Seit ich begonnen habe über Cognitive Enhancement zu schreiben, die nichtinduzierte Einnahme sogenannter leistungssteigernder Medikamente, gibt es eine Reaktion, die ich von fast jeder_r bekomme, dem/der ich von meinem Thema erzähle. Meine Freundinnen, viele von Ihnen ebenfalls an der Uni, fragen augenzwinkernd: »Suchst du noch Probandinnen? Besorg mir Ritalin, dann kannst du ein Interview mit mir machen.« Attraktiv erscheinen Medikamente zur Leistungssteigerung vor allem jenen, die zeitsouverän Kopfarbeit verrichten und sich damit täglich selbst motivieren müssen. Da Medikamente wie Ritalin, Modafifnil oder Adderall nicht klüger machen, sondern allenfalls wacher und konzentrierter, erhoffen sich Konsument_innen mehr Arbeit in gegebener Zeit verrichten zu können und in der Lage zu sein, länger ohne Pause zu arbeiten. Für das Ziel fokussiert zu bleiben, die Gedanken nicht abschweifen zu lassen und nicht alle zehn Minuten zu schauen, was es neues bei Facebook gibt, wären achtzig Prozent der Studierenden bereit Medikamente einzunehmen, sofern diese keine Nebenwirkungen hätten.

Man könnte nun entweder danach fragen wie erstaunlich weit die Bereitschaft zur Anpassung an Leistungsimperative unter Studierenden verbreitet ist oder danach, warum 20 Prozent der Studierenden keine Medikamente nehmen würden, die Ihnen die Arbeit erleichterten und keine Nebenwirkungen hätten. Man könnte fragen, ob sich ein jugendkultureller Umbruch abzeichnet, wenn die begehrten Substanzen nicht mehr versprechen Wahrnehmungen zu erweitern, für Rausch und Euphorie zu sorgen, sondern die Wahrnehmung zu verengen, um länger arbeiten zu können.

 

Neuroethik

Man könnte aber auch fragen, warum sich so viel Aufmerksamkeit auf ein Phänomen richtet, das - zumindest außerhalb der USA - empirisch kaum verbreitet ist, und welches nicht einmal mit der Entwicklung tatsächlich neuer Medikamente zusammenhängt. Es hat den Anschein, als sei das Interesse an dem Thema nicht aus den Forendiskussionen von Jurastudenten in die Medien gelangt, sondern zu einem erheblichen Teil aus der akademischen Disziplin, die sich seit Beginn der 2000er Jahre Neuroethik nennt. Diese begründet die Notwendigkeit ihrer Existenz über die Bioethik hinaus damit, dass die Neurowissenschaften und damit Forschungen zu Möglichkeiten der Manipulation von Gehirnvorgängen, die Identität von Personen in besonderem Maße betreffen und damit eigene ethische Probleme entstehen lassen. Neuroethiker entwickeln aber auch ethische Richtlinien für Neurointerventionen, von denen sie erwarten, dass sie in Zukunft möglich sein werden, wie zum Beispiel wirksame Smart Pills ohne Nebenwirkungen. Viele Pharmakologen dagegen halten diese Entwicklungen für utopisch und tatsächlich enthält die ganze Debatte ein utopisches Moment, welches jedoch ausschließlich auf die Verbesserung des Individuums gerichtet ist. Die Science and Technology Studies beschäftigen sich in den letzten Jahren verstärkt mit den performativen Effekten von Erwartungen von wissenschaftlichen und technologischen Innovationen: «Such expectations can be seen to be fundamentally ‘generative’, they guide activities, provide structure and legitimation, attract interest and foster investment.« So könnte man im Fall der Neuroethik durchaus davon sprechen, dass sie an der Vorbereitung eines Marktes teilhat, deren Waren noch nicht existieren. 

Eines der ethischen Probleme im Zusammenhang mit Cognitive Enhancement ist die Frage, ob es legitim ist, weil Ausdruck freier Wahl, die eigene Konzentrationsfähigkeit pharmakologisch zu steigern, oder im Gegenteil illegitim, weil dies den Wettbewerb verzerre. Die Analogie zu Doping im Sport hat hier einen hohen Stellenwert, wenn gefragt wird, ob die Medikamenteneinnahme nicht ‚die Fairness des gesamten Spiels’ unterminiere. Das Feld der Ethiker, kann in Bezug auf Positionen zu Neurocognitive Enhancement in Konservative und Liberalisierer unterteilt werden.

 

Die Konservativen

 »The President‘s Council on Bioethics«, eine Bioethik-Kommission unter der Leitung von Leon Kass, die unter George W. Bush berufen wurde, veröffentlichte mit Beyond Therapy ein Buch, das verschiedene Formen von Enhancement-Technologien (Genetische und Pharmakologische) ethisch bewertet. Die ablehnende Haltung, die die Autoren allen Enhancement-Maßnahmen gegenüber einnehmen, ist eine, die sich besonders aus der gesellschaftlichen Bedeutung von Leistung speist. Leon Kass und seine Kollegen sehen durch Enhancement-Technologien den intrinsischen Wert von Anstrengungen gefährdet. Neue biotechnologische Möglichkeiten zur Verbesserung der Muskeln, des Gehirns oder des Gen-Codes, unterminierten die wahre Würde exzellenter menschlicher Leistungen : «What is at stake here is the very meaning of human agency, the meaning of being at-work in the world, being at work as myself and being at-work in a humanly excellent way.«

Es geht also um die Bedeutung von Arbeit, um Anstrengung mit dem Ziel authentisch erbrachter Leistung. Erfolge dürften nicht von den Leistungen abgetrennt werden, durch die sie angezeigt werden. Durch ‚pharmakologische Abkürzungen‘ würde der Motor menschlicher Entwicklung, der im Kampf um Anerkennung bestehe, untergraben. Schließlich beruhe dieser Kampf auf Anstrengungen, die durch Medikamente überflüssig würden. In Beyond Therapy wird dieser intrinsische Wert von Leistung und Anstrengung, unabhängig vom Erfolg dieser Anstrengung als normative Ressource gesellschaftlicher Ordnung verteidigt und als durch biotechnologische Eingriffe zu Enhancementzwecken bedroht erachtet. Enhancement ist dann nichts anderes als Betrug.

 

Die Liberalisierer

Sowohl in den USA als auch in Deutschland wurden jeweils einflussreiche Positionspapiere von Gruppen von Ethikern veröffentlicht, die man zum Lager der Liberalisierer zählen kann. Sie intervenieren in die Debatte, um sich sowohl gegen den medialen Alarmismus als auch gegen eine konservative ethische Position zu wenden, die sie häufig mit dem Begriff des pharmakologischen Calvinismus kritisieren.

Henry Greely, ein Rechtswissenschaftler aus Stanford und sechs seiner ebenfalls renommierten Kolleg_innen vertreten in einem viel besprochenen Beitrag im Wissenschaftsmagazin Nature die Position, dass der Zugang zu Cognitive Enhancers, sollten je potente Mittel entwickelt werden, liberalisiert werden solle. Versuche sich selbst zu verbessern und Fähigkeiten zu erweitern hätten die Menschen seit jeher unternommen. Es sei zwar wahrscheinlich, dass Cognitive Enhancers nicht allen gleichermaßen zur Verfügung stünden - ebenso wenig wie die meisten anderen Güter - aber die Gesellschaft sei ohnehin voller sozialer Ungleichheiten und dennoch würde kaum jemand Fortschritte in Gesundheit und Lebensqualität beschränken auf Grund der Gefahr ungerechter Verteilung. Im Gegensatz zu anderen ungleich verteilten Gütern, die Auswirkungen auf soziale Ungleichheit haben, wie gute Ernährung und hochwertige Bildung, seien Medikamente sogar leichter gerecht zu verteilen. Die Autoren schlagen schlussendlich sogar vor, man könne um Unfairness vorzubeugen allen Prüflingen die Medikamente frei zur Verfügung stellen, ähnlich wie manche Schulen während Prüfungsphasen den Zugang zu Computern gewährleisteten.

 

Cognitive Enhancement in der Wettbewerbsgesellschaft

Während konservative Ethiker_innen von tatsächlich praktizierten Enhancement-Maßnahmen sprechen, beziehen sich die Liberalisierer auf zukünftige Generationen von Pharmaka. Es zeigt sich dennoch, dass sowohl Konservative als auch Liberalisierer fairem Wettbewerb eine große normative Bedeutung beimessen, jedoch uneinig sind wie der Wettbewerb geschützt werden sollte: Ob Fairness dadurch gefährdet wird, dass Einzelne unrechtmäßige Wettbewerbsvorteile erlangen, oder ob das Verbot von Mitteln zur Verbesserung der eigenen Konkurrenzfähigkeit ein zu starker Eingriff in die Freiheit des Einzelnen darstellt. Oder ob nicht die Einnahme von Medikamenten den Wettbewerb sogar gerechter gestalten kann, wenn jene mit »geringeren geistigen Kapazitäten« ihre Defizite pharmakologisch ausgleichen können.

Die Doping-Analogie, die Feuilletonist_innen wie Neuroethiker_innen unabhängig von der beschränkten Wirksamkeit bestehender Medikamente gerne aufgreifen, konzeptualisiert Studieren, Arbeiten und Leben als sportlichen Wettkampf mit idealerweise gleichen Startbedingungen.

Im Anschluss an Foucault ließe sich die Einnahme von Cogntitive Enhancers als Selbsttechnologie lesen, die eingebunden ist in aktuelle Subjektivierungsweisen. Während bei früheren Neuro-Interventionen die Adressat_innen zu passiven Objekten gemacht wurden, wie z.B. bei hirnchirurgischen Eingriffen wie der Lobotomie oder Zwangspsychiatrisierungen, sind heutige Neuro-Interventionen eher auf Formen der Selbstführung ausgerichtet und werden weniger aufgezwungen als nachgefragt. Dies ist besonders deutlich am Kampf um die Diagnose ADHS und dem damit verbundenen Recht auf ein Ritalinrezept, der von Eltern hyperakiver Kinder ebenso geführt wird, wie von Erwachsenen mit Konzentrationsschwierigkeiten. Und wer hat die nicht?

Das Ausmaß der medialen Debatte, die parallel zum Aufkommen der Finanzkrise in den Feuilletons entbrannte und von großem Alarmismus geprägt war, legt nahe, dass nicht die empirische Verbreitung des Phänomens, sondern die damit verknüpften Phantasien die Gemüter erhitzten. Der Medizinanthroploge Nicolas Langlitz wirft einen interessante Perspektive auf das Phänomen, wenn er argumentiert, dass die normativ aufgeladene Diskussion um die gesellschaftlichen Folgen von Neurocognitive Enhancement-Maßnahmen Ausdruck einer spezifischen Angst der gegenwärtigen Mittelschicht vor einem größeren Ökonomisierungsdruck sei. Während diese in den 60er und 70er Jahren ihren Lebensstil von Hippies als KonsumentInnen von Drogen wie Cannabis und LSD bedroht sah, seien es heute Manager und Banker, die Ängste der Mittelschicht vor steigendem Leistungsdruck hervorriefen. Leistungssteigernde Medikamente stehen so für den Anpassungsdruck an sich verändernde Arbeits-und Zeitstrukturen und so mag sich in der Debatte um und im Begehren nach dem Medikament Ritalin ein Unbehagen in der Leistungsgesellschaft symbolisch verdichten.

Doch welche Leistung wird eigentlich gesteigert? Studierende erhoffen sich von einer Selbstmedikation mit ADHS- und Narkolepsiemedikamenten eine längere Aufmerksamkeitsspanne, eine Steigerung der Wachheit und des Antriebes. Die Wirksamkeit von Ritalin konnte bei ausgeschlafenen Proband_innen mit normalem Konzentrationsvermögen, bisher nicht klinisch nachgewiesen werden, obwohl meine Interviewpartner_innen eine konzentrationsfördernde Wirkung beschreiben. Modafinil, ein Narkolepsiemedikament, wirkt einer Studie zufolge bei Übermüdung ungefähr wie 6 Tassen Kaffee. Adderall, das in den USA für ADHS und Narkolepsiepatienten zugelassen ist, wurde in meinen New Yorker Interviews als stark antriebsteigernd beschrieben »you just wanna do things, no matter what«, ob es ‚Wäsche falten‘ oder ‚ein Paper schreiben‘ sei.

Wer über Chancengleichheit im Bildungssystem reden möchte, der braucht dazu keine Ritalindiskussion und wer eine Gesellschaft mit einem überhöhten Leistungsdenken beklagt, wird auch beunruhigendere Phänomene finden, als Adderall nehmende College Studenten. Die Kritik an Cognitive Enhancement hat sehr häufig einen biokonservativen Hintergrund und in der Selbstmedikation schlicht die Zurichtung der Subjekte zu sehen, die sich nun auch noch pharmakologisch dem Leistungsimperativ nichts als unterwerfen? Wenig überzeugend.

Es sind Arbeitsverhältnisse dort zu kritisieren, wo sie die Einzelnen zur Selbstmedikation drängen und wir wissen darüber hinaus mit Foucault, dass auch konsensuelle Handlungsformen nicht per se frei von Herrschaftseffekten sind. Zeitsouveräne Arbeit macht andere Formen von Anstrengungen nötig, aber Medikamente als ‚pharmakologische Abkürzung‘ abzulehnen, würde es zunächst nötig machen, den intrinsischen Wert von Anstrengung zu begründen.

 

Greta Wagner

 

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