Anfang des 20. Jahrhunderts formierten sich in den europäischen Metropolen die Avantgarden der Moderne und traten auf verschiedenen Gebieten der Kunst – Literatur, Theater, Malerei usw. – den alten Machteliten entgegen. Im Zentrum der Kritik stand der bürgerliche Anspruch auf die Autonomie der Kunst und Werte wie Genialität, Originalität und Authentizität. Dem Inhalt dessen, was das Wahre, Schöne, Gute repräsentierte, wurde eine Absage erteilt: Kunst sollte zum Gegenstand alltäglicher Praxis werden, es ging um die Aufhebung der Trennung von Kunst und Gesellschaft, um ihre Politisierung und Vergesellschaftung.Das negative Moment in dieser Bewegung war stark, weil das Feindbild offen lag: ordenbehangene alte Männer, die im Erbe der Aristokratie standen und mit dem sinnlosen Morden des Ersten Weltkriegs unmissverständlich deutlich gemacht hatten, welchen Inhalt ihr Geist trägt. Die restaurative Ordnung der Gründerzeitbourgeoisie, die in Europa seit dem Fall der Pariser Commune 1871 nahezu ungebrochen regierte, bildete die Tradition, mit der es zu brechen galt: Die unbedingte Ablehnung des Überlieferten war wesentlicher Teil des Programms der Moderne, rücksichtslos alles sollte »neu« werden. Deshalb war auch das utopische Moment stark, aber naturgemäß viel unbestimmter. Die Russische Oktoberrevolution – das andere große Ereignis jener Jahre – hatte gezeigt, dass die alte Ordnung nicht auf Ewigkeit gebaut war und gab entscheidende Impulse, blieb aber die einzige erfolgreiche europäische Revolution. In Westeuropa lagen die Hoffnungen bei weiten Teilen der Arbeiter_innenklasse auf der Sozialdemokratie und einem »friedlichen Weg« zum Sozialismus. Die Avantgarden nahmen in dieser Kontroverse um Reform oder Revolution nur selten explizit Stellung, im Mittelpunkt ihres Denkens stand ein emphatischer Begriff der Produktivkräfte, mit deren Entwicklung und Ausdehnung auf die Reproduktionssphäre die Idee der Erzeugung eines »Neuen Menschen« verbunden wurde. Die politische Frage, wie die dazu notwendige Überwindung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu bewältigen sei, blieb größtenteils ausgespart.

Das Neue Frankfurt, der Name entstammt der gleichnamigen Zeitschrift, war Teil dieser Avantgarden. Als städtisches Wohnungsbauprojekt war es mit umfassenden städtebaulichen Kompetenzen und finanziellen Mitteln ausgestattet und verfügte über einen außergewöhnlichen Gestaltungsspielraum. Damit wurde es vorübergehend zu einem Kristallisationspunkt, an dem die ansonsten über Europa verstreuten Intellektuellen zusammenkamen. In der Zeitschrift und auf Kongressen wurden Ideen, Ergebnisse und Entwicklungen diskutiert, die über Städtebau und Architektur weit hinausreichten.

Im folgenden Beitrag versuche ich zu zeigen, wie stark diese Debatten im Kontext ihrer Zeit gefangen sind. Da dem ohnehin kein Denken entgehen kann, werde ich im Anschluss das Scheitern des Neuen Frankfurts daran festmachen, dass die eigene Stellung in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zu wenig reflektiert wurde.

 

Tradition und Moderne

1925 führte der Frankfurter Oberbürgermeister Ludwig Landmann ein neues Dezernat ein, das unter der Leitung von Ernst May in einem Wohnungsbauprogramm bis 1930 ca. 15.000 Wohnungen realisierte. May verstand es, für sein Siedlungsprogramm moderne Architekt_innen und Künstler_innen zu gewinnen, die sich der Moderne verpflichtet fühlten. »Die Ideen der Moderne, die für Deutschland im Bauhaus ihren Ausgangspunkt hatten und dort noch im Stadium ihrer ‚Laborversuche’ steckten, hatten durch die Koinzidenz mit den kommunalen Interessen der Sozialdemokratie und durch die Pragmatik des Managers May die ersten großen und realen Erfolge. Sie wurden praktisch. Gleichzeitig war jeder Keim für den sonst in Deutschland üblichen kommunalen Provinzialismus erstickt, dafür sorgte die kosmopolitische Crew der Mitarbeiter, die die Antennen für die bestimmenden geistigen Strömungen der Moderne besaß und auch nicht vergaß, entsprechende Beziehungen zu festigen« (Rodriguez-Lores/Uhlig 1977, XVI). Moderne: Das hieß in der Architektur die entschiedene Ablehnung der wilhelminisch-bürgerlichen Tradition mit ihren ornamentverzierten Fassaden und repräsentativen Gesten. Dieser »Vergeudung von Arbeitskraft« (Adolf Loos) wurde nüchterner Zweck und Sachlichkeit entgegengestellt: Flachdächer, glatte weiße Wände und Zeilenbauweise. Auf Seiten der restaurativen Kräfte stieß das auf heftige Anfeindungen, das neue Bauen wurde als »undeutsch« empfunden, als »Vernichtungskampf internationaler Mächte gegen die deutsche Seele« (zit. nach Schwab 1930, 76) und die bürgerliche Kulturkritik sah den Untergang des Abendlands nahen. Die Provokation war durchaus beabsichtigt. So entwarf bspw. Hans Leistikow ein neues Stadtwappen, in dem er den Frankfurter Stadtadler auf bloße Form reduzierte. In der Presse wurde er als »Missgebilde« und »Abnormität« bezeichnet, das Stadtparlament lehnte die Entwürfe ab. Dennoch fand das Wappen auf offiziellen Briefbogen, Urkunden und Formularen der Stadt Verwendung und wurde in solchen Mengen gedruckt, dass sich noch die Nationalsozialist_innen nach 1933 darüber beklagten. »Wie kaum in einem anderen europäischen Land wurden in Deutschland im Laufe der 20er Jahre Gestaltungsfragen in der Architektur zur ideologischen Frage« (Mohr/Müller 1984, 39).

 

Inhaltlich bildete die Abschaffung der Wohnungsnot ein entscheidendes Motiv hinter dem Neuen Frankfurt. Die Massenverelendung in den Städten wurde  bereits mit der einsetzenden Industrialisierung Ende des 19. Jahrhunderts zu einem Problem, das zu Lösen der private Wohnungsmarkt nicht im Stande war. Nach dem Ersten Weltkrieg spitzte sich die Lage zu, bezahlbarer Wohnraum für die proletarische Bevölkerung war so knapp, dass einzelne Zimmer von mehreren Personen geteilt und Betten im Schichtbetrieb benutzt wurden. Mangelhafte sanitäre Anlagen und fehlende Kanalisation sorgten für unzumutbare hygienische Bedingungen, Tuberkulose war in den Armutsquartieren verbreitet. Entsprechend wurde in Frankfurt versucht, Wohnraum vor allem für schlecht bezahlte Lohnarbeiter_innen zu schaffen. Dahinter stand kein reiner Pragmatismus, der Bezug auf das Proletariat war vielmehr programmatisch: Die Verbindung der sozialen Frage mit einer neuen Ästhetik war wesentlicher Anspruch des Neuen Frankfurt.

 

Produktivkräfte: Standardisierung

Der Prototyp des Neuen Menschen wurde in der modernen Fabrikarbeit dargestellt, das Neue kam aus den USA, von den Fließbändern der fordschen Fabriken. Henry Ford wendete neben modernsten Produktionstechnologien die von Taylor entwickelte »wissenschaftliche Betriebsführung« an, die bis ins Kommunistische Lager hinein Begeisterung weckte. Zusammen mit der Kombination von fünf Dollar und acht Stunden Arbeit pro Tag wirkten Fords Produktionserfolge wie eine »kapitalistische Utopie«, die Veröffentlichung seiner Autobiographie 1923 in Deutschland »wurde Bestseller und kanonisches Werk der Stabilisierungsphase« (Lethen 1970, 20). Diese Utopie gilt es ernst zu nehmen, auch wenn sie heute obsolet geworden ist. Ausgangspunkt war der Sprung in der Entwicklung der Produktivkräfte: Elektrifizierung, neue Kommunikationsmedien, neue Mobilitätsformen, Massenproduktion von Massenkonsumgütern. Erstmals wurde vorstellbar, dass die Arbeiter_innenklasse an diesem gesellschaftlichen Reichtum partizipieren könne. Die weitergehende Hoffnung richtete sich jedoch darauf, dass diese Produktion die Ankündigung einer ganz anderen Gesellschaft enthielte, gemäß dem alten Satz von Marx: »Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind« (MEW 13, 9). In diesem Sinne bestand der Weg des Neuen Frankfurt darin, die materiellen Existenzbedingungen weiter auszubrüten, indem Kunst und Architektur mit außerästhetischen Erfahrungen konfrontiert wurden und umgekehrt. Dabei können drei Ebenen unterschieden werden, die eng miteinander verschränkt sind:

Erstens sollte die Produktion der Wohnungen selbst auf den Stand der Produktivkräfte gebracht werden, denn »das Bauen als Zweig der gesellschaftlichen Produktion ist wohl am längsten unberührt geblieben von der modernen, wissenschaftlich organisierten, großindustriellen Produktionsweise« (Schwab 1930, 43). Unter dem Stichwort »Mechanisierung der Wohnungsbaus« wurde die Produktion von Wohnungen dahingehend entwickelt, dass möglichst viele Bauelemente industriell vorgefertigt wurden, was eine zügige und witterungsunabhängige Produktion sowie den Einsatz von ungelernten Arbeiter_innen ermöglichte. Verbunden war damit der Gedanke der »Wirtschaftlichkeit« durch Rationalisierung: »Wirtschaftlichkeit ist im technisch-produktiven Sinne zu verstehen und bedeutet den möglichst rationellen Arbeitsaufwand und nicht den möglichst großen Ertrag im geschäftlich-spekulativen Sinne« (CIAM 1928, 84). Im Sinne dieser Ökonomie der Vernunft und Sparsamkeit galt die Massenproduktion als Bruch mit dem bürgerlichen Privileg an bestimmten Konsumgütern.

Zweitens sollte den Gebrauchsobjekten durch die Standardisierung der Produkte – unabhängig davon, ob es sich um Wohnungen oder Tische handelte – ihr individueller Charakter genommen werden, der sich durch den bürgerlichen Ästhetizismus vermittelte. »Als Standard trägt das Produkt zur Nivellierung der Klassenunterschiede bei, indem Arm und Reich dieselben Gegenstände benutzen, die geschichtslos, antinaturalistisch und der privaten Verfügung entzogen sind«, so Rodriguez-Lores/Uhlig zur Position des Bauhaus (1977, XVIIIf.). Dem Anspruch nach sollten klassenlose Gebrauchswerte geschaffen werden. In Frankfurt wurde dafür eigens eine »Abteilung T« eingerichtet, die nicht nur typisierte Grundrisse für Wohnungen entwickelte, sondern auch Inneneinrichtungsgegenstände wie Fenster und Türgriffe, Stühle und Lampen, Betten und Badewannen, deren täglicher Gebrauch eine Subjektivität ausbilden sollte, die den Individualismus überwindet und solidarisches Handeln verinnerlicht. Dahinter stand die grundlegende Kritik am bürgerlichen Ästhetizismus: Die Negation des Bestehenden sollte über die ästhetische Ebene hinaus gehen und gestaltend in die Lebenspraxis intervenieren.

Drittens beschränkte sich die Anwendung der tayloristischen Arbeitsorganisation nicht auf den Siedlungsbau, sondern sollte auf die Reproduktion des täglichen Lebens ausgeweitet werden. »Die Gesamtanordnung der Räume zueinander ist so gestaltet, daß der hauswirtschaftliche Prozeß mit einem Mindestaufwand an Kraft entwickelt werden kann, daß also unnötige Wege vermieden und die wichtigsten Teile der Wohnung möglichst vollkommen ausgestattet werden« (May, zit. nach Mohr/Müller 1984, 101). Wie Mohr/Müller treffend feststellen, wurde dabei die Küche »zur Matrix der Ökonomie der insgesamt durchrationalisierten neuen Wohnungen« (1984, 122). Die Kernfamilie wurde zur kleinsten Einheit der gesellschaftlichen Organisation in der Siedlung. Der Architektur wurde eine erzieherische Funktion zugeschrieben: »Die angestrebte Solidarität innerhalb der Siedlungsgemeinschaften sollten die Bauten und Wohnungen nicht bloß widerspiegeln, sondern erzeugen und mittragen helfen. Der Architektur traute man zu, die Menschen zu gemeinschaftlichem Handeln anleiten zu können« (Mohr/Müller 1984, 41), durch die »vielfache Reihung gleicher Elemente« (May) sollte bei den Nutzer_innen ein kollektives Bewusstsein erzeugt werden. Der Wohnungsbau wurde dabei in den Zusammenhang anderer gesellschaftlicher Entwicklungen gestellt: »In Arbeit, Sport und Spiel, vor allem in der Politik tritt der Kollektivismus klar zutage. (…) Die Wohnsiedlung unserer Tage wird, ähnlich den Bienenwaben, die Summe gleicher Wohnungselemente ausmachen« (1929, zit. nach Mohr/Müller 1984, 87). Das ist ein guter Punkt, um das Neue Frankfurt in seinen politischen Kontext zu stellen.

 

Sozialdemokratie

Die SPD hatte mit der Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914, spätestens aber mit ihrer Mahnung zu »Ruhe und Ordnung« während der Novemberrevolution 1919 die Abkehr von den revolutionären Teilen der Arbeiter_innenbewegung vollzogen. Die ersten Jahre der Weimarer Republik unter Führung der SPD waren geprägt durch ständige politische Erschütterungen: »Die Novemberrevolution, die Rätedemokratie, die Ruhrkämpfe, militärischer Ausnahmezustand, das Ermächtigungsgesetz vom Dezember 1923, die Inflation in diesem Jahre und die damals akute Gefahr einer Diktatur der Machteliten« (Mohr/Müller, 48). Erst 1924 trat eine Stabilisierungsphase ein, in der es für die SPD galt, die Wirksamkeit ihrer Sozialpolitik unter Beweis zu stellen. Die Lehre, mit der sie sich in den Jahren zuvor vom Rätegedanken und einer revolutionären Politik verabschiedet hatte, ging von der These aus, dass die Zentralisierung des Kapitals zur Herausbildung eines »organisierten Kapitalismus« (Rudolf Hilferding) führe, der in einem evolutionären Prozess die Chance zu einem friedlichen Weg in den Sozialismus böte. Voraussetzung dafür sei eine institutionalisierte Organisation der Arbeiter_innenklasse, die auf zwei Ebenen zu intervenieren habe: »In der Produktion, unter Einsatz aller verfügbaren Ressourcen von Disziplin, Arbeitsamkeit, Zielstrebigkeit und Askese, ‚weil die Beseitigung der sozialen Klassen eine besondere Steigerung der Produktion voraussetzt’ [Kampffmeyer]. In der zweiten, der staatlichen Ebene, komme es darauf an, daß die fortschreitenden Organisationstendenzen des Kapitals durch eine von den Arbeitern simultan zu erkämpfende demokratische Kontrolle in Schach gehalten werden« (Rodriguez-Lores/Uhlig 1977, XXIII). Politisch bedeutete das die Institutionalisierung des Klassenkompromisses zwischen Arbeit und Kapital, der in früheren Überlegungen nur als strategisches, nicht auf Dauer gestelltes Mittel angelegt war. »Diese Politik der Klassenversöhnung erforderte die Entschärfung sozialer Konfliktbereiche. Wohnungsnot und die entwickelten Lösungsstrategien erhielten deshalb in der Weimarer Republik einen symbolhaften Charakter« (Kuhn 1986, 21).

 

Die dominierende Stellung der SPD nach dem Ersten Weltkrieg sowie die Stabilisierung nach 1924 bildeten die Voraussetzung, unter der das Neue Frankfurt möglich wurde. Obwohl sich die Wenigsten aus dem Neuen Frankfurt parteipolitisch positionierten – Rodriguez-Lores/Uhlig sprechen geradezu von einer »Ostentation des Unpolitischen« (1977, XVII) –, gab es auch inhaltlich bedeutende Übereinstimmungen mit sozialdemokratischen Positionen: Die Begeisterung für neue Technologien und Produktionsmethoden und die damit verbundenen Hoffungen auf eine andere Gesellschaft korrespondierte mit der These von der Entwicklung zum Sozialismus als evolutionärem Prozess, und die Abschaffung der Wohnungsnot bildete einen gemeinsamen konkreten Ausgangspunkt. Einen weiteren Punkt versuche ich im Folgenden an der Praxis des Neuen Frankfurt zu verdeutlichen.

 

Kopfarbeit

Bei den Konzepten des Neuen Frankfurt handelte es sich um ein klares Verhältnis von Planenden, die die Neuen Menschen mehr oder weniger fertig im Kopf hatten, und Nutzer_innen, die durch bestimmte Technologien dazu angeleitet werden sollten, solche zu werden. »Wir müssen uns dieselbe Frage vorlegen, die sich der Direktor des Zoologischen Gartens vorlegt, wenn er irgendwelche seltenen Tiere unterbringen muß und auf ihre Erhaltung bedacht ist. Er erforscht ihre heimatlichen Lebensbedingungen und sucht ihnen diese möglichst naturgetreu wiederzugeben« (May 1928, 86f.). Das Problem solcher Überlegungen bestand nicht nur in dem paternalistischen Gestus, in dem May die Subjekte seiner Utopie betrachtete und ihre Bedürfnisse bestimmte, sondern darin, die »heimatlichen Lebensbedingungen« als gegeben anzuerkennen und deren Veränderung nicht als eigentliches Ziel der Reform zu begreifen. Ein konkretes Beispiel dafür geben Grete Schütte-Lihotzkys Ausführungen zur »Frankfurter Küche«: »Schon vor mehr als 10 Jahren haben führende Frauen die Wichtigkeit der Entlastung der Hausfrau vom unnötigen Ballast ihrer Arbeit erkannt und sich für zentrale Bewirtschaftung von Häusern (…) eingesetzt. Sie sagten: (…) Warum sollen 20 Frauen für 20 Familien kochen, wenn doch bei richtiger Einteilung 4-5 Personen dieselbe Arbeit für 20 Familien besorgen können? Diese jedem vernünftigen Menschen einleuchtenden Erwägungen haben bestochen. Man baute Einküchehäuser. Bald aber zeigte sich, daß man 20 Familien nicht so ohne weiteres in einen Haushalt vereinigen kann. Abgesehen von persönlichem Gezänk und Streit, sind starke Schwankungen in der materiellen Lage der verschiedenen Bewohner unvermeidlich, weshalb der Zusammenschluß mehrerer Familien notwendig zu Konflikten führen muß« (1927, 127). Dem Prinzip nach wurde hier zwar an Erfahrung angeknüpft, es wurde aber nicht nach den Gründen des Scheiterns gefragt, sondern das Ergebnis als definitiv genommen und die Rollen der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung entsprechend verteilt. Der Gedanke, dass das Scheitern einer kollektiven Organisation mit den Verhältnissen selbst zu tun haben könnte, passte scheinbar nicht ins Konzept. Sie wurden festgeschrieben.

Was für die Organisation des einzelnen Haushalts gilt, gilt auch für die Organisation der Siedlungen als Ganzer. Die kollektiven Orte, die realisiert wurden, sind fast ausnahmslos einer Funktion in der kapitalistischen Arbeitsteilung zuzuordnen: Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser, Altersheime, Friedhöfe. Ernst May: »Was soll die Stadt? Sie soll die Berufserfüllung jedes einzelnen Bürgers so erleichtern, daß er mit einem Mindestaufwand an Kraft ein Höchstmaß an Leistung erzielt« (zit. nach Diehl 1976, 75). Der Siedlungsbau erscheint so als »institutionalisierte Verhinderung realer Aneignung sich kollektiv organisierender Bewohner durch einen autoritativ bürokratischen Wohnungsbau« (Rodriguez-Lores/Uhlig 1977, XXV). Erfahrungen, die über das Bestehende hinausweisen, waren in solchen Planungen kaum zu machen.

 

Darin liegt eine weitere Gemeinsamkeit mit dem sozialdemokratischen Projekt, in dessen einseitiger Fixierung auf staatliche Institutionalisierung das Proletariat – ehemals als Subjekt des historischen Prozesses gedacht – als passive, gefügige Arbeitskraft zum Objekt degradiert wurde. Die Mobilisierung der Arbeiter_innen zu Disziplin, Arbeitsamkeit, Zielstrebigkeit und Askese machte dem Umschlag in Herrschaftstechnologie leichtes Spiel. »In dem Maße wie sich die gesellschaftsreformerischen Hoffnungen nicht verwirklichten, indem sie an der äußeren Gewalt und den inneren Widersprüchen erstickten, indem die erstrebte Humanisierung nicht erreicht wurde, weil die Fortdauer der repressiven, technifizierten Arbeitsteilung keine neuen Aneignungsformen zwischenmenschlicher Beziehungen zuließ, in dem Maße wurde die Architektur der Siedlungen zum edukativen Herrschaftsinstrument, das die nicht eingelösten Gefühle, Hoffnungen, Träume im ästhetischen Schein regressiv befriedigte« (ebd., XXV).

 

Avantgarde

Ihr emanzipatives Potential entfaltete die Avantgarde der Moderne und mit ihr das Neue Frankfurt da, wo sie sich an Tradition und bürgerlicher Gesellschaft rieben: In der Negation des Bestehenden und der damit verbundenen Provokation. In dieser Auseinandersetzung wurden auch Momente entwickelt, die über das Bestehende hinauswiesen und bis heute nichts an Aktualität verloren haben: Die Erfindung einer »Ästhetik des Gebrauchs«, der Versuch einer Anbindung »sozialer Probleme und Verhältnisse an ästhetische« (Müller 1984, 88). Dieser Versuch der Verbindung von Form und Inhalt schlug sich auch in der konkreten Praxis nieder, die als ein kollektiver, interdisziplinärer Prozess organisiert wurde. Darin zeigt sich die ganze Macht der Idee der Vergesellschaftung der Kunst, denn im Zuge der Taylorisierung machen die Kreativen sich selbst zu Rädern im Getriebe, zu Erfüllungsgehilfen der stumm sich entwickelnden Produktivkräfte – in den Siedlungen wurden kaum repräsentative Einzelbauten produziert, die Namen der Architekt_innen verschwanden hinter dem Projekt Neues Frankfurt. Dabei bedeutete diese Zurücknahme des Subjekts keine Zwangsaskese, denn sie war eingebettet in eine breite Bewegung und stand in internationalem Austausch mit anderen Avantgarden.

In diesem Sinne gilt, was Adolf Behne noch 1931 schrieb: »Es spielt sich in der Kunst ein Klassenkampf ab (…), und ein Schlachtfeld dieses Klassenkampfs ist jedes einzelne Bauwerk«. Allerdings handelte es sich dabei um einen Kampf in einem Feld, in dem das Proletariat nicht präsent war, um einen akademischen Klassenkampf, in dem bürgerliche Intellektuelle mit ihrer eigenen Klasse abrechneten. In dieser Hinsicht kollidierte der Anspruch des Neuen Frankfurt nach einer Vergesellschaftung der Kunst mit der eigenen Stellung, denn als Kopfarbeiter_innen erfüllten sie ihre Funktion in der kapitalistischen Arbeitsteilung: Wenn das Ziel gesellschaftlicher Emanzipation darin besteht, dass die Menschen ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen, dann wäre die Aufhebung der Trennung von Hand- und Kopfarbeit, Planung und Nutzung als wesentliches Ziel in den Mittelpunkt zu stellen. Im Neuen Frankfurt dagegen haben Kopfarbeiter_innen im Namen von Handarbeiter_innen deren Emanzipation zu verwirklichen versucht und ihnen dabei unterstellt, ihr Bewusstsein sei noch nicht reif. Das elitäre Bewusstsein des Neuen Frankfurt hat wiederum wenig mit der Nähe zur Sozialdemokratie zu tun und hätte sich auch in einem revolutionären Europa durchsetzen können, schlimmstenfalls noch durchkreuzt von den Romantizismen einiger Apparatschiks.

Andererseits wird es zur praktischen Entwicklung von Utopien immer entschlossene Avantgarden brauchen, die sich mit ihren Konzepten gegen den Alltagsverstand durchsetzen. Der Bleimantel der Tradition wird ohnehin immer wieder zu Aneignungen führen, die sich über den Entwurf hinwegsetzen, und insofern wären Planungen zu entwerfen, die möglichst wenig vorwegnehmen und verschiedenen Praxen offen stehen. Solange aber die Gartenhecken derart in die Köpfe eingefressen sind, dass sie nicht selbsttätig demontiert werden, wird jeder Entwurf zu einer emanzipativen Praxis nur eine Idee bleiben.

 

Charly Außerhalb

 

*.lit

CIAM (1928): Offizielle Erklärung [Internationaler Kongress für neues Bauen, La Sarraz], in: Hirdina 1984, S. 84-87.

Diehl, Ruth (1976): Die Tätigkeit Ernst Mays in Frankfurt am Main in den Jahren 1925-30 unter besonderer Berücksichtigung des Siedlungsbaus, Frankfurt.

Hirdina, Heinz (1984): Neues Bauen – Neues Gestalten. Das Neue Frankfurt/ die neue stadt. Eine Zeitschrift zwischen 1926 und 1933, Berlin.

Kuhn, Gerd (1986) in Landmann, Asch, May, in: Klotz, Heinrich (Hg.) (1986): Ernst May und das Neue Frankfurt 1925-1930, Ausstellungskatalog, Berlin, S. 20-24.

Lenin (1918): Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht, in: Lenin Werke, Bd. 27.

Lethen, Helmut (1970): Neue Sachlichkeit 1924-1932. Studien zur Literatur des ‚weißen Sozialismus’, Stuttgart 1975.

May, Ernst (1928): Das soziale Moment in der neuen Baukunst, in: Rodriguez-Lores/Uhlig 1977,  S. 81-87.

Mohr, Christoph/ Müller, Michael (1984): Funktionalität und Moderne. Das Neue Frankfurt und seine Bauten 1925-1933, Köln.

Müller, Michael (1984): Architektur und Avantgarde. Ein vergessenes Projekt der Moderne?, Frankfurt a.M.

Rodriguez-Lores Juan/ Uhlig, Günter (Hg.) (1977): reprint aus: Das Neue Frankfurt/ Die Neue Stadt, Aachen.

Schütte-Lihotzky, Grete (1927): Rationalisierung im Haushalt, in: Mohr/Müller 1984, S.127-130.

Schwab, Alexander (1930): »Das Buch vom Bauen«. Wohnungsnot,  Neue Technik, Neue Baukunst, Städtebau aus sozialistischer Sicht, Düsseldorf 1973.

 

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