Postkoloniale Studien haben an deutschsprachigen Universitäten bis auf wenige Ausnahmen in literaturwissenschaftlichen und feministischen Debatten lange Zeit ein Nischendasein geführt. Ebenso hat sich in Teilen der radikalen Linken ein bisweilen spannungsreiches und Ressentiment-geladenes Bild Postkolonialer Kritik niedergeschlagen. Mal wurde sie als Spielart »postmoderner« Beliebigkeit abgetan, mal als theoretischer Unterbau eines reaktionären, völkischen Internationalismus kritisiert. Seit einigen Jahren lassen sich allerdings spürbare Veränderungen verzeichnen. Neben einer wachsenden Anzahl von antirassistischen Initiativen mit einem dezidiert »Postkolonialen«  Selbstverständnis lässt sich eine zunehmende, wenn auch umstrittene Institutionalisierung Postkolonialer Wissenschaft beobachten. So wurde bspw. Ende 2009 im Rahmen der »Exzellenzinitiative« das Frankfurt Research Center for Postcolonial Studies (FRCPS) gegründet.

 

Vom 16. bis 18. Juni 2011 fand auf dem Frankfurter IG Farben Campus die erste Graduiertenkonferenz des FRCPS unter dem Titel »Colonial Legacies, Postcolonial Contestations: Decolonizing the Social Sciences and the Humanities” statt. Gemäß dem Titel und dem formulierten Anspruch »to illustrate the epistemological and methodological relevance of a postcolonial (feminist) perspective within [...] the Social Sciences« waren das inhaltliche Spektrum der 24 Panels, wie auch das Teilnehmer_innenfeld, sehr heterogen. Dabei boten die über 120 Einzelvorträge, ebenso wie das vielfältige Rahmenprogramm, eine Plattform für zumeist offene, mitunter kontrovers geführte Diskussionen.

 

Gleich zu Beginn fand ein Panel zum Dialog zwischen Kritischer Politischer Ökonomie und Postkolonialer Theorie im DZ-Bank Raum des House of Finance statt. Naveen Kanalu unternahm das Unterfangen, gramscianische Hegemonietheorie und Kritik der instrumentellen Vernunft der Frankfurter Schule mit Postkolonialen Ansätzen in einen Dreiklang zu bringen. Dabei analysierte er am Beispiel Indiens die »Globalisierung« transnationaler Partikularinteressen und deren interne Widersprüche. Im Anschluss daran diskutierte Enrique Martino Martin am Beispiel von Maßstabsnarrativen die Schwächen räumlicher Ontologien (wie z.B. Lokal/Global), die, so sein Argument, die wohlbekannte Großerzählung des modernen, abgeschlossenen Zentrums und des vermeintlich nativen und partikularen Außen reproduzierten.

 

Einen deutlichen Akzent setzte die Feministin Patricia Hill Collins mit ihrem Abendvortrag »Winning Miss World: An Intersectional Analysis of Colorblind Racism«. In ihrem Vortrag unterstrich sie die diskriminierenden Momente »farbenblinder« Politiken. Diese postulieren eine zunehmend liberal gedachte »Racelessness«, die es erlaubt, Privilegien zu depolitisieren und diese zugleich einer Wettbewerbslogik unterzuordnen. Strukturelle Ungleichheiten werden somit nicht nur ausgeblendet, sondern vielmehr werden People of Color selbst für diese verantwortlich gemacht.

Die Relevanz ihrer Kritik an »Farbenblindheit« zeigte sich in den vergangenen Wochen wieder einmal in der Auseinandersetzung um die »Dekolonisierung« von Teilen der sogenannten Occupy-Bewegung in den USA. Diese, so lautete u.a. die Kritik, werde zu 99% von weißen Männern getragen, nähme allerdings für sich in Anspruch, für den Großteil der Bevölkerung zu sprechen. Unterdessen heißt es in einer Pressemitteilung aus Frankfurt weiterhin, das dortige Camp richte sich gegen »einengende Tendenzen«, da es aus der »Mitte der Gesellschaft, die alle Schichten, Altersstufen und alle Nationalitäten umfasst« komme. Die Frage danach, aus welcher Position heraus eine solche Äußerung formuliert werden kann und ab wann eine Intervention als »einengend” verstanden wird, stellt sich dem Anschein nach nicht. Demgegenüber wird behauptet, dass alle Akteur_innen innerhalb der Bewegung den gleichen Ausgangs- und Ungleichheitsverhältnissen ausgesetzt zu sein.

Des Weiteren brach Collins Verweis auf Intersektionalitätsansätze exemplarisch mit einigen weitverbreiteten Missverständnissen seitens der Kritiker_innen Postkolonialer Studien. So verteidigt Postkoloniale Kritik weder eine pauschalisierte Dichotomie zwischen Kolonisator_innen und Kolonisierten noch geht sie von einer vereinfachten Matrix aus machtbesitzenden und ohnmächtigen Akteur_innen aus. Dagegen liegt das Augenmerk vielmehr auf den widersprüchlichen, uneindeutigen und oft holzschnittartig dargestellten (De-)Kolonisierungsprozessen im globalen Süden ebenso wie im globalen Norden, die mitnichten zu einer vereinfachten Zentrums/Peripherie-Teilung führ(t)en.

 

Deutlich machte die Konferenz, dass Postkoloniale Kritik weniger als ein kohärenter Theorie- und Wertekanon zu verstehen ist, sondern vielmehr vielfältige Perspektiven auf den (europäischen) Kolonialismus und dessen Kontinuitäten und Brüche entwickelt. Dass dabei auch höchst problematische Positionen vertreten wurden (siehe Beitrag zum Panel Postcolonial Perspectives after Auschwitz), soll hier nicht geleugnet werden. Das »postkoloniale Milieu« deswegen als nicht reflexionsfähigen monolithischen Block dazustellen wird jedoch m.E. der Unterschiedlichkeit hier vertretener Positionen wie auch der auf der Konferenz i. Allg. demonstrierten Bereitschaft zu kontroverser Diskussion nicht gerecht.

 

Julian Stenmanns