Digitales Mittelalter
Seit den frühen 1990er Jahren kann man in Europa von einer regelrechten Rekonstruktionswelle sprechen. So versuchen die Regierungen der postsozialistischen Länder mit aufwendigen Architekturprojekten das Rad der Geschichte zurückzudrehen und an die Zeit vor dem »Kommunismus« anzuknüpfen: Dieser Erinnerungskultur dient etwa die Rekonstruktion der Christus-Erlöser-Kathedrale in Moskau oder die Wiedererrichtung des Goldkuppel-Klosters im ukrainischen Kiew (beide Gebäudekomplexe waren in den 1930er Jahren auf Geheiß der KP-Führung gesprengt worden). Aus ähnlichen Motiven speisen sich in Deutschland prominente Vorhaben wie die Wiederherstellung der Dresdner Frauenkirche oder der geplante Nachbau des Berliner Schlosses. Doch bei vielen Rekonstruktionsvorhaben geht es auch um eine nostalgische Sehnsucht nach dem verlorenen Glanz aristokratischer Monumentalbauten, um den lokalen »Genius loci« und nicht zuletzt um Standort-»Branding« und Investoren-Marketing. Dafür stehen etwa das »Altstadt-Projekt« in Frankfurt, der Nachbau des Braunschweiger Schlosses als Einkaufszentrum oder die geforderte Wiedererrichtung des 1871 abgebrannten Tuilerien-Palast in Paris. Zwar stellen Rekonstruktionen nur einen geringen Anteil am städtischen Baugeschehen dar, doch häufig handelt es sich dabei um repräsentative Objekte, die ein großes mediales und öffentliches Interesse auf sich ziehen.
Von der Restauration zur Rekonstruktion
Die Frage ist, ob Kopien längst verloren gegangener Bauwerke überhaupt zulässig sind? Handelt es sich bei der »Altgier« (Friedrich Nietzsche) nach dem Vergangenen um ein legitimes gesellschaftliches Bedürfnis oder hat die »Authentizität« der Bausubstanz absoluten Vorrang?
Die Architekturtheorie unterscheidet klar zwischen Wiederaufbau und Rekonstruktion. Unter Wiederaufbau versteht man die sofortige Wiederherstellung eines Gebäudes oder eines Stadtensembles, das durch eine Naturkatastrophe oder durch kriegerische Ereignisse zerstört wurde. Bei Rekonstruktionen handelt es sich um die Neuherstellung nicht mehr existierender architektonischer Objekte anhand von Bildern, schriftlichen Beschreibungen oder anderen Informationsquellen. Dieses Verfahren wird vornehmlich dann praktiziert, wenn der Verlust des Bauwerks mit einer größeren zeitlichen Distanz verbunden ist. Historisch betrachtet, durchziehen Rekonstruktionen die gesamte Architekturgeschichte.
Als Vorläufer der Rekonstruktion kann man die Restaurierungsprogramme des Historismus ansehen. Ausgelöst durch sentimentale und romantische Strömungen, erfährt im 19. Jahrhundert das Mittelalter – von der Aufklärung noch als barbarisch und »finster« eingestuft – eine neue Wertschätzung. In Ländern wie Frankreich, England oder Deutschland setzen sich adelige und bürgerliche Kreise für die Restaurierung von Burgen und Kathedralen als Zeugnisse mittelalterlicher Größe ein. Überall beginnen Wissenschaftler und Bildungsbürger historische Baudenkmäler aufzuspüren, denen eine identitätsstiftende Rolle für die jeweilige Nationsbildung zugeschrieben wird. Je weiter im 19. Jahrhundert die kunsthistorischen Bestandsaufnahmen der Architektursprachen und Baustile fortschreiten, desto deutlicher hebt man die nationalen Differenzen hervor: So gibt es eine »französische Renaissance«, einen »englischen Tudorstil« und eine »deutsche Backsteingotik«.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gerät die Praxis der Restauration in die Kritik: Sie stelle eine Verfälschung des vorgefundenen Zustandes dar und das historische Monument verliere durch die bauliche Interpretation seinen unwiederbringlichen Wert. Vor allem der Kunsthistoriker Georg Dehio (1850-1932), der den modernen Denkmalbegriff im deutschsprachigen Raum entscheidend geprägt hat, polemisiert gegen die gebauten Geschichtsphantasien des Historismus: »Konservieren, nicht restaurieren« lautet sein Grundsatz.
Bis heute sehen sich die Kunstwissenschaft und die Denkmalpflege (wenn auch zunehmend defensiv) dieser »Authentizitäts-Ethik« verpflichtet: Die neu errichteten Gebäude gäben nur vor, historische Bauwerke zu sein. Damit ist insbesondere die »Kulissenarchitektur« gemeint, die bei Rekonstruktionen häufig zum Einsatz kommt. In solchen Fällen beschränkt man sich auf eine historisierende Fassade, während das Innere des Gebäudes modernen Funktionserfordernissen entspricht.
Die Instrumentalisierung von Geschichte als Verfügungsmasse für Architekturinszenierungen wird oft mit einer »Disneyfizierung« der »europäischen Stadt« gleichgesetzt. Doch diese Kulturkritik unterschlägt die historischen Wurzeln der Disney-Ästhetik. Die bildnerischen Einflüsse der restaurativen Architektur und romantischer Maler wie Ludwig Richter oder Caspar David Friedrich auf das Werk Walt Disneys (1901-1966) sind hinreichend dokumentiert. Seine Animationen popularisieren lediglich deren sentimentale Formensprache, indem er sie in das Phantastische überführt und damit genau den Geschmack eines konsum- und unterhaltungsorientierten Publikums (auch in Europa) trifft.
»Altstadt«-Konstruktionen
Bei den Rekonstruktionsbestrebungen spielt die »Altstadt« eine besondere Rolle. Seit dem 19. Jahrhundert lassen sich mehrere ideologisch-konzeptive Konjunkturen ausmachen.
Die erste Konjunktur fällt in die Zeit der Industrialisierung, wo das Wachstum der Städte eine enorme Beschleunigung erfährt. Da die mittelalterlichen Stadtmauern und barocken Wallanlagen der ausgreifenden Urbanisierung im Wege stehen, werden sie vielerorts abgetragen. Gegen die Schleifung dieser Baudenkmäler sprechen sich Bürgervereine aus und geraten in Konflikt mit den Vertretern der Kommunalverwaltung. Angesichts der zerstörerischen Dynamik des liberalen Kapitalismus entwickelt sich gerade im Bildungsbürgertum eine Sensibilität dafür, welche kulturellen und baulichen Verluste der städtische Modernisierungsprozess mit sich bringt. Auf Betreiben von Traditions- und Heimatvereinen wird der Denkmalbegriff um die Kategorie des »Stadtbildes« erweitert: Aus deren Perspektive geht es nicht um die kunstgeschichtliche Bedeutung historischer Bauwerke, sondern um einen subjektiven, sich bildlich erschließbaren »Alterswert«. Dieses Gefallen am Vergangenen erhält durch das neue Medium der Fotographie, verkoppelt mit technischen Innovationen im Buchdruckbereich, einen zusätzlichen Auftrieb. In Publikationen mit Titeln wie »Alt-Heidelberg« oder »Alt-Frankfurt« herrscht eine nostalgische Sichtweise vor, die der »guten alten Zeit« nachtrauert.
Um 1900 setzt die zweite Konjunktur ein: Die »Altstadt« wird von der Stadtplanung einerseits als historischer Stadtkern funktional definiert und zoniert, andererseits gilt sie als Problemraum, der sich durch übermäßige Verdichtung, Enge und soziale Missstände auszeichnet. Der Ruf nach einer »Gesundung« der »Elendsviertel« trifft in (West-)Europa auf eine wachsende Zustimmung. Im Deutschen Kaiserreich steht dafür exemplarisch die Niederlegung des Hamburger Gängeviertels, wo – ausgelöst durch eine Choleraepidemie – drei Viertel der alten Gebäudesubstanz abgerissen wird.
Nach dem Ersten Weltkrieg gewinnt das Neue Bauen an Einfluss. Die Utopien der städtebaulichen Moderne versuchen radikal mit dem »Alten« zu brechen und zeichnen sich durch eine programmatische Rücksichtslosigkeit gegenüber historischen Strukturen aus. Ein berühmt-berüchtigtes Beispiel ist die Sanierungsplanung Le Corbusiers für Paris. Er wollte das »hoffnungslose Durcheinander« der Altstadt bis auf wenige markante Bauwerke und Denkmäler (Notre-Dame, Louvre etc.) beseitigen und durch eine Hochhaus-Architektur ersetzen. Le Corbusier wandte sich explizit gegen eine historisch-atmosphärische Einbettung ikonischer Gebäude und setzte ganz auf die appellierende Wirkung von merkmalsstarken »Superzeichen« in einer »gereinigten« Umgebung.
Das Konzept eines auf Isolierung und Enttextualisierung beruhenden Denkmalbegriffs schlägt sich auch in der Charta von Athen (1933) nieder, die als Gründungsmanifest des modernen Städtebaus gilt. Demnach ist das »historische Erbgut der Städte« zu bewahren, »wenn sie Ausdruck früherer Kultur sind und wenn sie einem allgemeinem Interesse entsprechen«. Das Gebot gilt allerdings nur, »wenn ihre Erhaltung nicht nur auf Kosten der dadurch weiterhin in ungesunden Bedingungen lebenden Bevölkerung möglich ist«. Die Elendsquartiere »rings um historische Denkmäler von historischen Wert« sollen beseitigt und durch Grünflächen ersetzt werden. Vervollständigt wird diese Strategie noch durch die Vorgabe, auf keinen Fall »neue Bauten in alten Vierteln unter dem Vorwand der Ästhetik in Stilarten der Vergangenheit aufzuführen«. Allerdings gibt es innerhalb des Neuen Bauens bezüglich des Umgangs mit Altstadtstrukturen eine erhebliche Spannbreite zwischen »radikal-progressiven« und »evolutionär-moderaten« Positionen.
In den 1930er Jahren verstärken sich die Bemühungen der Kommunen, die maroden Altstadtkerne grundlegend zu sanieren. Neben Abriss und Neubau gemäß den modernen »sozial-hygienischen« und baupolizeilichen Standards (»Entkernung«, Reduzierung der Nutzungsdichte etc.), geht es auch um die Erhaltung des Altbaubestandes. Doch nicht im Sinne eines denkmalpflegerischen Schutzprogramms, sondern als ästhetisches Architekturprojekt. Die Herstellung einer mittelalterlichen Idealstadt erfordert die Beseitigung der »Kulturschicht« des 19. Jahrhunderts: Also Abstockung, Entdekorierung der Fassaden, Rückbau der Reklameflächen und Freilegung des Fachwerkgebälks. Gerade das »Fachwerk« signalisiert »Authentizität« und »Ursprünglichkeit«. Im Umgang mit der Altstadt setzt die Stadtplanung auf die Politik der Isolierung und Separierung. Parallel zur Modernisierung des Stadtraums werden überschaubare Altstadtkerne als »Traditionsinseln« ausgewiesen. Dieses Leitbild dominiert auch nach 1945 beim Wiederaufbau der kriegszerstörten Städte. Es gibt zwar heftige Kontroversen zwischen »Bewahrern« und »Modernisten«, aber bezüglich des »Traditions-Archipels« besteht weitgehender Konsens.
Mit der Vormarsch des »Bauwirtschaftsfunktionalismus«, der ganz auf die »Entflechtung« und »Entmischung« städtischer Strukturen setzt, werden in den 1950er Jahren die Innenstädte zu Einkaufs- und Verwaltungszentren um- und ausgebaut. Überlegungen zu einer »Altstadt-Bewahrung« geraten aus dem Fokus der Planungsdiskussionen. Doch in der städtischen Bevölkerung wächst das Unbehagen über die zerstörerischen Auswirkungen des modernen Städtebaus: Historische Baubestände und vormals stigmatisierte Altbauquartiere erfahren eine neue gesellschaftliche Wertschätzung. Mit großer Verspätung reagiert darauf die Europäische Kampagne für Denkmalschutz im Jahre 1975, die sich für eine Erhaltung und Wiederbelebung alter Stadtgebiete einsetzt. Den verödeten Stadtzentren der Moderne wird suggestiv die formenreiche Vielfalt historischer Stadtbilder gegenübergestellt. Damit setzt die dritte »Altstadt«-Konjunktur ein. Die vormals mitschwingenden Assoziationen wie »Elendsviertel« oder »Altstadtslum« sind verschwunden. Nun geht es um den Konsum historischer Zeichen und Bilder.
Lernen von Frankfurt
Als bekanntestes Beispiel gelten dafür die 1984 wiedererrichteten Fachwerkriegelbauten auf dem Frankfurter Römerberg. Dieses umstrittene Ensemble steht am Anfang der heutigen Rekonstruktionswelle.
Nach 1945 war in der Wiederaufbaudebatte um das Goethehaus, die Paulskirche und die Altstadt exemplarisch um den Charakter des gesellschaftlichen Neubeginns in Deutschland gerungen worden. Während sich Teile der Bürgerschaft für eine Rettung des alten »Frankfurt-Bildes« aussprachen, plädierten Intellektuelle und städtische Experten für eine moderne städtebauliche Lösung. Die Frage des Wiederaufbaus besaß auch eine ethische Dimension: Verdrängung der Schuldfrage (Faschismus und Krieg) oder bewusstes Bekenntnis dazu? Der Architekt Otto Bartning brachte es in der ersten Ausgabe der Frankfurter Hefte (April 1946) auf den Punkt: »Rekonstruktionen – je echter, desto schlimmer.«Die produktiven Aspekte dieser Diskussion, nämlich die Frage einer Gesellschaftsordnung nichtkapitalistischen Typs, gerieten jedoch durch die Polarisierung in »Modernisierer« und »Traditionalisten« an den Rand des Diskurses. Abgesehen von wenigen Ausnahmen, setzten sich schließlich die Modernisten durch. Das kritiklose Anknüpfen an das Neue Frankfurt der 1920er Jahre führte zur Übernahme des US-amerikanischen Stadtentwicklungsmodells: Konsequente Umsetzung eines autogerechten Verkehrssystems und Ausweitung der Büroökonomie in citynahen Stadtteilen.
Mit dem »Wirtschaftswunder« stieg zwar Frankfurt zum Finanzzentrum der Bundesrepublik auf, doch die Metropole symbolisierte zugleich die wachsende »Unwirtlichkeit unserer Städte« (Alexander Mitscherlich). Das rigorose Modernisierungsprogramm verschaffte der Stadt das Image eines »Mainhattan von Deutschland«. Erst in den späten 1960er Jahre regte sich sozialer Widerstand (Bürgerinitiativen und Hausbesetzungen) gegen die zerstörerischen Folgen dieser Wachstumspolitik. Der sozialdemokratisch geführte Stadtmagistrat geriet in eine politische Legitimationskrise. Doch letztlich profitierten davon die Christdemokraten, die 1977 die Kommunalwahl für sich entscheiden konnten.
»Weltstädtische Urbanität« lautete der neue Ansatzpunkt der CDU, welche die historische Spaltung der Nachkriegszeit in Modernisierer und Traditionalisten zu versöhnen suchte. Der neue Oberbürgermeister Walter Wallmann entschied sich deshalb bei der geplanten Neu-Bebauung des Dom-Römer-Bereichs für einen Kompromiss: Einerseits kam an der Ostseite des Römerbergs die »gute alte Zeit« in Gestalt von putzigen Mittelalterkopien zum Zuge, andererseits entstand mit der Kulturhalle Schirn und den von prominenten Architekten entworfenen Einzelhäusern an der Saalgasse das erste Ensemble postmodernen Städtebaus in der Bundesrepublik. Während die Fachwelt und überregionale Zeitungen das Fachwerkzeile als Disney-Kulissenlandschaft kritisierten, stieß die Rekonstruktion als neuer Identifikationspunkt innerhalb der lokalen Bevölkerung auf breite Zustimmung.
Im Herbst 2005 wurde eine neue Runde im Frankfurter »Altstadt«-Diskurs eingeleitet. Mit dem geplanten (und inzwischen vollzogenen) Abriss des in den frühen 1970er Jahren errichteten Technischen Rathauses und der Neubebauung des Areals versprach sich die Stadt eine ökonomische Aufwertung des Dom-Römer-Bereichs. Der Siegerentwurf des städtebaulichen Wettbewerbs sah eine kleinteilig parzellierte, aber ansonsten modern anmutende Gebäudestruktur vor. In der städtischen Öffentlichkeit regte sich gegen dieses Planungskonzept zunehmende Kritik. Dann erfuhr die Debatte eine unerwartete Wendung: Ein Student stellte farbenprächtige 3D-Simulationen ins Netz, die eine historische Altstadt mit ungefähr 50 Fachwerkhäusern anschaulich darstellten. Diese virtuellen Projektionen beeinflussten die öffentliche Meinung erheblich und trugen zu einer wachsenden Rekonstruktions-Akzeptanz bei. Tatsächlich hat sich der Computer mit seinen suggestiven Visualisierungsmöglichkeiten zu einem wirkungsmächtigen Entwurfsinstrument entwickelt. Konnten früher Architekten und Architektinnen ihre Vorstellungen anhand von Plänen und Modellen dem Publikum nur relativ abstrakt vermitteln, so stellt heute das digitale, dreidimensionale Bild eine leicht lesbare Brücke zum Rezipienten dar.
In Frankfurt entwickelte der Diskussionsprozess um die Altstadt eine Eigendynamik, die die politischen Parteien zunehmend unter Druck setzte. So gab die SPD, offensichtlich noch immer von den Erfahrungen der Wallmann-Ära traumatisiert, die Parole aus: »Die Bürger haben ein Anrecht auf Fachwerk«. Im Herbst 2007 entschied sich die Stadtverordnetenversammlung für einen Kompromiss: Demnach wird die Stadt im Dom-Römer-Bereich mehrere repräsentative und stadtgeschichtlich bedeutende Altstadthäuser aus verschiedenen Epochen in Eigenregie errichten lassen, zu der gegebenenfalls auch weitere Rekonstruktionen von privaten Investoren hinzukommen können. Als Vorlage für die Neubebauung dienen zum Teil nur alte Fotographien. Der Planungsamtsleiter rechtfertigte dieses Verfahren damit, dass es vor allem um die »Profilierung des Stadtbildes«gehe. In ähnlichem Sinne äußerte sich auch der Pressesprecher des Altstadt Forums (ein loses Bündnis des Frankfurter Einzelhandelsverbandes und der Freunde Frankfurts e. V.): »Unter dem Gesichtspunkt des Stadtmarketings wird das ein Riesenrenner. Es wird das größte Rekonstruktionsprojekt Deutschlands. Frankfurt wird für Furore sorgen.« Die Immobilien Zeitung sah es ähnlich: »In dieser Situation erfüllt das Fachwerk das Bedürfnis nach Sensation (…): Frankfurt, die erste Stadt in Deutschland, die ins Mittelalter zurückkehrt!« Auch der Frankfurter CDU-Fraktionsvorsitzende zeigte sich begeistert: »Wenn wir 2013 durch Viertel laufen, werden wir das Gefühl haben, in einer authentischen Altstadt zu sein.« Nach den Vorstellungen der Stadtregierung soll das neue Quartier in seiner Kleinteiligkeit der mittelalterlichen europäischen Stadt entsprechen und mit Hilfe eines einheitlichen Flächenmanagements wie ein Einkaufszentrum verwaltet werden. »Wir wollen das Beste aus beiden Welten«, so der planungspolitische Sprecher der Grünen.
Bild-Raum-Politik
Die Existenz der »Altstadt« in der modernen Stadt verdankt sich nicht einem denkmalpflegerischen Erhaltungsprogramm, sondern planerischen Vorgaben, denen es um die Konstruktion einer historischen »Sonderzone« geht. Deren Aufgabe besteht darin, als pittoresker Illusions- und Kompensationsraum für die lebensweltlichen Zumutungen der Moderne zu funktionieren, die unter dem Druck kapitalistischer Umwälzungen immer auch gravierende Verluste und Zerstörungen hervorgebracht hat. Diese Art der Verräumlichung kollektiver Träume und Wünsche lässt sich mit Michel Foucault als »Heterotopie« umschreiben: Als »Gegenplatzierung« soll die Altstadt die Wirksamkeit des realen Alltagsraums zeitweilig neutralisieren oder gar umkehren.
Standen früher bei den Restaurationen und Rekonstruktionen Heimat, Erbe und Tradition im Vordergrund, so geht es heute um Entertainment und Stadtmarketing. Die Produktion des Erlebnisraums »Altstadt« dient vornehmlich dem »touristischen Blick« und dem Konsum von Zeichen. In diesem Sinne argumentiert etwa der französische Philosoph Henri Lefebvre: »Die Werke, die Stile sind dem verzehrendem Konsum ausgeliefert. Die Stadt verzehrt sich mit besonderer Freude, was ein Bedürfnis und ein Unbefriedigtsein von besonderer Heftigkeit anzuzeigen scheint: Provinzler, Fremde, Vorortbewohner, Touristen stürzen sich in das Herz der Städte (…) mit einem besonderen Appetit. Jede Objekt und jedes Werk gewinnen so ihr Doppelleben: sensibel und imaginär. Alle Konsumobjekte werden Konsumzeichen. Der Verbraucher ernährt sich mit Zeichen.« (Das Alltagsleben in der modernen Welt, Frankfurt 1972: S. 152).
Die Altstadt-Konstruktion basiert auf einer gezielten Bilderpolitik. Sie fungiert als materieller Träger von images, die auf visuelle Effekte des Wiedererkennens und des Erstaunens setzen. Spielten früher bei der »Altstadt-Wahrnehmung« Stiche, Gemälde und Fotos eine wichtige Rolle, so dominieren heute digitale Retro-Versionen. Das Eintauchen in einen imaginären Bildraum hängt wesentlich davon ab, wie versiert der Betrachter bzw. die Betrachterin mit der Ästhetik von Computeranimationen umzugehen vermag. Für die Wahrnehmung von Räumen hat dies Konsequenzen: eine Phantasie, die die gestalterischen Techniken digitaler Bildverfahren internalisiert hat, kann sich in eine besonders umfassende imaginäre Resonanz zu einem Simulationsangebot begeben.
Doch worauf beziehen sich diese Bilder? Bereits in den 1960er Jahren hat der Situationist Guy Debord vor der uneingeschränkten Macht von Bildern gewarnt, die die Realität zu vereinnahmen drohen: »Da, wo sich die wirkliche Welt in bloße Bilder verwandelt, werden diese bloßen Bilder zu wirklichen Wesen und zu den wirkenden Motivierungen eines hypnotischen Verhaltens.« (Die Gesellschaft des Spektakels, Hamburg 1978, S. 10). Man kann diese »Entfremdungskritik«, die auf die gesellschaftlich produzierte Trennung von Leben und Bild abhebt, auch als Aufforderung verstehen, sich Fiktionalisierungsbestrebungen zu widersetzen, die aus der »realen« Stadt einen virtuellen Themenpark machen wollen.
Klaus Ronneberger
Überarbeiteter Vortrag für die Geographische Gesellschaft Frankfurt.