folgendermaßen aus: »Wir haben das Stadium Null erreicht. Die Zeit hat ihren Glanz längst verloren.« Diese Zeilen bilden den Anfang des Titels »durch schmerz, in stein«, der als den einzigen Ausweg aus dem Schmerz die vollkommene Verhärtung anklagt. Schon ein paar Jahre früher stellten Neurosis fest, dass »the healing touch of time has abandoned me« (1992); die Zeit hat ihre Wirkung der Veränderung verloren, die Abweichung als Möglichkeit der substantiellen Veränderung hat ausgedient – die Befreiung wird als negative festgehalten. Die Zeit »reißt« nur noch »neue Wunden« (fitpttds), »every god damn thing« ist die Hölle, »even flowers disgust« (Khanate 2009) Die Bewegung an den Rändern der Musik, Verzweiflung, wenn man so will als einzige Möglichkeit der Artikulation von Nichtidentität unter dem irrwitzig beschleunigten Zwang zur Identität, auszudrücken, interpretiere ich hier daher einigermaßen gewagt anhand weniger Textbausteine als Reflexion einer objektiven gesellschaftlichen Tendenz. Am anderen Rand der Kulturindustrie wird diese Tendenz noch offensichtlicher, vor allem als Apologie der choreographierten Körperdisziplin in Tanzbattleshows, in denen Tanzcrews nichts als die Perfektionierung der Herrschaft über jede kleinste Regung des Körpers in jeder Milisekunde zelebrieren. Diese Perfektion ist Sinnbild der Herrschaft der Zeit über Wege, die so schnell beschritten werden, dass sie tendenziell als Hindernis abdanken. Was für den einzelnen Körper gilt, der sich dermaßen diszipliniert und dem Imperativ des Gegebenen unterworfen hat, dass er keine Veränderung mehr erlaubt, gilt schließlich auch für die globale Produktion. Der Verunmöglichung der Möglichkeit körperlicher Abweichung vom vorgebenenen Bewegungspfad entspricht die Vernichtung des Raums durch die Zeit im gesellschaftlichen Zusammenhang, von der Marx schon in den Grundrissen sprach (MEW 42, 445). Es entwickelt sich tendenziell ein Zustand, der die Dynamik des Kapitals belastet und der so etwas wie ein dialektischer Umschlag in einen Negativzustand einer vorkapitalistischen Subsistenzproduktion bedeutet. Hierfür ein kleiner Umweg. Wege sind Vermittlungen der Kontingenz, können Hindernisse beinhalten, Verknüpfungen herstellen, abgezweigt werden. Wird ein Weg beschritten, ist das Ziel zwar klar, jedoch ist durch die Dauer des Beschreitens ein Kompendium des Zufalls ermöglicht, der neue Begegnungen schafft wie verhindert. Die Schaffung des Neuen, die Umwälzung, die gebaute Umwelt des capital fixe und ihre permanente Revolutionierung, all das ist durch den Weg vermittelt, der dafür zurückgelegt werden muss. Wege sind zielführend und Abweichung zugleich. Dies ist der von Marx festgemachte Unterschied zu anderen Produktionsweisen, die nicht auf Wege angewiesen sind. »In den ursprünglichen asiatischen, self-sustaining Gemeinwesen einerseits kein Bedürfnis nach Wegen; andrerseits hält der Mangel derselben sie fest in ihrer Abgeschlossenheit und bildet daher ein wesentliches Moment ihrer unveränderten Fortdauer (…)« (ebd. 431) Doch jetzt das andere Extrem. Der Raum wird durch die Zeit vernichtet, es gibt daher keine Wege mehr, da der Raum nicht mehr durchschritten werden muss – auch wenn dies selbstverständlich nur eine Tendenz zeichnet, die absolut nicht eintreten kann. Dennoch liegt allein in der Tendenz, dass das Ende der Wege genauso eine Abgeschlossenheit und Unverändertheit anzeigen, wie das weglose self-sustaining Gemeinwesen. Mit dem Wegfall der Vermittlung, steigt der Druck der Unmittelbarkeit, der selbst nur virtuell unmittelbar ist. Die Körper und ihre Anordnung verschwinden in der Zeit, aber nur um umso brutaler den Imperativen der Wertvergesellschaftung zu folgen. Die Menschen regnen wie Epikurs Atomregen, den der späte Althusser (2010) als Ausgangspunkt zur Begründung eines aleatorischen Materialismus nimmt, um die Kontingenz als Zentrum des Materialismus zu bestimmen – eine verzweifelte Reaktion auf deren Verschwinden – als Parallelen durch die Zeit. Die gesellschaftliche Verunmöglichung der Abweichung, die in der Anpassung jeder denkbarer Bewegung an die leere Zeit begründet liegt, führt dazu, dass die Gesellschaft als Verhältnis der Subjekte sich durch die Verhältnisse der Subjekte, die in Parallelen sich bewegen, als Totalität sich schließt. Andererseits liegt genau in der tendenziellen Verabsolutierung der Parallelität die Möglichkeit, bei kleinster Abweichung eine Kettenreaktion auszulösen, einen Bruch zu erzeugen. Doch ein Bruch wäre nur einer, der als Möglichkeit erfahren werden könnte und nicht reine Angst produzieren würde, die nur zur erfahrungslosen Aktion der gewaltsamen Widerherstellung der Parallelität führen würde. Ist daher in der Angleichung der historischen an die leere Zeit der Verlust der Erfahrungsmöglichkeit beschlossen, dann ergibt sich ein unlösbares Dilemma; sogar und gerade die »Notbremse« (Benjamin) oder der »Sprung aus dem Fortschritt« (Horkheimer) wären als Auswege versperrt: das post trägt kein ante mehr in sich, was auf ein Anderes verweisen könnte – das ante ist nur mehr, wie oben anhand marginaler Musik angedeutet, das ante neuen, verstärkten, Leidens.

 

IV Selbstvermessen: die wissenschaftliche Intelligenz und die Aufgabe der Intellektuellen

»Denn die Sache Ist nicht in ihrem Zwecke erschöpft, sondern in ihrer Ausführung, noch ist das Resultat das wirkliche Ganze, sondern es zusammen mit seinem Werden; der Zweck für sich ist das unlebendige Allgemeine, wie die Tendenz das bloße Treiben, das seiner Wirklichkeit noch entbehrt, und das nackte Resultat ist der Leichnam, der die Tendenz hinter sich gelassen.« (Hegel 1806, 13)

 

Das Problem, was sich aufwirft, verschärft sich, wird das gesellschaftlich produzierte Potential der Kritik des tendenziell kontingenzlosen Zustands betrachtet: das organisierte Denken. Der innere Widerspruch des als Wissenschaft organisierten Denkens bestand seit Durchsetzung kapitalistischer Verhältnisse aufgrund der spezifischen Teilung geistiger und körperlicher Arbeit in der herrschaftlichen Strukturiertheit mit der Aufgabe der Verwaltung des Staats, der Erzeugung einer statistisch erfassten Bevölkerung etc., und gleichzeitig der Erzeugung der Potentialität einer Kritik der öffentlichen Gewalt. Insbesondere installierte sich in diesem Widerspruch eine spezifische »bildungsgeschichtliche Zeit« (Krahl 1977, 240), die notwendig als Widerstand gegen die Subsumtion unter kapitalisierte Zeit fungieren muss. Dieser Widerspruch prozessiert historisch in mehreren Dimensionen: erstens in der Konstitution der Wissenschaft als Produktivkraft und verdinglicht im Produktionsmittel als Kapital, worin zugleich die Verallgemeinerung des produktiven Wissens liegt. Darin eingeschrieben ist Innovationsnotwendigkeit, mit den Mitteln des Bestehenden über das Bestehende hinaus zu denken, sofort allerdings wieder eingefangen vom Bestehenden. Zweitens erscheint der Widerspruch in Auseinandersetzungen über das Verhältnis von Philosophie und Einzelwissenschaften, von Kants Streit der Fakultäten bis zu Adornos Positivismuskritik. Drittens prozessiert der Widerspruch innerhalb der Gesellschaftswissenschaften selbst im Verhältnis ihrer Vernaturwissenschaftlichung und Kritik derselben. Jener Prozess ist nichts Neues. Schon Hegel kritisierte das Ergebnis einzelwissenschaftlicher Departementalisierung mit ihren begriffslosen Fakten als »Tabelle, die einem Skelette mit angeklebten Zettelchen oder den Reihen verschlossener Büchsen mit ihren aufgehefteten Etiketten in einer Gewürzkrämerbude gleicht« (Hegel 1806, 50). Die Angleichung der Wissenschaft insgesamt an die Gewürzkrämerbude, bzw. heute eher an den Wal-Mart, hat in den gesellschaftlichen Transformationen der letzten Jahrzehnte eine neue Qualität erreicht, welche die bildungsgeschichtliche Zeit überhaupt angreift und zum verschwinden bringt. Der von Krahl antizipierte Prozess der Kolonisierung aller Wissenschaft durch die methodologischen Verfahrensweisen der unmittelbar produktiven Wissenschaft (1977, 340f.) hat seinen Höhepunkt durch die kompetitive Ausrichtung erreicht, der die quantitative Ergebnisforschung, die kulturindustrielle Stereotypie, als absoluten Maßstab inthronisiert. »[D]ie qualitative Zeit bildungsgeschichtlicher Reflexion (…) wird zugunsten der Anpassung geistiger Arbeit an die quantitativen und enthistorisierten Normen des Wertmaasstabes der Arbeitszeit eliminiert.« (ebd.) Er hegte allerdings noch die Hoffnung, dass darin »auch die wissenschaftlichen Produzenten die Produkte ihrer Arbeit als gegenständliche und feindliche Macht des Kapitals begreifen und sich selbst als ausgebeutet wissen« (ebd. 341). Entgegen dieser Hoffnung hat sich inzwischen ein System des Konformismus gebildet, dass Ausdruck im allgemein akzeptierten Qualitätsmanagement wissenschaftlicher Erkenntnis gefunden hat. Die Rundumkontrolle wissenschaftlicher Arbeit durch Qualitätsmanagement ist nichts anderes, als die Überwachung der Einhaltung der Normmaßgaben abstrakter Arbeit, und selbst die Apologet_innen versuchen noch nicht mal, wenigstens einen ideologischen Schein aufrechtzuerhalten: »In der Tat weiß derzeit niemand mit Sicherheit zu sagen, was genau ein hochschuladäquates QM-System ausmacht« (Nickel 2007, 40); Hauptsache solche Verfahren haben schöne Namen wie Total-Quality-Management. Die verschiedenen Messverfahren wie Bibliometrie oder Evaluationen, das permanente gegenseitige Begutachten in peer-review-Verfahren, all das führt nicht nur zu einer permanenten Selbstkontrolle, sondern zur unternehmerischen Planung von Forschungsprozessen, bei denen im Prinzip das Ergebnis vorher feststehen muss. Jegliche Abweichung bedeutet den Ausschluss aus den relevanten Publikationsplattformen, wobei dortige Publikation wiederum Maß für Qualität ist. Durch die Notwendigkeit viel zu publizieren führt dies zu einer Portionierung der Ergebnisse, um in immergleichen Artikeln das Immergleiche etwas anders darzustellen. Die Messung wissenschaftlicher Erkenntnis zerstört jegliche Erkenntnismöglichkeit, denn durch permanente Selbstvermessung und –verwaltung wird jeglicher Erkenntnisprozess von Kontingenzen gereinigt und damit apriori still gestellt. Zusätzlich bekommen so nur die konformistischsten Wissenschaftler_innen Chancen auf Stellen. Diese Zerstörung der Abweichungsmöglichkeit ist im Kern die vollständige Angleichung organisierten Denkens an die leere Zeit. Die Anpassung an die leere Zeit entleert das Denken und reduziert es auf bloße Wiedergabe quantifizierbarer Erscheinungen und fördert die Bewusstlosigkeit: Die unternehmerische Hochschule ist, zugespitzt, nichts als ein Faktendiscounter, in dem jeglicher Gedanke an Vermittlung in den als exzellent ausgepreisten und sorgfältig drapierten Forschungshäppchen ausgetrieben ist. Komplettiert wird das alles von einer Organisation der Lehre, die Forschungsprodukte zum einpauken und –packen anbietet und dabei die qualitative Zeit bildungsgeschichtlicher Prozesse vollends still stellt. Solche Verdinglichung ist Negation jeglichen Prozesses und nichts anderes als Verkündung der Unwahrheit, die, da sie Gesellschaft als gesellschaftlichen Prozess nicht mehr begreifen kann, das Bestehende als ewige Notwendigkeit perpetuiert. Darum sind die Wissenschaften an der Entwirklichung der Welt beteiligt, indem sie das, was bar jeder Notwendigkeit ist, aufrechterhalten, und jeglichen Gedanken an die Notwendigkeit der Veränderung verhindern. Da nun nur in der qualitativen Zeit der bildungsgeschichtlichen Reflexion die Möglichkeit liegt, Erfahrungen im emphatischen Sinne zu machen und damit einen Bruch mit der Spirale von Angst und Sehnsucht nach Autorität zu erzeugen, der über sich selbst hinausweist, müsste die Unterwerfung unter die leere Zeit als der Zwang kritisiert und bekämpft werden, der er ist. Die Nichtexistenz einer gesellschaftsverändernden Kraft, die der Inversion der Zeit, die zur autoritären Implosion der Gesellschaft führt und die Irrationalität als reine Notwendigkeit setzt – was der tiefere Grund für die verschiedenen beobachtbaren Formen eines postmodernisierten Protofaschismus in Europa ist – etwas wirksames entgegensetzen kann, darf nicht zur Aufgabe der letzten Möglichkeiten von Kritik führen. Vielmehr wären die Turmuhren zu suchen, die kaputt zu schießen wären, um wenigstens symbolisch die negative Zeitspirale zu brechen.

 

Daniel Keil

 

*.lit

Adorno, Theodor W. 1951: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, in: ders.: Gesammelte Schriften Bd.4, Frankfurt am Main

Althusser, Louis 1977: Ideologie und ideologische Staatsapparate, in: ders.: Marxismus und Ideologie, Westberlin

Althusser, Louis 2010: Materialismus der Begegnung, Zürich

Baier, Lothar 1990: Volk ohne Zeit. Essay über das eilige Vaterland, Berlin

Beeber, Steven Lee 2008: Die Heebie-Jeebies im CBGB’s. Die jüdischen Wurzeln des Punk, Mainz

Benjamin, Walter 1974: Über den Begriff der Geschichte, in: ders.: Gesammelte Schriften Bd. 1.2, Frankfurt am Main

Foucault, Michel 1994: Warum ich Macht untersuche: die Frage des Subjekts, in: Dreyfus, Hubert L./Paul Rabinow: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Weinheim

Hegel, G.W.F. 1806: Phänomenologie des Geistes, in: ders.: Werke Bd.3, Frankfurt am Main

Krahl, Hans-Jürgen 1977: Konstitution und Klassenkampf, Frankfurt am Main

Marx, Karl: Das Elend der Philosophie, in: MEW 4

Marx, Karl: Das Kapital Bd.1, in: MEW 23

Marx, Karl: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW 42

Nickel, Sigrun 2007:Institutionelle QM-Systeme in Universitäten und Fachhochschulen. Konzepte – Instrumente – Umsetzung, CHE (Centrum für Hochschulentwicklung gGmbH), Arbeitspapier Nr. 94, Gütersloh 2007, S. 82, in: www.che.de/downloads/CHE_QM_Studie_AP94.pdf

Nyikos, Emmerich 2010: Vorschlag die Waffen der Kritik betreffend. Was ist zu tun, um den geistigen Luftraum zurückzuerobern?, in: http://www.streifzuege.org/2010/vorschlag-die-waffen-der-kritik-betreffend

 

*.music:

Bob Dylan – The times they are a-changing (1964, s/t)

Corrupted – El Mundo Frio (2005)

Fear is the path to the dark side – zeit reißt neue wunden (Album: only the dead have seen the end of war)

Khanate – every god damn thing (Album: Clean Hands go foul, 2009)

Neurosis - to crawl under one’s skin (Album: souls at zero)

Richard Hell and the Voidoids – Blank Generation (Album:s/t, 1977)

Zorn – durch schmerz, in stein (Album: …denn alle Lust will Ewigkeit, 1996)

 

*.notes