Die Begeisterung über das Heftthema war groß in der Redaktion, als der Vorschlag aufkam sich mit Zeit und Zeitökonomien zu beschäftigen. Nicht nur die offensichtliche Dringlichkeit, mit der dieses Thema unser aller Alltag beherrscht, sondern auch die Beobachtung, dass sich die Debatten und kollektiven Kämpfe in der (deutschen) Linken in den letzten Jahren lieber um den Raum (also meistens: die Stadt) als die Zeit kümmern, schienen eine Beschäftigung damit zu einer sinnvollen Sache werden zu lassen. Allerdings gab es relativ schnell eine doppelte Ernüchterung: denn einerseits ist die Zeit ein schwer eingrenzbares, schwer beherrschbares und nach allen Richtungen ausfransendes Phänomen und andererseits ist die Zeit auch nicht gerade die beste Freundin freiwillig und unentgeltlich arbeitender Redakteur_innen.

 

»Time will tell nothing, but... I told you so!« (The Streets)

Die Zeit scheint es also gar nicht so gut mit uns zu meinen. Sich länger mit ihr zu beschäftigen setzt einiges von ihr voraus und meistens ist sie eher mangelhaft als reichlich vorhanden. Das machte die Arbeit an diesem Heft schwieriger und vor allem langwieriger als gedacht. Und – als hätten unsere Autor_innen ähnlich ernüchternde Erfahrungen mit der Zeit gemacht - kommt die Zeit in den folgenden Texten nicht allzu gut weg. Als ständiger Mangel, als Regierungsform und Selbstverhältnis, als Stillstand und als reaktionärer Rückgriff auf Geschichte zur Legitimation aktuellen Unsinns gerät die Zeit in die Kritik. Die Zeit kommt also weniger in ihrer quasi ontologischen Dimension in den Blick, wo sie häufig als Komplizin im Kampf gegen die erstarten gesellschaftlichen Verhältnisse auftritt. Vielmehr schreiben sich die Texte in eine Traditionslinie ein, die die spezifischen Nutzungsweisen der Zeit als Momente der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft kritisiert. Das ist zwar nicht unbedingt neu, aber notwendig. Denn die Zeiten sind heute nicht mehr die gleichen, wie die, die die Pariser Revolutionär_innen dazu brachten auf Uhren zu schießen. Selbst wenn sich die Zeit(en) nicht mehr ändern, sondern die Postmoderne vielmehr Stillstand und die Perpetuierung von erfahrungslosem Leiden bedeutet (danys text), so ändert sich doch unser Zugriff auf sie, also wie in der Gegenwart über vergangene Zeiten verfügt um damit Verschwundenes lesbar zu machen oder Offensichtliches verschwinden zu lassen. (johnny, ronneberger, charly) bzw. wie die Zukunft im Jetzt präsent gemacht und durch sie Politik gemacht wird (andreas Text). Doch auch ihr Zugriff auf uns verändert sich, indem ihre weitere Verknappung dazu führt uns und andere noch produktiver, ehrgeiziger und effizienter auszubeuten (dominik, greta). Diese veränderten Verhältnisse werden in dem vorliegenden Heft aus verschiedenen Blickwinkeln analysiert und auf ihre Konsequenzen für diese Gesellschaft und unseren Alltag in ihr befragt.

Was dabei, in den Texten und unseren Diskussionen zu dem Heft, allerdings unklar oder nur ansatzweise zu fassen bleibt, ist die Frage wie um Zeit kollektiv zu kämpfen wäre, welche anderen Gebrauchsweisen der Zeit möglich und wie diese zu organisieren wären. Da sich inzwischen der Zugriff der Zeit und die Verfügung über sie so stark individualisiert hat und zu weiteren Individualisierungen führt, scheinen old-schoolige Mittel des Widerstandes (Streik, Bummelstudium oder so) schwieriger zu aktivieren. Das heißt nicht, dass es sinnlos wäre zu versuchen diese Mittel weiterhin anzuwenden – es bleibt vielmehr weiterhin geboten so viel und so vehement zu streiken und zu bummeln wie möglich. Allerdings ist auch zu konstatieren, dass die Möglichkeiten und Erfolgsaussichten dafür immer weiter schwinden. Während der individualisierte Leistungs- und Konkurrenzdruck nicht mal mehr vor denen halt macht, die gar keine Arbeit haben und somit Solidarisierungen im Kampf gegen die zunehmenden Unverschämtheiten verstärkt erschwert (siehe dominiks text), bekommen Studienanfänger_innen schon vom ersten Semester an erzählt, dass wenn sie nicht rund um die Uhr ihr bestes geben, ohnehin kein Masterplatz und somit auch keine Zukunft für sie vorhanden sei. Notwendig wären daher, neben den alten, neue Gemeinsamkeiten und Organisationsformen, die Wege finden sich in diesen Zeiten mehr heraus nehmen zu können. »Take your time« – sich die Zeit zu nehmen, die einer_einem zusteht, gehören sollte oder immer wieder wegrennt. Nicht nur allein im eigenen Alltag – auch das – sondern zusammen mit all den anderen, die auch ständig darüber klagen, dass zu wenig Zeit da wäre, der Stress zu viel würde und das nächste Kaffee-und-Kuchen-Date, wenn überhaupt, frühestens Ende des Monats möglich sei. Dieser positive Bezug auf Kämpfe um und mögliche andere Konzeptionen von Zeit kommt hier leider nur negativ vor. Das Fehlen von positiven Bezügen auf Zeit verweist dabei auf eine Reihe von Absagen, die uns im Laufe der Heftproduktion erreichten. Sich die Zeit zu nehmen unentgeltlich für eine Student_innenzeitschrift zu schreiben ist für eine wachsende Zahl potentieller Autor_innen immer schwieriger. Umso schöner, dass doch einige Zeit für einige Zeilen gefunden haben, um die Schwierigkeiten mit der Zeit wenigstens zu problematisieren. Denn jenseits der wenigen Ideen für neue Widerstandsformen, bleibt das Problem an alternativen Versionen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, dass sie zu oft in Schlaraffenlandfantasien, dem Feiern von Vergangenem oder dem Herumwerkeln an einem etwas bessern Status Quo enden. Das ist alles nun auch nicht ganz schlecht und schon gar nicht verkehrt, aber abseits vom Bilderverbot, wäre ein Ansatz für andere Zeiten zu denken.

 

»Kann denn nicht mal irgendwer an die Kinder denken?!« (Helen Lovejoy)

Einen Versuch das gegenwärtige Zeitregime zu unterbrechen unternimmt Lee Edelman in seinem Buch »No Future! – Queer Theory and the Death Drive«. Edelman zeigt, dass die bürgerliche Gesellschaft und vor allem der Raum des Politischen konstituiert und zusammengehalten werden von dem was er »reproduktiven Futurismus« nennt. Also die Idee, dass die Zukunft wichtiger sei als die Gegenwart, da persönliches und politisches Handeln nur Sinn ergeben, wenn sie die Fortsetzung oder gar »Verbesserung« der Gegenwart in die Zukunft beinhalten. Zentrale Figur des reproduktiven Futurismus ist daher Das KIND: es verspricht sowohl die Zukünftigkeit der Eltern und der Gesellschaft als auch, dass sich ihre Entsagungen in der Gegenwart lohnen werden, denn morgen wird es Das Kind ja besser haben und besser machen. Die Unerfüllbarkeit des Glücksversprechens in der Gegenwart wird also ständig aufgeschoben durch die Bedingung an Das KIND und das Morgen zu denken – wobei eigentlich klar ist, dass Morgen immer mindestens einen Tag entfernt ist. Oder wie Annie im gleichnamigen Musical singt: »Tomorrow! You’re always a day away«.

Diesem reproduktiven Futurismus der Entsagung in der Gegenwart zu Gunsten der Zukünftigkeit Des KINDES stellt Edelman die »Sinthomosexualität« entgegen. Da der gesellschaftliche Fokus auf die eigene Reproduktion heterosexistisch funktioniert, wird der nicht-reproduktive Sex auf queere Lebensweisen verschoben und diese dafür gebrandmarkt (»wenn das alle machen würden, dann wäre die Menschheit ja bald ausgestorben« – oder Joey in Friends: »If the homo sapiens really were homo, is that why they got extinct?«). In dieser Konstellation steht also der gute, reproduktive, heterosexuelle, auf die Zukunft bedachte Sex dem schlechten, unnützen, queeren, auf unmittelbares Vergnügen bedachten Sex gegenüber. Edelmans Einsatz ist nun genau diesen Vorwurf zu bejahen und so stark wie möglich zu machen. Anstatt, wie liberale Positionen es tun, auf die »Normalität« und »Nützlichkeit« queerer Lebensweisen zu verweisen und glückliche Paare mit Kind ins Feld zu führen, sei das Wunderbare an Queerness gerade das Exzessive, Dringliche und Nicht-Aufschiebbare, das sich weigert die Erfüllung des Glücksversprechens immer auf morgen zu verschieben und stattdessen alles und zwar genau: jetzt! fordert. Anstatt immer warten zu müssen, bis es endlich legendär wird und dann doch wieder vertröstet zu werden, sei die Stärke von Queerness gerade sich an dieser Reproduktion von Zukünftigkeit nicht zu beteiligen, sondern das glücklichere Leben jetzt wahr nehmen zu wollen – oder wie Edelman schreibt: »what is queerest about us, queerest within us, and queerest despite us is this willingness to insist intransitively – to insist that the future stop here«. Genau diese Verbindung zwischen Queerness und exzessivem Vergnügen bezeichnet Edelman als »Sinthomosexualität«.

Daraus ergeben sich Möglichkeiten interessanter, wenn auch gewagter Zusammenhänge. Da aus dem oben Ausgeführten folgt, dass für Edelmann Queerness nichts Intrinsisches oder Angeborenes sein kann, sondern verbunden ist mit einer bestimmten Lebensweise oder bestimmten Forderungen, kann sein Konzept der »Sinthomosexualität« eben auch bezogen werden auf andere Phänomene, die nicht viel zu tun haben mit Queerness im klassischen Sinn. Da hier eben nicht die Frage nach LGBT-Lebensweisen gestellt werden soll, sondern der Fokus auf den Zugriff auf Zeit liegt, kommen die Ideen der Unaufschiebbarkeit des Jetzt und der Ablehnung der Verschiebung des Glücksversprechend in die Zukunft zusammen mit zwei medial groß rezipierten Phänomenen, die eben einen anderen Zugang zu Zeit und einen anderen Umgang mit Zeitökonomien sichtbar werden lassen.

 

»Darf ich Ihnen was zum Thema Vorsorge mitgeben?« (ein Sparkassen-Mitarbeiter)

Erstens manifestiert sich seit geraumer Zeit an den Spitzen der westlichen Musik-Charts (aber auch darüber hinaus) immer wieder der Aufruf nichts auf morgen zu verschieben, sondern die Nacht, den Augenblick, Jetzt, genau diesen Tag, den besonderen Moment usw. zu zelebrieren. In der Verbindung von R’n’B und House haben die meisten Hits von David Guetta, den Black Eyed Peyes, Pitbull, Jason Derülo, LMFAO usw. immer und immer wieder genau diesen Inhalt: den Moment zu feiern und bloß nicht an morgen zu denken. Ist diese Aufforderung auch nicht neu, so ist sie doch, wie Edelman zeigt, selten mehrheitsfähig und traditionell eher in anderen Subkulturen zu finden. In dem diese nun jedoch zu einer konsensfähigen Dauerbeschallung wird, ergibt es sich, dass der spezifische Zugriff auf Zeit, den Edelman mit Queerness verbindet, ankommt in einem Bereich, der damit erst mal wirklich gar nichts zu tun hat (sondern eher stark heterosexistisch funktioniert – siehe bspw. »Give Me Everything (Tonight)« von Pitbull und NeYo). In den Zeiten also, in denen die Zeit ständig knapper, enger und stressiger wird, kommt es dazu, dass genau dieser Verknappung so etwas wie ihr Gegenteil entgegen gesetzt wird. Neben die gesellschaftliche Aufforderung immer schneller, effizienter und produktiver zu arbeiten, gesellt sich der kulturindustrielle Imperativ zum Feiern als gebe es kein Morgen mehr. Das mögliche Glück soll nicht mehr auf morgen verschieben werden, sondern es sei jetzt wirklich zu machen (siehe die beiden größten Hits der Black Eyed Peas: »I Gotta Feeling« und »The Time (Dirty Bit)«, die ergänzt werden von Titeln wie »Just Can’t Get Enough« und »Don’t Stop the Party« – interessanterweise meistens mit deutlichen Verweisen auf die 1980-er, die wohl bislang als das »schwulste« Jahrzehnt in die Pophistorie eingegangen sind). Politisch spannend ist dabei, dass einerseits Das KIND dann doch immer wieder auftaucht – selbst wenn es auf textlicher und musikalischer Ebene abwesend ist, so bleiben Kinder und Familie für die Künstler_innen höchstes Gut und Ziel (selbst bei den sehr promiskuitiven Feierprolls der MTV-Serie Jersey Shore). Andererseits wird trotzdem ein anderer Zugriff auf Zeit erkennbar, der nicht auf die irgendwie politisch und persönlich bessere Zukunft vertröstet, sondern versucht alles was möglich ist aus den gegebenen Verhältnissen heraus zu holen. Der Horizont wird also nicht mehr die Idee, dass man vielleicht in ein paar Jahren nicht mehr ganz so viel arbeiten muss, sondern die Idee, dass diese Party – erst mal der größtmögliche Spaß, den die Verhältnisse zulassen – nicht aufhört. Es geht also darum nach Mittel und Wegen zu suchen, sich die Zeit jetzt zu nehmen und sie mit ausschließlich Großartigem und nichts Nützlichem zu füllen und dann nicht mehr los zu lassen (oder eben die Kontrolle zu verlieren). Dies ist tendenziell eine Bewegung, die die gegenwärtige Gesellschaft vor ernsthafte Probleme stellt, denn die polemische Antwort Edelmans auf die Frage, wie es denn möglich sei seine Argumentation zu überleben, ist, dass der Witz darin läge, dass man es gerade nicht tut.

 

»C – wie Zukunft« (Wahlspruch der CDU Mecklenburg-Vorpommern)

Genau dies verbindet seine Idee der »Sinthomosexualität« mit einem anderen wichtigen Phänomen aus diesem Jahr: den Riots in Großbritannien. Im Unterschied zu den Ereignissen des »arabischen Frühlings« oder den Sozialprotesten in anderen Teilen der Welt, (die hier politisch nicht bewertet, sondern nur unterschieden werden sollen) ging es dabei eben nicht um eine »bessere Zukunft«, eine andere politische Organisation oder die Wiederherstellung ehemaliger Sicherheiten. Es ging, wie einige Kommentator_innen bemerkten (bspw. Nina Power und die Bloggerin Penny Red), eher darum die Machtfrage zu stellen, in dem kurzen Zeitfenster, in dem dies möglich wurde. Das Politische wäre aus dieser Perspektive gerade die Tatsache, dass es scheinbar nicht um eine nachhaltige Organisierung der Wut oder die Formulierung von politischen Forderungen ging, sondern um die exzessive Ausnutzung der Möglichkeiten, die sich im Moment auftaten. Genau dies war es ja auch, was die bürgerlichen Medien so ärgerte: das Maßlose, das Sinnlose, das Exzessive, das Chaotische. So war es eben nicht richtig möglich den Randalierenden einen verkappten Zukunftswunsch zu unterstellen (Job, Familie und immer wieder »Sicherheit« oder auch »Hoffnung«), da diese gleichzeitig sich damit begnügten für den Moment, in dem dies möglich war, die Macht auf den Straßen an sich zu nehmen und damit zu machen, was immer sie auch wollten – einstecken, was ausliegt; anzünden, was rumliegt; sich nehmen, was zufliegt. Wo die kapitalistische Gesellschaft und Geschichte ohnehin keine Zukunft mehr für sie vorgesehen hat, sondern nur noch eine schlechte Unendlichkeit projiziert, war hier vielleicht die Lösung diesen miesen Vertrag mit der Zukünftigkeit aufzukündigen und sich lieber jetzt zu nehmen, was da ist. Das, was sonst für ein besseres Morgen zurück gehalten oder versprochen wird, wurde sich in der Situation, einfach, weil es möglich war, genommen – vom fröhlichen Feiern über Sneaker bis zur Bestimmung der akuten Politik. Es wurde dabei nicht nach einer möglichen Zukunft oder Verbesserungen für Übermorgen gefragt, sondern es schien zu reichen, auszutesten, wie lange dieser exzessive Ausnahmezustand aufrecht zu erhalten sei.

 

»The future will be better tomorrow.« (George W. Bush)

Mit dem Blick auf die Sinthomosexualität und dem was uns derzeit aus den Charts entgegen geträllert wird, könnte also eine Ebene im Kampf gegen die schlechte und schlechter werdende Zeit sein, den Blick nicht mehr in die Zukunft zu richten, sondern mit der alten Forderung »Alles für alle und zwar sofort!« ernst zu machen. Sich im Rahmen der Möglichkeiten nicht mehr vertrösten zu lassen, sondern die Verwirklichung ihrer Potentiale jetzt zu realisieren. Dass dies weder einfach, noch immer lustig ist, davon erzählen sowohl Edelman als auch die Polizeiaktionen im Rahmen und nach den Riots. Allerdings ergibt sich darüber in Zeiten der ökonomischen und ökologischen Krise eine Perspektive, die nicht immer nur zurück stecken oder auf klamme Kassen reagieren muss, sondern auf diese Form der schlechten Unendlichkeit verzichtet, um unverantwortlich den Überfluss in der Gegenwart wahr zu machen. Ob das nun »realistisch« oder »machbar« ist, wäre dabei gar nicht der Punkt, sondern vielmehr wäre das Flimmern des fröhlichen Feierns auf Viva und den Berliner Straßen zu verbinden mit der Ablehnung des ständigen Apells doch auch an Die Kinder oder Die Kommenden Generationen zu denken um daraus Momente entwickeln zu können, die diese Zeit – unsere Gegenwart – in einem schöneren, strahlenderen Discolicht erscheinen lassen.

Hingeschrieben ist das leicht, aber im »Verschwende deine Jugend« die Jugend durchzustreichen und durch das ganze Leben zu ersetzen, ist genauso notwendig wie Unsinn. Denn auch wir werden nachdem dieser Text fertig besprochen ist noch 2 oder 3 Bier trinken und dann nach Hause gehen, um morgen nicht allzu zerstört zu sein und noch etwas arbeiten zu können.

 

diskus Redaktion